Frauen kämpfen gegen das Wildtier-Massaker auf Brasiliens Straßen
Sojafelder und Viehweiden lassen den Lebensraum für Brasiliens Fauna schmelzen. Jedes Jahr werden zwei Millionen Wildtiere überfahren. Mit vereinter Kraft zwingen clevere Frauen den Staat nun zu Prävention.
Neugierig schnüffelt das Gürteltier auf dem Standstreifen der BR 163, der 3.500 Kilometer langen Sojastraße quer durch Brasilien. Wir befinden uns zwischen Dourados und Campo Grande in Mato Grosso do Sul im Südwesten des Landes, der Kornkammer Brasiliens. Es ist nicht zu erkennen, was das Tier so fasziniert, dass es die mit Tempo 100 vorbei brausenden schweren Sojalaster ignoriert. Dann streckt es sogar die Nase über die weiße Markierung!
Zwei Millionen überfahrene Wildtiere im Jahr
Das Auto vor uns bremst etwas ab und umfährt das Tier in einem Bogen. Das war dem Gürteltier dann wohl doch etwas zu brenzlig. Es dreht um und verschwindet zwischen dem hohen Gras und den Termitenhügeln der umliegenden Viehweiden. Diesmal ist es gut gegangen. Doch das ist nicht immer der Fall. Auf Brasiliens Straßen sterben jedes Jahr zwei Millionen Wildtiere hat eine Studie ergeben. Und die Zahl der Wildunfälle nimmt im selben Tempo zu wie die Zivilisation in immer abgelegenere Regionen vordringt, und Straßen die Lebensräume der Wildtiere zerschneiden.
Brasiliens Südwesten ist raues Viehzüchter- und Bauernland. Aus ihrer Sicht haben sich die Siedler mühsam die Natur untertan gemacht. Es ist bis heute ein Kampf mit Giftschlangen und Raubkatzen, gegen Moskitos, Überschwemmungen und Buschbrände sowie gegen Schädlinge aller Art. Der Anblick von überfahrenen Affen, Tukanen, Rehen oder Jaguaren ist nichts, was die AnwohnerInnen von Mato Grosso do Sul aus der Ruhe bringen würde. Höchstens ein bedauerlicher Kollateralschaden – vor allem dann, wenn das eigene Auto dabei lädiert wird.
Schlüsselerlebnis mit dem Ameisenbär
Das sieht Raquel Machado anders. Die Tierärztin aus der Industriestadt São Paulo hat ein Haus im Dorf Bonito – Brasiliens Ökotourismus-Hochburg in Mato Grosso do Sul – und ein Herz für die einheimische Fauna. Ihre Spezialität sind Wildtiere, die von der Polizei beschlagnahmt wurden. Machado pflegt die Tiere und wildert sie dann aus. Bei Bonito unterhält ihre Stiftung ein kleines Reservat zu diesem Zwecke. Tiere mühsam wieder aufpäppeln, nur damit sie vom nächstbesten Auto überfahren werden – das findet sie absurd. Aber es brauchte erst ein Schlüsselerlebnis, bis sie eine Strategie dagegen fand.
Im Juni 2020 war sie mit ihrer Tochter Isis auf der Heimfahrt als die beiden eine soeben angefahrene Ameisenbären-Mutter mit Kind am Straßenrand entdeckten. „Wir hielten an, um ihnen zu helfen, doch es war schon zu spät“, erzählt Machado. Wütend und hilflos machte sie ein Foto und veröffentlichte es in ihren sozialen Netzwerken, um so das Massaker auf den brasilianischen Straßen anzuprangern. „Mama, hör auf zu jammern und tu etwas“, forderte ihre zwölfjährige Tochter. Das war der Beginn der Initiative „BonitoNão atropela“ (Bonito überfährt nicht).
Tierschutz in Schneeballmethode
Es begann mit einer Whatsapp-Gruppe, die nahezu stündlich wuchs. Eine der ersten; die sich der Initiative anschlossen, war Fernanda Abra, eine Wissenschaftlerin aus São Paulo, die mit ihrer Doktorarbeit über das Tiermassaker auf Brasiliens Straßen Aufsehen erregt hatte.
Abra; deren Beraterfirma ViaFauna im ganzen Land Wildtierbrücken baut und Behörden berät, untersuchte das nämlich nicht nur aus rein biologischer Sicht, sondern sie rechnete Schäden hoch. „Alleine im Bundesstaat São Paulo wurden in einem Jahr 39.605 Tiere überfahren, davon 150 Ameisenbären und 50 Jaguare“, sagt sie. „Das verursachte 2.500 Unfälle mit zum Teil tödlichen Folgen und Kosten von 150 Millionen Reais (rund 30 Millionen Euro).“ Als die Tragödie zur greifbaren Zahl wurde; nahmen die Medien davon plötzlich Notiz.
Der Whatsapp-Gruppe aus Bonito, der sich fast ausschließlich Frauen anschlossen, traten schließlich auch sieben lokale Umweltschutzorganisationen bei. „Das Problem der Wildtierunfälle ist nicht neu, und wir alle hatten schon Kampagnen gemacht“, erzählt Erica Saito vom Institut für Wildtierschutz (ICAS), einer der Organisationen. „Aber das waren Einzelinitiativen, die verpufften. Als wir uns zusammen taten, entstanden Synergien, wir wurden plötzlich ganz anders wahrgenommen, hatten mehr Ideen und mehr Ausdauer.“ Die einen organisierten Kampagnen in sozialen Netzwerken; die anderen steuerten wissenschaftliche Daten bei. die Dritten organisierten das politische Lobbying – so wurde aus Bonito Não Atropela eine schlagkräftige BürgerInnenbewegung.
