Wie die Neandertaler Europa beherrschten – und weshalb sie dennoch untergingen

Sie waren unsere Schwesterart und sind heute Mythos: Die Neandertaler. Ihre geistigen Fähigkeiten reichten an die des Homo sapiens heran – und doch starben sie am Ende aus. Ihre Gene aber leben in uns weiter und es gibt sogar die Idee, sie zu klonen

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Das Foto zeigt schräg von der Seite Kopf und Schulter eines bärtigen Mannes. Die Nase ist ungewöhnlich groß, die Bögen über den Augen sind sehr stark ausgeprägt. Die langen Haare sind mit einem über den Kopf führenden Band zusammengebunden. Die Haut wirkt sonnengebräunt, die nackte Schulter ist mit zwei dunklen Streifen verziert.

Neandertaler sind die wahren Ur-Europäer. Sie entwickelten sich auf diesem Kontinent, lebten hier mehrere Jahrhunderttausende lang und passten sich an das Klima der Eiszeiten an. Furchtlos jagten sie Großwild, beherrschten das Feuer und fertigten Kleidung, mit der sie auch in der Kälte überleben konnten. Vor rund 40.000 Jahren verschwanden sie auf rätselhafte Weise – doch ihr Erbgut schlummert noch heute in vielen Europäern und trägt zu deren Überleben bei.

Ihre Erfolgsbilanz ist beeindruckend: Die Neandertaler existieren mehr als 300.000 Jahre lang, sind die erste Menschenart, die außerhalb Afrikas entsteht und die vorerst einzige, die selbst in jenen bitterkalten Perioden überlebt, in denen gewaltige Eispanzer große Teile Europas bedecken. Und doch verschwinden sie am Ende innerhalb von wenigen Jahrtausenden von der Erde – aus noch immer rätselhaften Gründen. Lange als tumb und primitiv verunglimpft, wissen wir inzwischen, dass sie anders waren als wir gegenwärtigen Menschen, aber uns – dem Homo sapiens – dennoch ebenbürtig gegenüber stehen. Ja, manche Forschenden sehen sie sogar als Brüder und Schwestern unserer eigenen Art. Keine ausgestorbene Menschenform hat die Phantasie heutiger Zeitgenossen so angestachelt wie die Neandertaler, keine ist so sehr zum Mythos geworden. Und das beginnt bereits mit der Entdeckung der ersten Knochen dieser Urmenschen.

Arbeiter werfen die Fossilien des Urmenschen auf den Müll

Die Geschichte nimmt im Jahr 1856 rund 13 Kilometer östlich von Düsseldorf ihren Anfang. Dort bauen in der damals noch wilden, engen Schlucht des Neandertals Arbeiter der „Actiengesellschaft für Marmorindustrie Neanderthal“ Kalk in industriellem Maßstab ab. Dabei räumen sie aus einer oben im Fels gelegenen Höhle eine meterhohe Schicht aus festem Lehm aus und werfen die Reste achtlos ins Tal hinunter. Einem kräftigen Knochen, den sie dabei mit hinaus befördern, messen sie keinerlei Bedeutung zu. Doch der Zufall will es, dass in diesem Augenblick einer der Besitzer des Steinbruchs vorbeikommt und sich für den Knochen interessiert, den er für den eines Bären hält. Er weist seine Leute an, alle weiter auftauchenden Relikte in einer Holzkiste zu sammeln.

Auf dem historischen Foto sind Arbeiter zu sehen, die vor mehr als 150 Jahren in einem Steinbruch im Neanderthal bei Düsseldorf Kalkstein abbauen. Dabei räumen sie auch mehrere Höhlen aus. Was die Arbeiter in dem Moment nicht wissen: In einer der Höhle lagern die fossilen Gebeine eines fossilen Menschen. Erst der Besitzer des Steinbruchs wird auf die Knochen aufmerksam und kurz darauf erkennt ein Gelehrter, dass es sich um die Knochen eines Urmenschen handelt. Er wird Neandertaler genannt.
Vor mehr als 150 Jahren bauen Arbeiter in einem Steinbruch bei Düsseldorf Kalkstein ab und räumen dabei auch mehrere Höhlen aus. In einer von ihnen lagern die fossilen Gebeine eines Urmenschen: Der Neandertaler wird entdeckt

Kurze Zeit später wird der an Fossilien interessierte Lehrer und Naturforscher Johann Carl Fuhlrott benachrichtigt und staunt nicht schlecht, als er die vermeintlichen Bärenknochen in die Hand nimmt. Er erkennt sofort, dass es sich um die Überreste eines Menschen handelt, und zwar um sehr alte: ein Schädeldach, zwei Oberschenkelknochen, ein Stück Becken, Rippenfragmente und einige Armknochen. Durch einen Zeitungsbericht wird der Anatomieprofessor Hermann Schaaffhausen von der Universität Bonn auf den Fund aufmerksam, nimmt Kontakt mit Fuhlrott auf und bittet, ihm die Holzkiste mit den Knochen für einige Zeit zur Untersuchung zu überlassen.

