Nun danket alle Gott: Die Gefahr ist vorüber. Der Rechtsstaat, Himmel noch mal, er war unter die Räuber gefallen im Schwabenstädtchen Ellwangen! Aber dann kam eine Hundertschaft sturmbehaubter Polizei und warf zu seiner Rettung ein paar Dutzend sogenannter Schwarzafrikaner in Fesseln, und jetzt ist alles wieder gut. Jetzt können wir wieder schlafen. Horst Seehofers „Schlag ins Gesicht der rechtstreuen Bevölkerung“, er kann abheilen, und die Faust, die ihn geführt hat, ist mit Kabelbinder fixiert. Die Innenminister, Unionsfraktionschefs, FAZ-Leitartikler falten die Hände, senken die Köpfe, öffnen die Münder. Unter Orgelgebraus erschallt der Dankchoral.
Der Rechtsstaat ist auch mir wahrhaftig lieb und teuer. Dass ich trotzdem nicht mitsingen mag, hat mit einigen Fragen zu tun, die mir im Kopf herumgehen. Rechtsstaat… der Staat hält sich an das Recht, richtig? Der Staat macht, was er darf, und nicht, was er will. Anders als beispielsweise der Staat Ungarn im Fall der Flüchtlingsverteilung und der Staat Polen im Fall der Verfassungsgerichts-„Reform“. Drum heißt es ja Rechtsstaat, oder nicht?
Dass Polizei und Justiz in Baden-Württemberg sich im Fall des Ellwanger Flüchtlings und seiner Abschiebung an das Recht gehalten haben, will ich hoffen. Das scheint hier aber nicht das Problem zu sein. Sondern die „Schwarzafrikaner“. Die wollten nicht akzeptieren, was rechtlich (hoffentlich) korrekt entschieden worden war, nämlich dass einer der ihren aus dem Ellwanger Flüchtlingsheim nicht nach „Schwarzafrika“, das gibt es nämlich gar nicht, sondern nach Italien abgeschoben werden sollte, woselbst er einst den Kontinent betreten und daher von Rechts wegen sein Asylverfahren zu durchlaufen hatte.
Italien… Warum gibt es eigentlich diese Schwarzen, die den Touristen auf dem Domplatz diese unendlich nervigen Leucht-Fallschirm-Zwillen verkaufen, nur in Italien und nicht auch hier? Noch nie einen von denen hier gesehen. In Berlin gibt es doch auch genug Touristen. Aber keine Leuchtfallschirme. Hm. Muss mit dem Rechtsstaat zu tun haben…
Und warum sind 150 widerständige „Schwarzafrikaner“ in Ellwangen gleich eine Gefahr für den Rechtsstaat?
Ich weiß schon, ihr frommen Innenminister, Unionsfraktionschefs und FAZ-Leitartikler: Den Rechtsstaat kann man nicht auf staatlichen Rechtsgehorsam reduzieren. Kein Rechtsstaat bleibt ein Rechtsstaat, wenn er es geschehen lässt, dass seine Bürgerinnen und Bürger das, was rechtlich korrekt entschieden wurde, einfach nicht akzeptieren. Das kann natürlich nicht sein. Der Rechtsstaat ist als Res Publica allen Bürgerinnen und Bürgern zur Achtung und Pflege anvertraut; wir leben ja nicht mehr im Obrigkeitsstaat. Und wenn die der Polizei bei deren Versuch, das Recht durchzusetzen, nur noch grinsend empfehlen, sich in Sicherheit zu bringen, dann ist es mit dem Rechtsstaat vorbei.
Schon klar. Nur… Verzeihung, aber wir reden doch von Leuten, die abgeschoben werden sollen? Denen also gesagt wird, dass sie sich ihre Teilhabe an unserer deutschen rechtsstaatlichen Res Publica an den Hut stecken können? Denen überhaupt nichts zur Achtung und Pflege anvertraut wird, mangels sogenannter „Bleibeperspektive“? Rechtsgehorsam erwarten, aber Rechte verweigern – wie passt das zusammen?
Egal. Das Recht gilt auch für sie, solange sie auf deutschem Boden herumlaufen, schallt der Chor der Innenminister, Unionsfraktionschefs und FAZ-Leitartikler. Unser Staat. Unser Recht. Unser Rechtsstaat. Sollen sie halt gehen, wenn ihnen das nicht passt.
Moment, denke ich mir. Was heißt hier unser Rechtsstaat? Ist der Rechtsstaat das, was uns hier drinnen in die Lage versetzt, uns die dort draußen vom Leibe halten? Oder ist Rechtsstaat nicht vielmehr, was uns hier drinnen abverlangt, uns die dort draußen eben gerade nicht vom Leibe zu halten, als gingen sie uns nichts an?
Das sind alles furchtbar schwierige Fragen. Aber bei dem ständigen Choralgesinge hier drinnen kann sich ja kein Mensch vernünftig konzentrieren. Weshalb ich, pardon, jetzt doch lieber aufstehe und mich ich gedämpften Schrittes und ohne zu stören dem Kirchenausgang entgegen bewege, um die schwere Tür aufzudrücken und ins Freie zu treten, in den sonnigen, duftenden Frühling, in den Vogelgesang, in den Mai. Wo man atmen kann.