Im Kampf mit der Bürokratie
Gut 100 Briefe und E-mails später wurden die Frauen schließlich bei der regionalen Verkehrsbehörde von Mato Grosso do Sul empfangen. „Das erste Treffen war eher durchwachsen“, erinnert sich die Wissenschaftlerin Fernanda Abra. „Die wollten ihre Statistiken über Tierunfälle im Straßenverkehr nicht rausrücken, und der für Sicherheit zuständige Beamte war der Meinung, es reiche, Schilder mit Geschwindigkeitsbeschränkungen aufzustellen.“
Doch die Frauen ließen nicht locker. Mit Charme und Hartnäckigkeit entlockten sie dem Beamten die – wenngleich unvollständigen – Zahlen und bestätigten ihre Theorie: „Alleine auf den vier größten asphaltierten Straßen von Mato Grosso do Sul werden jährlich 5.000 Tiere überfahren“, sagt Saito, „dabei machen die nur 14 Prozent des gesamten Straßennetzes aus.“ Insgesamt dürfte die Zahl der überfahrenen Tiere also um ein Vielfaches höher liegen. In Mato Grosso so Sul trifft es besonders oft selten Tiere: Rund 250 Große Ameisenbären sterben zum Beispiel dort jedes Jahr im Strassenverkehr. Durch Präventionsmaßnahmen, argumentiert Tierärztin Raquel Machado, könnten 90 Prozent dieser Zusammenstöße verhindert werden.
Handbuch und Grünbrücken
Schließlich fruchtete der Druck. Die Verkehrsbehörde (Agesul) setzte sich mit Erica Saito vom Institut für Wildtierschutz, Transportunternehmen und anderen ExpertInnen zusammen, und gemeinsam entwarfen sie das erste Handbuch über Maßnahmen zum Schutz der Tiere im Straßenverkehr, das im Dezember 2021 veröffentlicht wurde.
Die Medien berichteten, die Frauen begannen, an Schulen Vorträge zu halten, um schon die Jugend für das Thema zu sensibilisieren.. Werbetafeln sollten Auto- und LKW-Fahrer sensibilisieren. Wissenschaftlerin Abra erstellte eine Studie und identifizierte elf kritische Punkte entlang des 3.000 Kilometer umfassenden Straßennetzes im Bundesstaat, an denen es besonders oft zu Wildunfällen kam. Machado konnte dank einer Spendenkampagne einen Schutzzaun und zwei Grünbrücken finanzieren, die Anfang 2022 in der Nähe von Bonito installiert wurden, an einer Stelle, an der es besonders oft zu Kollisionen kam. Zwei Fahrbahnschwellen wurden von der Stadtverwaltung installiert. Weitere drei Grünbrücken sollen dieses Jahr folgen.
„Bei allen Straßen, die in Brasilien neu gebaut oder neu geteert werden, müssen eigentlich Tierübergänge laut Gesetz mitgeplant werden“, sagt Fernanda Abra. „Aber nicht immer werden die Vorschriften umgesetzt“, seufzt sie. Zwei der wichtigsten Überlandstraßen in Mato Grosso do Sul, die MS-178 und 382, haben keine einzige Wildtier-Überquerungshilfe. Seit BonitoNãoAtropela ein Auge darauf hat, dürfte es in Mato Grosso du Sul aber schwieriger werden, die Wildtierübergänge „zu vergessen“.
Tierschutz landet auf der politischen Agenda
„Es ist etwas in Bewegung geraten“, sagt Erica Saito vom Institut für Wildtierschutz. Die Lokalpresse berichtete ausführlich, die Initiative schaffte es sogar in internationale Medien. Die Stadtverwaltung von Bonito, für die der Ökotourismus ein wichtiges Aushängeschild ist, stellte sich hinter die Bürgerinitiative. Hoteliers, Schulen und Reiseagenturen unterstützen sie. Und selbst bei der Regionalregierung, die fest in der Hand der ökologisch weniger sensiblen Großgrundbesitzerïnnen ist, öffneten sich Türen. Dies allerdings wohl eherinfolge einer Untätigkeitsklage, die 2018 beim Ministerio Público, der öffentlichen, weisungsunabhängigen Staatsanwaltschaft, eingereicht wurde gegen die Regionalregierung, die regionale Umweltbehörde, Agesul und Baufirmen.
Einige der KlageführerInnen von damals sind UmweltschützerInnen, die heute auch in BonitoNãoAtropela aktiv sind. Der für Infrastruktur zuständige Minister, Eduardo Riedel, liebäugelt mit den Gouverneursposten und hat sich deshalb verhandlungsbereit gezeigt. Seither gehört ein gemeinsam vom Bundesstaat und der Regionaluniversität gegründetes Programm zur Vermeidung von Wildtierkollisionen, Estrada Viva, zu seinen Aushängeschildern.
„Es ist trotzdem weiterhin nicht einfach“, sagt Abra. Seit fast einem Jahr warten die Frauen darauf, dass die Verkehrsbehörde endlich den gespendeten Schutzzaun installiert und die versprochenen Schilder zur Geschwindigkeitsbegrenzung aufstellt. Aber sie lassen nicht locker. „Wir müssen die Behörden vor uns hertreiben“, sagt Fernanda Abra. „Bonito ist nur der Anfang“, ergänzt Raquel Machado. Alle Straßen im Bundesstaat tiersicher zu machen, sei nur ein Etappenziel. „Wir wollen Schule machen und Vorreiter sein für ganz Brasilien“, sagt Machado selbstsicher.