Es sind mehrere Eigenheiten, die den Anatomen an den Überresten sofort faszinieren: Zum einen die Form des Schädeldaches mit seiner flachen, nach hinten fliehenden Stirn sowie den dicken, knöchernen Wülsten über den Augen, zum anderen der überaus kräftige Bau aller Knochen. Daneben fällt ihm die unterschiedliche Dicke der Knochen beider Arme auf. Schaaffhausen hält den dünneren linken Arm für krankhaft verändert und nur eingeschränkt gebrauchsfähig, folgert ansonsten, es handele sich bei dem Fund um die Überreste einer früheren, wilden „Menschenrasse“.

Die Knochen sollen einem krummbeinigen Kosaken gehört haben

Damit äußert der Bonner Anatomieprofessor den Gedanken, der Mensch könne eine Entwicklung von primitiveren zu fortschrittlicheren Formen durchgemacht haben. Das aber ist eine ungeheuerliche Ansicht, denn bis dato gilt nur eine Wahrheit: Sämtliche Arten sind von einem Schöpfer nach einem göttlichen Plan geschaffen worden – und zwar unveränderlich. Schon im Jahr 1853 hat Schaaffhausen in seinem Aufsatz „Ueber die Beständigkeit und Umwandlung der Arten“ Zweifel daran geäußert, dass Tier- und Pflanzenarten sich niemals verändern könnten. Doch die Zeit ist noch nicht reif für diesen Gedanken. Als Schaaffhausen 1858 den Neandertaler in einer Publikation vorstellt, erhält er daher heftigen Gegenwind. Auch Charles Darwin, der seine Evolutionstheorie erst ein Jahr später veröffentlicht und Schaaffhausens Aufsatz von 1853 kennt, ist anfangs stark umstritten.

