Der Kreml führt einen Propaganda-Krieg
Die Mehrheit der russischen Bevölkerung steht hinter Putin. Doch um diese Unterstützung aufrechtzuerhalten, muss der Kreml Kritiker mundtot machen.
Im offiziellen Russland gibt es keinen Krieg. Noch immer nicht. Stattdessen werden Menschenleben gerettet, und zwar hunderttausende. Man ist einem Angriff der Nato ganz knapp zuvorgekommen und kämpft wacker gegen all die falschen Informationen auf Instagram, Facebook, Twitter und Youtube. „Die amerikanischen sozialen Medien haben einen Informationskrieg gegen Russland begonnen“, schrieb der Sprecher der russischen Duma Vjacheslav Volodin am Donnerstag auf Telegram. „Sie verletzen das Völkerrecht, schränken die Redefreiheit ein und verbreiten falsche Informationen.“
Volodin greift dabei Vorwürfe auf, die häufig gehört werden – wenn Kritiker sie der russischen Regierung zur Last legen. Das ist kein Zufall. Fast jede Kritik, die Richtung Moskau ausgesprochen wird, kommt als gegenteiliges Echo in den Westen zurück. Es geht in diesem Krieg längst nicht mehr um Tatsachen, es geht um Behauptungen.
Die „Spezial-Operation“ ist in der Bevölkerung akzeptiert
Für viele, die Zugang zu einigermaßen freien Medien haben, mögen die russischen Darstellungen zum Ukraine-Krieg zynisch, absurd, durchschaubar klingen. Ein paar Klicks im Internet könnten genügen, um das Lügengebäude des russischen Staates einstürzen zu lassen. Doch für viele Bürger gäbe es bislang keine Notwendigkeit, andere Informationen zu suchen, so Denis Volkov, Leiter des Levada-Zentrums, einem unabhängigen Meinungsforschungsinstitut in Moskau. Die Darstellungen des Kremls klingen für sie plausibel, weil sie auf den Boden einer jahrzehntelang staatlich geprägten Meinung fallen und eine sorgfältig aufgebaute Erzählung fortsetzen. Die Erzählung von einer Bedrohung durch die Nato, von einem aggressiven Westen und von einer bedrohten und unterdrückten russischen Bevölkerung in den ukrainischen Separatistengebieten.
Die russische Bevölkerung gehe davon aus, dass Amerika und der Westen Druck auf die Ukraine ausüben, meint Volkov. „Es ist eine Situation, in der unsere Leute zusammengeschlagen werden – da müssen wir natürlich helfen und unsere Leute schützen“, beschreibt der Meinungsforscher die allgemeine Einstellung. Die Operation, wie der Krieg in Russland offiziell genannt wird, sei weitgehend akzeptiert.
Umfragen: 70 Prozent stehen hinter Putin
Sowohl beim Meinungsforschungsinstitut FOM als auch beim unabhängigen Levada-Zentrum sind die Zustimmungswerte für Putin zuletzt noch einmal deutlich angestiegen – auf über 70 Prozent. Volkov glaubt allerdings nicht, dass diese Umfragen kurz nach Kriegsbeginn etwas über die Einstellung zum Krieg verraten: „Die Menschen hatten noch gar nicht genug Informationen, um zu verstehen, was vor sich geht.“ Die meisten Bürger informieren sich über das staatliche Fernsehen. Und selbst wenn Darstellungen aus westlichen Medien in Russland ankommen, erscheinen sie vielen Russen wenig vertrauenswürdig. Sie würden als parteiisch wahrgenommen, erklärt Volkov.
Es gibt sie natürlich auch in Russland, die kritischen Stimmen: den TV-Moderator, die Eiskunstläufern, die Theater-Direktorin und den Rapper, die sich deutlich gegen den Krieg aussprechen. Es gibt eine lange Liste von Wissenschaftlern, die sich gegen den Krieg wenden. Es gibt Menschen, die Restaurantkritiken im russischen Internet verwenden, um auf die Gräuel in der Ukraine aufmerksam zu machen. Sogar Google Werbung wird gekauft, um darin Nachrichten zu platzieren. Und schließlich gibt es auch Proteste im Land, die beeindruckend aussehen, wenn sie auf eine Landkarte geplottet werden.
Wer protestiert, wird verhaftet
Allein, diese Demos mögen weit über das Land verteilt sein. Besonders groß aber sind sie nicht. „Es sind wenige öffentliche Personen, die sich kritisch äußern, und es sind nur wenige Menschen, die auf die Straße gehen“, sagt Volkov. Denn dafür braucht es nicht nur unabhängige Informationen, sondern auch sehr viel Mut und Leidensfähigkeit. „Diejenigen, die protestieren, würden fast alle verhaftet", so Volkov.
Putins Russland hat lange Zeit ein Mindestmaß an freiheitlicher Berichterstattung und Meinungsäußerung zugelassen. Es gibt hier ein recht genaues Gespür dafür, wie stark unterdrückt, zensiert und gestraft werden muss, um die Zustimmungswerte nicht zu gefährden. Im Moment aber gibt es da kaum Spielraum. Die Einschränkung der Presse- und Meinungsfreiheit ist für den russischen Staat wichtiger denn je.
„In der jetzigen Situation ist anzunehmen, dass jede kritische Stimme entscheidend sein kann. Und insofern ist das jetzt eine präventive Maßnahme, möglichst alle Orte, an denen sich Kritik sammeln kann, auszuschalten“, sagt Jan Matti Dollbaum vom Forschungszentrum für Ungleichheit und Sozialpolitik der Universität Bremen.
