Artikel 7 und wir

von Maximilian Steinbeis
6 Minuten
Verfasungsplatz in Warschau.

Liebe Freunde des Verfassungsblogs,

Es war Polens neuer Ministerpräsident Mateusz Morawiecki selbst, der die Nachricht in die Welt gesetzt hat diese Woche, was in der nächsten auf ihn zukommen wird: Wenn es stimmt, was er sagt und die Presse berichtet, wird am kommenden Mittwoch die EU-Kommission voraussichtlich so etwas wie den europäischen Verfassungsnotstand ausrufen. Zum ersten Mal in der Geschichte der Union wird sie nach Art. 7 des EU-Vertrags dem Rat vorschlagen, die „eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung“ der Verfassungswerte der Union festzustellen. Der Anlass: die unmittelbar bevorstehende Unterwerfung der unabhängigen Justiz unter den Willen der polnischen Regierungspartei PiS.

Vorschlagen, eine Gefahr festzustellen, du meine Güte. Beim Wort genommen klingt dieser Vorgang eher nach Werfen von Wattebäuschchen als nach Faust auf dem Tisch. Wir haben zwar vielleicht einen Verfassungsnotstand, aber was wir (aus Gründen) nicht haben, ist eine Notstandsverfassung. Theoretisch haben wir allenfalls die Möglichkeit, Polen am Ende das Stimmrecht im Rat zu entziehen, aber auch dazu wird es bekanntlich nicht kommen, solange Ungarn fest an Polens Seite steht und am Ende den dazu nötigen einstimmigen Ratsbeschluss mit seinem Veto blockieren kann. (Zu der Möglichkeit, dieses Veto durch ein weiteres und sicher gut begründbares Artikel-7-Verfahren gegen das mindestens ebenso üble Ungarn auszuhebeln: hier und hier.)

Auch innenpolitisch lässt sich leicht erklären, warum Morawiecki offenbar glaubt, sich leisten zu können, dieses Verfahren achselzuckend als beschlossene Sache hinzustellen. Im Herbst 2018 sind in Polen Kommunalwahlen, und die hatte beim letzten Mal die Oppositionspartei PO gewonnen, die in den sechs größten Städten des Landes immer noch die Bürgermeister stellt. Da käme es der PiS sicher nicht ungelegen, die Wählerinnen und Wähler über viele Monate im nationalen Widerstandskampf gegen die gottlosen Kosmopoliten in Brüssel hinter sich versammeln zu können. Zumal in dieser Woche das polnische Parlament, hierzulande weitgehend unbemerkt, noch ein weiteres Gesetz beschlossen hat, nämlich eine Änderung des Wahlgesetzes zu ihren Gunsten, die bei den Kommunalwahlen erstmals wirksam werden wird.

Dennoch sollte man die Sprengkraft dieses Vorgangs nicht unterschätzen. Zum einen würde die bloße Feststellung einer Gefahr für die Verfassungswerte all diejenigen stärken, die Polen durch eine Kürzung der Transferleistungen unter Druck setzen wollen. Zum anderen ist Adressat des Schreibens, das die Kommission am nächsten Mittwoch voraussichtlich verschicken wird, zunächst einmal gar nicht Polen. Adressat sind die im Rat vertretenen Regierungen der Mitgliedsstaaten der anderen 27 EU-Länder. Die werden sich jetzt entscheiden müssen, ob sie dem Vorschlag der Kommission folgen oder nicht. Sie werden damit etwas tun müssen, was sie in den letzten Jahren in ihrer Mehrzahl auf das Peinlichste vermieden haben: sich positionieren zu der Tatsache, dass in Polen, und längst nicht nur da, in den letzten Jahren ein galoppierender Prozess der Entkonstitutionalisierung eingesetzt hat. Sie müssen Farbe bekennen, ob sie bereit sind, einen der Ihren als „eindeutige Gefahr“ für die gemeinsamen Verfassungswerte der Union zu bezeichnen, wenn er seine eigene Verfassung aus dem Fenster wirft. Oder ob sie das nicht tun.

22 Ja-Stimmen müssen zusammenkommen, damit es zu der Feststellung dieser Gefahr im Rat kommt. Wie wird sich Tschechiens neuer Machthaber Andrej Babiš entscheiden? Wie Sebastian Kurz’ schwarz-blaue Koalition in Österreich? Werden die Briten so weit gehen, der Union zum Abschied noch auf die Verfassung zu spucken? Auf welche Seite wird sich Rumäniens sensationell korrupte Regierung schlagen, die gerade ihre ganz eigenen Justizknechtungspläne verfolgt?

Jede einzelne europäische Regierung wird sich festlegen müssen. Auch Angela Merkel, in welcher Konstellation auch immer sie regiert. Jede europäische Regierung wird ihren Wählerinnen und Wählern erklären müssen, wie sie sich entscheidet, und warum. Darin liegt die Bedeutung dieses Vorgangs, und die kann man durchaus als epochal bezeichnen. In ganz Europa wird es eine Debatte geben über die „eindeutige Gefahr“, die constitutional backsliding in einzelnen Mitgliedsstaaten für uns alle bedeutet. Und es wird eine europäische Debatte sein.