Zu sehen sind zwei historische Schwarzweiß-Zeichnungen vom oberen Teil eines Schädels. Links ist die Ansicht von vorne zu sehen, rechts die Ansicht von der Seite. Auffällig sind die sehr stark ausgeprägten Knochenwülste über den Augenhöhlen.
Zeichnung vom Schädel des „Ur“-Neandertalers, den Arbeiter im Jahr 1856 in einem Steinbruch bei Düsseldorf freilegten
Das Foto zeigt eine schneebedeckte Landschaft, aus der niedrige Sträucher sowie Gräser herausragen. Vorne sind Tümpel mit offenen Wasserflächen zu erkennen, dahinter folgt eine Ebene und am Horizont erheben sich komplett von Schnee bedeckte Berge. Die Sonne scheint von rechts oben auf die Landschaft und glitzert im Wasser der Tümpel.
So ähnlich wie diese Tundra in Alaska dürfte der Lebensraum der Neandertaler im eiszeitlichen Europa ausgesehen haben
Das Foto zeigt vor grünem, unscharfem Hintergrund die Rekonstruktion von Kopf und Schulter eines bärtigen, langhaarigen Mannes mit großer Nase und Knochenwülsten über den Augen. Er lächelt und umfasst mit der rechten Hand den Schaft eines senkrecht stehenden Holzspeeres.
Neandertaler – hier eine Rekonstruktion des Neanderthal Museums in Mettmann – waren schlau, hervorragende Jäger, Künstler und an eisige Kälte angepasst
Das Bild zeigt den länglichen Schädel eines Neandertalers und den rundlichen Schädel eines modernen Menschen. Forscher wollen herausfinden, welche Gene die Gehirnentwicklung beeinflussen und nutzen dazu diese im Computertomographen aufgenommenen Fotos, die das Innere des Schädels und die Struktur des Gehirns erkennen lassen.
Neandertaler (links) besaßen längliche Schädel, moderne Menschen (rechts) haben runde (Aufnahmen im Computertomographen, die virtuell aufgeschnitten wurden, um das Innere zu zeigen). Forschende versuchen herauszufinden, welche Gene die Gehirnentwicklung beeinflussen
Zu sehen sind drei, jeweils leicht um die senkrechte Achse gedrehte Ansichten desselben Riesenhirsch-Fußknochens. Der gelblich-braune Knochen ist vor schwarzem Hintergrund effektvoll angeleuchtet und zeigt rund zehn eingravierte Kerben.
Dieses Knochenstück vom Fuß eines Riesenhirsches wurde unter Leitung des Göttinger Forschers Thomas Terberger in der Einhornhöhle im Harz ausgegraben. Es ist mehr als 51.000 Jahre alt. Die Kerben auf dem Knochen müssen daher von Neandertalern eingeritzt worden sein und bezeugen, dass diese Urmenschen symbolisch denken konnten
Zu sehen ist die Rekonstruktion eines elefantenähnlichen Tiers mit dichtem, langhaarigem braunem Fell und winzigen Augen. Riesige, stark nach oben gebogene elfenbeinfarbene Stoßzähne ragen aus seinem Maul hinter dem dicken Rüssel hervor. Es steht in einer kargen, ebenen Landschaft mit Gras und Felsgestein. Der Himmel ist grau bewölkt.
Die gewaltigen Mammuts – hier eine Rekonstruktion des Royal British Columbia Museum in Victoria – waren Beutetiere der Neandertaler, die von den Urmenschen unter großen Gefahren gejagt wurden
Mit Schutzkleidung versehen, um Verunreinigungen auszuschließen, hantiert der Leipziger Forscher Matthias Meyer im Labor des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie. Er ist auf die Untersuchung der DNA von Urmenschen wie dem Neandertaler spezialisiert.
Der Leipziger Forscher Matthias Meyer – hier bei der Arbeit im Labor – ist darauf spezialisiert, Erbsubstanz von Urmenschen, etwa von Neandertalern und Denisova-Menschen, zu analysieren
Links ist die gelbliche Felswand einer Höhle zu sehen, auf der in roter Farbe aufgemalte Muster, Figuren und ein leiterartiges Gebilde zu erkennen sind. Das rechte Bild zeigt eine Zeichnung, welche die roten Objekte – insbesondere die Leiter – auf beigem Untergrund deutlicher hervorhebt.
Uralte Kunst aus der Höhle La Pasiega im Nordosten Spaniens (rechts als Zeichnung von 1913). Die leiterartigen Gebilde sind mindestens 64.000 Jahre alt und müssen von Neandertalern stammen; das Alter der anderen Figuren ist unklar
Das linke der drei Bilder zeigt die Zeichnung eines Damhirsches mit Geweih, braunem Fell und weißen Punkten darauf. Das Tier ist schräg von hinten dargestellt, zusätzlich ist der Beckenknochen eingezeichnet, in den ein hölzerner Speer zielt. Rechts unten ist ein fossiles Knochenstück mit einem Loch darin zu sehen, darüber das Foto eines CT-Scans des Knochens, der darstellt, wie die Spitze eines Speeres die Verletzung verursacht.
Neandertaler erlegten Damhirsche aus kurzer Distanz mit einer Stoßwaffe. Das belegten Untersuchungen der Verletzungs-Spuren an 120.000 Jahre alten Knochen dieser Tiere, die unter Leitung von Sabine Gaudzinski-Windheuser von der Johannes Gutenberg-Universität Mainz gemacht wurden
Rechts ist der Kopf des Wissenschaftlers Svante Pääbo in blau-weiß gestreiftem Hemd zu sehen, der links zur Seite blickt auf einen Neandertaler-Schädel, den er in seiner rechten Hand so trägt, dass beide sich anschauen.
Paläogenetiker Svante Pääbo ist seit langem fasziniert vom Neandertaler – und kann heute in dessen Genen lesen

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Dies ist der sechste Text einer achtteiligen, kostenpflichtigen Serie zur Geschichte des Menschen. Bereits erschienen: „Die Wurzeln des Menschen“, „Die Erfindung des aufrechten Gangs“, „Das Zeitalter der Affenmenschen“, „Die ersten Menschen und ihre Welt“ und „Migranten der Vorzeit: Als Urmenschen erstmals ihre afrikanische Heimat verließen“. Es folgen: „Der Siegeszug des Homo sapiens“ und „Was den Menschen so erfolgreich machte“. Die Beiträge folgen im Abstand von je einigen Monaten.