Zensurbehörde warnt vor panischer Stimmung
Ausgeschaltet wird daher gerade einiges: Der Radiosender Echo Moskvy etwa, der lange Zeit eine geduldete kritische Stimme war und selbst Oppositionelle wie Alexej Navalny zu Wort kommen lassen konnte, der letzte unabhängige TV-Sender Dozhd’ und zuletzt auch Facebook. Als wichtige oppositionelle Stimme ist allein die Novaja Gazeta übrig. Doch die Zeitung, die manche Krise, viele Journalisten-Morde und Repressionen überstanden hat, steht vor riesigen und neuen Herausforderungen. Im Kampf gegen die „Verbreitung von Falschinformationen“ sollen schon bald Geldstrafen von bis zu fünf Millionen Rubel und bis zu 15 Jahre Freiheitsentzug verhängt werden können. Es wäre nachvollziehbar, wenn dies nun selbst die Leidensfähigkeit der gestählten Novaja-Gazeta-Mitarbeiter überfordern würde. Doch sie haben sich entschieden, ihre Arbeit „unter militärischer Zensur und Erfüllung der Forderungen der Behörden“ fortzusetzen, wie sie auf ihrer Webseite schreiben. Sechs Meldungen der Zensurbehörde hat die Zeitung nach eigenen Angaben bereits erhalten. Unter anderem wird ein Artikel als Falschinformation eingestuft, der den Angriffskrieg auf die Ukraine auch als solchen bezeichnet. „Diese Informationen entsprechen nicht der Realität und erzeugen eine panische Stimmung in der Bevölkerung“, schreibt die Zensurbehörde. Wie zu dunkelsten Sowjetzeiten wird sich die Zeitung in Kreativität üben und die Fähigkeit der Leser neu schulen müssen, zwischen den Zeilen zu lesen.
An der breiten Masse der Bevölkerung dürften die versteckten Botschaften allerdings vorbeigehen. Selbst die wirtschaftlichen Sanktionen des Westens, so Volkov vom Levada-Zentrum, hätten bisher nicht viel bewirkt. Viele Befragte hätten das Gefühl, dass Sanktionen ohnehin verhängt würden, ganz gleich wie Russland sich verhalte, schreibt der Meinungsforscher in einer Analyse. Dass der Westen Russland schwächen und demütigen will, sei eine hartnäckige Überzeugung, die auf dem Misstrauen gegenüber der amerikanischen Außenpolitik beruht – seit Ende der 1990er Jahre, als die NATO-Erweiterung begann.
Welche Kränkung, welche Fehler, welche Missverständnisse auch immer am Anfang standen, sie sind in der derzeitigen Eskalation kaum noch erkennbar. Der Kreml hat sich eine Legende gestrickt, ein Lügengebäude aufgebaut, das schwindelerregende Höhen erreicht hat. Dass die Statik dieses Gebäudes äußerst schwach ist, scheint Putin zumindest zu Beginn seines Angriffs auf die Ukraine verdrängt zu haben.
Rückkehr düsterer Zeiten?
Wie weit er nun gehen wird, um die eigene Deutung der Ereignisse aufrechtzuerhalten, sei schwer abzuschätzen, sagt der Osteuropa-Experte Dollbaum. Momentan befürchte er das noch nicht, aber grundsätzlich sei nicht auszuschließen, dass das Internet komplett abgeschaltet werde. „Oder dass alle, die sich kritisch äußern, auf einmal den Geheimdienst zu Besuch haben. Das gab es ja schon mal in der Sowjetunion.“
Zumindest wird es für die russische Regierung mit jedem Tag schwieriger werden, den brutalen Krieg in der Ukraine als „Spezialoperation“ zu verkaufen. Tote Soldaten lassen sich nicht auf Dauer verschweigen. Und das gelte auch für Staaten, die keine freien Medien hätten, sagt Kadri Liik, Senior Policy Fellow beim European Council on Foreign Relations, bei einer Diskussion der New York Times. Sowohl der amerikanische Vietnamkrieg als auch der sowjetische Afghanistankrieg verloren mit jedem weiteren Toten auch an Popularität, so Kadri. „Es spielte also keine Rolle, ob man freie Medien hatte oder nicht, irgendwie sickerten die Nachrichten über einen Todesfall durch, und die Leute wussten, was geschieht.“ Liiks Schlussfolgerungen daraus sind allerdings eher düster. „In Putins Augen könnte es sinnvoll sein, in den nächsten Tagen massiv anzugreifen, bevor die russische Gesellschaft die Chance hatte, richtig zu begreifen, was da passiert.“
Die Tatsache, dass ein großer Teil der russischen Bevölkerung glauben könne, dass es keinen Krieg gibt, sei die treibende Kraft hinter der Eskalation, schrieb vor einigen Tagen der ehemalige Leiter der Yandeks Nachrichten auf Facebook. Er rief seine Kollegen dazu auf, das staatstreue Portal einfach offline zu stellen. Das Nachrichtenportal sei ein Schlüsselelement zur Vertuschung des Krieges, schreibt Lev Gershenzon. „Jeder Tag und jede Stunde mit solchen 'Nachrichten’ kosten Menschenleben.“ Doch Yandeks novosti sind noch online, Facebook dagegen nicht mehr.