Kann sein, dass wir sie verlieren. Kann sein, dass mehr als vier Mitgliedsstaaten sich auf die Seite Polens schlagen und damit die Vier-Fünftel-Mehrheit für die Feststellung scheitert und der Befund übrig bleibt, dass sich die Union tatsächlich nicht mehr zur Wehr zu setzen in der Lage ist gegen den Verfassungszerfall, der sie an allen Ecken und Enden befallen hat. Aber wenigstens können wir dafür kämpfen, dass wir nicht verlieren. Wenigstens ist das Thema jetzt politisierbar. Das allein schon ist ein riesiger Gewinn.

Hat … mit Fisch zu tun?

Ein weiteres großes Thema des EU-Gipfels diese Woche war die künftige militärische Zusammenarbeit in Europa, die im EU-Insiderjargon unter dem eher nach Gemeinsamer Fischereipolitik klingenden Akronym PESCO verhandelt wird – eine enorm wichtige Sache, für und gegen die allerhand spräche, wenn man nur Gelegenheit bekäme, sich dazu eine politische Meinung zu bilden als Bürger_in der Europäischen Union. JELENA VON ACHENBACH jedenfalls kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus darüber, dass nach allem, was sich zugetragen hat an Krisen und Kalamitäten in der Union in den letzten Jahren, ein Projekt von solch immenser Tragweite immer noch im gleichen Technokratenmodus durchgezogen wird wie eh und je.

Mehr Responsivität hat der Europäische Gerichtshof in seiner jüngsten Entscheidung in dem unter dem Namen Taricco laufenden Urteils-Pingpong zwischen Luxemburg und dem italienischen Verfassungsgericht an den Tag gelegt, ein Umstand, den aus strafrechtlicher Perspektive CHRISTINA PERISTERIDOU und JANNEMIEKE OUWERKERK würdigen.

In Österreich macht uns die Verfassungsjustiz ebenfalls große Freude: Der Verfassungsgerichtshof findet das Nebeneinander von Hetero-Ehe und Homo-Lebenspartnerschaft diskriminierend – das erste Mal in Europa, dass ein Gericht das Tor zur Ehe für alle aufstößt. ELISABETH GREIF berichtet unter der mit viel Liebe für unsere latein- und geschichtsfesten Leser_innen formulierten Überschrift „Tu, felix austria, nube!“.

Anderswo

Auf dem JUWISS-Blog gibt es begleitend zur Herbsttagung des Netzwerks Migrationsrecht eine lesenswerte Artikelreihe zu asyl- und migrationsrechtlichen und -politischen Themen.

EVA BREMS lenkt unsere Aufmerksamkeit auf ein neues Kammerurteil aus Straßburg zu der immergrünen Frage islamischer Kopfbedeckungen im Gerichtssaal – nur dass es sich in dem bosnischen Fall mal um einen Mann handelte, der seine muslimische Scheitelkappe abnehmen musste. Das Bemerkenswerte an der Entscheidung: Der Mann bekam Recht. „Upon reading the press release, my first – admittedly cynical – reaction was: ‘so Muslims have rights after all’. And indeed, the Court has to date rejected ALL article 9 accommodation claims of Muslims in states where Islam is a minority religion.“

DIEGO ACOSTA analysiert ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs zu der Frage, wann EU-Mitgliedsstaaten straffällige Ausländer aus Drittstaaten ausweisen dürfen, die eine langfristige Aufenthaltsgenehmigung besitzen – eine Frage, die nach Vollzug des Brexit noch an Gewicht gewinnen dürfte.

KENNETH ARMSTRONG lässt der Begeisterung über die britischen Tory-Rebellen, die dem Parlament das letzte Wort über die Brexit-Verhandlungen zurückerkämpft haben, ein bisschen die Luft ab, und das gleiche tut MARK ELLIOTT.

GÉRALDINE GIRAUDEAU erklärt, was von der Volksabstimmung in der Südsee-Inselgruppe Neukaledonien zu erwarten ist, die zu Frankreich gehört und 2018 über ihre Unabhängigkeit abstimmen wird.

MIGUEL ÁNGEL PRESNO LINERA kratzt sich anlässlich eines Verfahrens vor dem spanischen Staatsgerichtshof den Kopf, in dem es um eine Geldbuße von 14.400 Euro gegen einen Katalanen geht, der ein Pfeifkonzert gegen König Felipe VI. und die Nationalhymne im Fußballstadium von Barcelona organisiert hatte.

LEONID SIROTA prophezeit der anhängigen Verfassungsklage gegen die Regulierung der Parteienfinanzierung in Québec gute Erfolgschancen.

SERGIO VERDUGO schildert die Komplizenschaft des bolivianischen Verfassungsgerichts mit Präsident Evo Morales in der Zerstörung der bolivianischen Verfassungsstaatlichkeit.

TIM FISH HODGSON berichtet, wie das südafrikanische Verfassungsgericht den gebotenen Respekt vor dem herkömmlichen Stammesrecht, das Vielehen erlaubt, und die Rechte der Frauen in ein Gleichgewicht zu bringen versucht.

So viel für… dieses Jahr. Die nächsten zwei Wochen mache ich Urlaub und melde mich im Januar zurück. Ihnen wünsche ich schöne und erholsame Feiertage und alles Gute!

Max Steinbeis

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