Verlorene Paradiese – Forscher machen das wahre Ausmaß des Artensterbens sichtbar

Die menschengemachte Aussterbekrise ist wohl noch weitaus größer als bislang angenommen. Einer neuen Studie zufolge haben Menschen bislang rund 1.400 Vogelarten ausgerottet – doppelt so viele wie bisher angenommen. Das Verschwinden der Arten hat unabsehbare Folgen für die Ökosysteme.

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Vögel auf Bäumen sitzend, AI Gemälde

Dass die Besiedlung neuer Lebensräume durch den Menschen mit dem Verschwinden vieler Tierarten einherging, ist seit langem bekannt. Der Dodo auf Mauritius ist wahrscheinlich das bekannteste Sinnbild des menschengemachten Artensterbens. Direkte Verfolgung zur Ernährung oder, um Nahrungskonkurrenten aus dem Weg zu räumen, Abholzung und die Umgestaltung natürlicher Lebensräume im Sinne menschlicher Bedürfnisse – und nicht zuletzt indirekte Effekte wie das Einschleppen von Katzen, Ratten oder auch Schweinen haben eine verheerende Spur hinterlassen.

Eine Packung Streichhölzer mit einem bunt  gezeichneten Dodo darauf
Heute erinnern auf Mauritius nur noch Zeichnungen, wie hier auf einer Streichholzschachtel, an den ausgerotteten Dodo.

Vögel verloren ihre Flugfähigkeit und ihre Scheu

Besonders deutlich wird das auf Inseln, weil sich dort in Jahrhunderttausenden der Evolution isoliert vom Austausch mit anderen Populationen hochspezialisierte Arten in ihren jeweiligen ökologischen Nischen eingerichtet haben. Vögel verloren so ihre Flugfähigkeit, weil sie angesichts fehlender Prädatoren nicht mehr nötig war – und ihre Scheu verschwand gleich mit: Derartig schutzlos gegen die Neuankömmlinge, überlebten viele Arten nicht lange. Von der Ausrottung vieler Tierarten liegen seit gut 600 Jahren zahlreiche Zeugnisse vor. Das ist auch der Grund dafür, dass die Aussterberaten in der wissenschaftlichen Literatur erst ab diesem Zeitpunkt berechnet werden.

Doch die Besiedlung vieler Regionen und damit das Zeitalter des menschengemachten Artensterbens begann weit davor. Wie viele Arten aber bis heute unbemerkt ausstarben, ist schwierig zu ermitteln.

Fossilien geben zwar auch dazu Hinweise. Weil Vögel aber meist klein und leicht sind, zersetzen sich ihre Knochen schnell, sodass ihre einstige Existenz über Fossilien nur extrem bruchstückhaft nachzuweisen ist. Ein internationales Team von Wissenschaftlern um Rob Cooke vom UK Centre for Ecology & Hydrology (UKCEH) hat nun einen Weg gefunden, dem verborgenen gefiederten Artensterben seit dem Erscheinen des modernen Menschen mit einer Kombination aus Informationen bekannter Aussterbefälle und mathematischer Modellierungen auf die Spur zu kommen.

Unsere Studie zeigt, dass der Einfluss des Menschen auf die Vogelvielfalt weitaus größer ist als bisher angenommen.

Rob Cooke

Der Mensch hat schon 1400 Vogelarten ausgerottet – mehr als jede zehnte Art

Das Ergebnis ihrer gerade im Fachjournal Nature Communications erschienenen Analyse fällt dramatisch aus. Die Forscher gehen heute davon aus, dass seit Beginn der modernen Menschheitsgeschichte im späten Pleistozän vor etwa 130 000 Jahren mehr als 1400 Vogelarten vor allem durch menschliche Aktivitäten ausgestorben sind – fast 12 Prozent der gesamten Vogelfauna auf der Erde.

„Viele Arten sind ausgestorben, bevor es schriftliche Aufzeichnungen gab“, sagt Cooke. Sie sind im Wortsinne spurlos aus der Erdgeschichte verschwunden. „Unsere Studie zeigt, dass der Einfluss des Menschen auf die Vogelvielfalt weitaus größer ist als bisher angenommen“, unterstreicht der Forscher.