Myth Busting
Für einen nicht unerheblichen Teil des konservativen Meinungsspektrums ist der Rechtsstaat schon seit 2015 eigentlich Vergangenheit, weil seither die Bundesrepublik sich einem scheinbar unausrottbaren und von so manchem Juraprofessor fleißig genährten Mythos zufolge im Zustand des „fortgesetzten Rechtsbruchs“ befindet. Diesen Mythos wähnt bestätigt, wer ins Grundgesetz schaut und dort liest, dass es bei Einreise aus einem der rings um Deutschland befindlichen EU-Mitgliedsstaaten kein Grundrecht auf Asyl gibt (Art. 16a Abs. 2 GG). Dass das Flüchtlingsrecht allerdings längst nicht mehr im Grundgesetz, sondern im Europarecht geregelt ist und dort der Nachweis eines „fortgesetzten Rechtsbruchs“ sehr viel schwerer fällt, wissen viele schlicht nicht. Deshalb ist DANIEL THYMs ausführliche und gründliche Demontage des Rechtsbruch-Mythos ein Stück veritabler Aufklärung, das hoffentlich im Gespräch mit Rechten über das Recht noch viel Nutzen stiften wird.
Zum Vertrauen in die Herrschaft des Rechts trägt ebenfalls nicht bei, dass das europäische Flüchtlingssystem nicht erst seit 2015 in einem fürchterlichen Zustand ist. Eine Reformidee, die im Rat der Mitgliedsstaaten viele Freunde hat, ist die Einrichtung von Schutz-Ghettos in Drittstaaten außerhalb der EU. ANNA LÜBBE klärt auf, was die Genfer Flüchtlingskonvention zu dieser Idee zu sagen hat.
Zum Thema Menschenrechtsverletzungen in Drittstaaten hat in dieser Woche der US Supreme Court ein wichtiges Urteil gefällt, das für Schadensersatzklagen vor US-Gerichten gegen ausländische Unternehmen kaum noch Spielraum lässt. RUTI TEITEL berichtet und kommentiert.
Das dänische Institut für Menschenrechte wurde in der vergangenen Woche von Helga Molbaek-Steensig wegen seiner Rolle beim Entwurf der Kopenhagen-Erklärung zur Weiterentwicklung der europäischen Menschenrechtskonvention scharf kritisiert. Dieser Kritik entgegnen Institutsdirektor JONAS CHRISTOFFERSEN und Aufsichtsratsvorsitzende DORTHE ELISE SVINDT.
Das deutsche Bundesverfassungsgericht hat ein Urteil zu der Frage gefällt, ob Fußballclubs das Grundrecht auf Gleichbehandlung achten müssen, wenn sie Stadionverbote gegen Fans verhängen. Während MATTHIAS RUFFERT applaudiert, dass Karlsruhe für einen speziellen Fall eine vernünftige Lösung gesucht und gefunden habe, sieht MICHAEL GRÜNBERGER in dem Beschluss weit mehr als nur eine Einzelfallentscheidung, sondern eine „ganz erhebliche Akzentverschiebung weg vom traditionellen deutschen Denken in Freiheitskategorien hin zur (auch) verfassungsrechtlich geforderten Sensibilisierung des Privatrechts für ungleiche Freiheitsmöglichkeiten in der Umwelt des Rechts“.
Das britische Oberhaus hat sich erneut den Zorn der Brexiteer-Presse zugezogen mit einem Vorstoß, dem Parlament die Kontrolle über den EU-Austritt zurückzuerobern. TOBIAS LOCK analysiert, was es damit auf sich hat und welche Erfolgsaussichten er hat.
In Portugal hat das Verfassungsgericht ein Urteil zu Leihmutterschaft und Samenspende gefällt, an dem TERESA VIOLANTE nicht nur interessant findet, was es an dem Gesetz bemängelt, sondern vor allem auch, was es akzeptiert.
Im Libanon wird an diesem Sonntag nach neun Jahren endlich ein neues Parlament gewählt. JAMAL EL-ZEIN beleuchtet die politischen und historischen Hintergründe dieses Vorgangs in einem Land, das seit Beginn seiner Existenz mit Problemen zu kämpfen hat, von denen man sich kaum einen Begriff macht.
Anderswo
JULIAN KRÜPER zerlegt den Antrag der AfD-Fraktion im Deutschen Bundestag für mehr Anwesenheit von Abgeordneten in Plenardebatten und kommt zu dem Schluss: „Der AfD kommt es weder auf die Stärkung des Plenums noch auf die Sacharbeit an, sondern nur auf deren Simulation.“
MANUEL MÜLLER ist frustriert über die im Rat bis zur Unkenntlichkeit verwässerten Reformansätze zum Wahlrecht des EU-Parlaments.
CLAUDIO DI MAIO untersucht die Folgen der Verkäuflichkeit der Staats- und damit auch Unionsbürgerschaft in Malta.
JAN SMITS ruft die niederländische Rechtswissenschaft auf, sichtbarer zu werden.
ORIOL BARTOMEUS zeigt, dass auch die Katalan_innen dem nationalistischen Bild eines einigen Volkes kaum genügen.
JULIANO ZAIDEN BENVINDO versucht die grundstürzenden Vorgänge in Brasilien in den letzten fünf Jahren auf den verfassungstheoretischen Punkt zu bringen.
ASANGA WELIKALA berichtet vom traurigen Zustand der Verfassungsreform in Sri Lanka, die die Regierung der nationalen Einheit 2015 angestoßen hatte.
Für die nächste Woche sind schon viele spannende Dinge in Planung. Unter anderem werden wir in Kooperation mit dem Asser-Institut in Den Haag ein Online-Symposium über die Rolle und Position von Verfassungsgerichten in Anti-Terror-Verfahren veranstalten. Bis dahin alles Gute und eine erfolgreiche Woche,
Ihr Max Steinbeis