Unicef-Expertin: „Die diesjährigen Überschwemmungen haben ein noch nie dagewesenes Ausmaß“

Nicki Bennett leitet beim UN-Kinderhilfswerk Unicef die Katastrophenhilfe für die Region West- und Zentralafrika. Sie warnt, dass aktuell 30 Millionen Dollar für die Notversorgung der Flutopfer fehlen und dass der Klimawandel die Situation immer weiter verschärft

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Eine Frau mit Baby steht inmitten zerstörter Gebäude.

Nicki Bennett leitet beim UN-Kinderhilfswerk Unicef die Katastrophenhilfe für die Region West- und Zentralafrika.

In westlichen Medien stehen die Überschwemmungen in Mitteleuropa im Fokus, aber in West- und Zentralafrika sind deutlich größere Regionen von Überschwemmungen betroffen. Wie ist die Lage?

Von den schweren Überschwemmungen in West- und Zentralafrika waren in diesem Jahr bisher schätzungsweise fünf Millionen Menschen betroffen, viele von ihnen Kinder. Mindestens 760.000 Menschen haben ihr Dach über dem Kopf verloren und mehr als 300.000 Häuser wurden zerstört.

Wie schwerwiegend ist das im Vergleich zu den Vorjahren?

Die diesjährigen Überschwemmungen haben ein noch nie dagewesenes Ausmaß. In der westafrikanischen Sahelzone herrscht zwar alljährlich Regenzeit, aber diese saisonalen Überschwemmungen werden immer häufiger und verheerender. Extreme Wetterereignisse – insbesondere Überschwemmungen und Dürren – nehmen aufgrund des Klimawandels zu. Katastrophen wie die jetzige werden zu einer Art neuer Normalität. Die Lage ist schon jetzt schlimmer als bei den Überschwemmungen im letzten Jahr, die weitreichende Verwüstungen anrichteten und insgesamt 4,5 Millionen Menschen betrafen, und sogar noch schlimmer als im Jahr 2022. In diesem Jahr treffen Überschwemmungen besonders viele Länder – die Demokratische Republik Kongo, Kongo, Liberia und in jüngster Zeit vor allem Nigeria, Tschad, Niger, Mali und Kamerun.

Was macht die Lage besonders schlimm?

Die riesige betroffene Fläche und die große Zahl der Betroffenen, aber auch der Zustand von Dämmen. Eine besonders extreme Situation gab es im Nordosten Nigerias, wo ein Dammbruch die Stadt Maiduguri überschwemmte und 40 Prozent der Bevölkerung, das sind mindestens 400.000 Menschen, in Mitleidenschaft zog. Auch andere Dämme in Nigeria, vor allem im Norden und Nordwesten, sind durch die Regenfälle und Überschwemmungen stark unter Druck.

Überschwemmte Stadt.
Die nach einem Dammbruch überschwemmte Stadt Maiduguri im Nordosten von Nigeria.

Nach Angaben von Bloomberg stand zuletzt allein in Mali eine Fläche von der Größe Österreichs unter Wasser. Welche Auswirkungen hat das?

Die Überschwemmungen in Mali haben die Regierung dazu veranlasst, den nationalen Katastrophenzustand auszurufen. 180.000 Menschen, davon fast die Hälfte Kinder, sind bereits von den Überschwemmungen in allen 19 Regionen des Landes betroffen. Die weit verbreiteten Überschwemmungen in Mali zerstören nicht nur Häuser, sondern auch lokale Infrastrukturen wie Gesundheitszentren und Schulen. Sie können sich vorstellen, dass die Ressourcen, die zur Unterstützung der betroffenen Kinder und Familien zur Verfügung stehen, ganz anders sind als in Europa. Unicef und andere Partner tun, was wir können, um die Regierung und die betroffenen Menschen zu unterstützen.

Was sind die dringendsten humanitären Probleme?

Unterkünfte für die Vertriebenen, Versorgung mit sauberem Wasser, Wiederbeschaffung verlorener Haushaltsgegenstände und die Versorgung unterernährter Kinder. In Niger wurden Schulen zudem zu Notunterkünften umfunktioniert, weshalb das Schuljahr nun später startet. Unicef arbeitet derzeit mit den nationalen Behörden daran, provisorische Lernräume einzurichten.

Was kann Unicef selbst leisten?

Unicef ist in der gesamten betroffenen Region aktiv, unterstützt die Regierungen und arbeitet mit internationalen und lokalen Partnern zusammen. In Nigeria wurden zum Beispiel bisher fast 400.000 vorübergehend vertriebene Menschen in 30 Orten registriert, nachdem sie aus den von der Flut betroffenen Gebieten umgesiedelt worden waren. Wir stellen Wasser, sanitäre Einrichtungen und Hygieneartikel bereit. Aufgrund der Erfahrungen der letzten Jahre wissen wir bereits, wie stark erhöht das Cholerarisiko ist. Daher hat Unicef bereits 3000 Cholera-Kits, 950 Hygiene-Kits, 1000 Latrinenabdeckungen und 1,6 Millionen Wasserreinigungstabletten geliefert, um Familien die Möglichkeit zu geben, ihre Kinder vor Cholera zu schützen. Zudem verstärken wir andere Impfprogramme.

Was erwarten Sie von der internationalen Gemeinschaft an Soforthilfe?

Die Unicef-Länder- und Regionalbüros in der Region benötigen dringend 30 Millionen US-Dollar an flexibler Soforthilfe. Zurzeit setzen wir unsere eigenen internen flexiblen Mittel ein, die uns helfen, schnell auf solche Notfälle zu reagieren. Es liegt auf der Hand, dass wir sowohl Unterstützung für den unmittelbaren Bedarf als auch Investitionen in den Aufbau benötigen, um die Auswirkungen dieser Umweltkatastrophen zu verringern.

Wie bereitet sich Unicef auf weitere Überschwemmungen vor?

Unicef will noch mehr in die Katastrophenvorsorge investieren. Das ist entscheidend, wenn wir davon ausgehen müssen, dass die jährlichen Überschwemmungen immer schlimmer werden. Studien haben gezeigt, dass für jeden Dollar, der in die Vorbereitung investiert wird, vier Dollar bei der Reaktion eingespart werden und die Reaktion im Durchschnitt 12 Tage schneller erfolgt. Im Osten des Tschad wurden beispielsweise vorsorglich Nahrungsmittellieferungen bereitgestellt, um auf die Unpassierbarkeit wichtiger Straßen von der Hauptstadt aus vorbereitet zu sein. Die regionalen Unicef-Lieferzentralen in Accra in Ghana und Douala in Kamerun ermöglichen es, wichtige Hilfsgüter in großen Mengen zu bestellen und in der Region zu lagern. Das verringert den Zeit- und Kostenaufwand bei der Bestellung von Hilfsgütern.

Und längerfristig?

Da ist es extrem wichtig, klimaresistente Infrastrukturen aufzubauen. Es geht zum Beispiel darum, dass Wasserstationen vor den oft mit Schmutz und Fäkalien belasteten Fluten effektiv geschützt werden. Wo wir dies schon tun konnten, etwa in den Regionen Gao und Mopti in Mali, blieb die Wasserversorgung auch bei den jüngsten Überschwemmungen intakt. Aber dazu brauchen wir enorme Mittel.

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