Ein AI-Bild ausgestorbener Vögel
Verlorene Naturwunder: Die Forscher haben mit Hilfe künstlicher Intelligenz Bilder der ausgestorbenen Vogelarten erzeugt.

Bislang war die Forschung auf Basis von Fossilienfunden, überlieferten Aufzeichnungen und Präparaten davon ausgegangen, dass durch menschliche Aktivitäten seit dem Spätpleistozän 640 Vogelarten ausgestorben sind – 90 Prozent davon auf von Menschen bewohnten Inseln.

Diese reichen vom ikonischen Dodo auf Mauritius bis hin zum erst vor gut 150 Jahren bei Island ausgerotteten Riesenalk. Auf Basis ihrer Modellierungen gehen die Forscher nun davon aus, dass weitere fast 800 unbekannte Arten ausgestorben sind. Verblieben sind auf dem Planeten noch knapp 11 000 Vogelarten.

Die Entstehung der Schifffahrt erweist sich als Verhängnis für viele Vögel

Die Ausrottung der meisten Vogelarten ist eng an die Entwicklung der menschlichen Schifffahrt geknüpft. So häufen sich die Aussterbewellen im 13. und 14. Jahrhundert mit der Ankunft der Menschen auf den pazifischen Inseln.

Das größte vom Menschen verursachte Wirbeltiersterben in der Geschichte ereignete sich danach im 14. Jahrhundert mit dem Eintreffen von Menschen auf den Inseln des östlichen Pazifik, einschließlich Hawaii und den Cook-Inseln: Fast 600 Vogelarten überlebten diese Zeit nicht. Das entspricht fast dem Hundertfachen der natürlichen Aussterberate.

Eine weitere große Aussterbewelle durch Menschen gab es demnach im neunten Jahrhundert vor Christus durch die Ankunft von Menschen im westlichen Pazifik, einschließlich der Fidschi- und Marianen-Inseln sowie der Kanarischen Inseln.

AI Bild ausgestorbener Vögel, zwei auf dem Boden sitzende bunte Vögel
Künstliche Intelligenz macht die ausgestorbenen Arten sichtbar

Die aktuelle Aussterbekrise begann demnach zur Mitte des 18. Jahrhunderts. Seitdem sind die Vögel neben der zunehmenden Abholzung und der Ausbreitung invasiver Arten zusätzlich den vom Menschen verursachten Bedrohungen durch Klimawandel, intensive Landwirtschaft und Umweltverschmutzung ausgesetzt. Daten der internationalen Naturschutzunion IUCN deuten darauf hin, dass innerhalb der nächsten 100 Jahre bis zu 700 weitere Vogelarten aussterben könnten: eine Aussterbewelle ohne Beispiel in der Menschheitsgeschichte. Schicksal ist das aber auch nach Einschätzung der Forscher nicht. „Ob weitere Vogelarten aussterben werden oder nicht, hängt von uns ab“, sagt Cooke. „Wir müssen unsere Bemühungen zum Schutz der Vögel verstärken“, fordert er.

Ein grau gefärbter Newtonraupenfänger sitzt im Astwerk des Regenwaldes.
Bedrohte Artenvielfalt: Der Newtonraupenfänger aus La Reunion ist einer der seltensten Vögel der Erde. Auch wegen eingeschleppten Katzen ist er fast ausgestorben.

Folgen für die Ökosysteme sind nicht absehbar

Der Verlust so vieler Arten bleibt auch für die Ökosysteme nicht ohne Folgen. Denn jede einzelne Art hat im Gefüge des ökologischen Netzes wichtige Aufgaben. Vögel transportieren Samen über große Distanzen und helfen damit Wäldern bei der Regeneration, sie sind wie Insekten wichtige Bestäuber für Pflanzen und sie sind die Nahrungsgrundlage für weitere Tiere.

Die Forschenden gehen davon aus, dass schon die bisherigen Aussterbewellen „unterschätzte und potenziell irreversible ökologische Auswirkungen“ hatten. Bei einzelnen Arten kennt man die fatalen Folgen ihres Verschwindens. So leidet die Pflanzenvielfalt auf Madagaskar bis heute unter dem Verlust der straußenartigen Elefantenvögel.

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