Analyse zum Artenschutz: Ohne gesellschaftliche Umwälzungen geht es nicht

Der Weltbiodiversitätsrat hat mehr als 7000 Studien ausgewertet. Das Ergebnis: Einzelmaßnahmen werden die Artenvielfalt nicht retten. Es braucht einen grundlegenden gesellschaftlichen Wandel, um die Basis unseres Wohlstands und unserer Gesundheit zu erhalten.

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ein braunweißes Alpaka steht auf einer Gebirgswiese mit hohen felsigen Bergen im Hintergrund

Man könnte verzweifeln: Überall ist Krise. Mehr als fünfzig Jahre sind vergangen, seit Wissenschaftler erstmals laut warnten, dass fossile Energien einen existenzbedrohenden Klimawandel auslösen. Mittlerweile spüren wir die Prognosen von damals immer häufiger im Alltag. Die Artenkrise ist etwas hintendran: Noch beeinträchtigen die Folgen nur bestimmte Menschen und Regionen. Doch auch hier ist es nur eine Frage der Zeit, bis weltweit Wohlstand und Gesundheit der Mehrheit leiden.

Der Weltbiodiversitätsrat IPBES hat deshalb mehr als hundert Spitzenforscher aus 42 Ländern gebeten, mehr als 7000 wissenschaftliche Studien zu Artensterben und Ökosystemverlust auszuwerten. Daraus entstanden ist das Transformative Change Assessment, ein Bericht, der Ursachen, Zusammenhänge, Folgen und Lösungen beleuchtet. Seine Kernbotschaft lautet: Die aktuellen Wirtschaftsmodelle und Denkweisen zementieren den Artenverlust und die Zerstörung der Ökosysteme. Ein tiefgreifender sozial-ökologischer Wandel hingegen könnte allein bis zum Jahr 2030 weltweit fast 400 Millionen Arbeitsplätze schaffen und wirtschaftliche Werte von mehr als 10 Billionen Euro generieren.

Wie bewertet der Bericht die aktuelle Situation?

Derzeit sind rund eine Million Arten vom Aussterben bedroht. Für riesige Ökosysteme drohen unumkehrbare Kipppunkte: So könnte der Amazonas-Regenwald sterben und sich in eine Steppe verwandeln, wenn er weiter schrumpft. Der anhaltende Klimawandel könnte das Eis in der Westantarktis schmelzen lassen und das wärmere Klima sowie die versäuerten Ozeane bringen Korallenriffe dazu, zusammenzubrechen.

Weshalb sind Artenvielfalt und Ökosysteme für die Menschheit so bedeutsam?

15 Prozent des weltweiten Bruttoinlandsprodukts hängen dem IPBES zufolge direkt von der Natur ab. Das entspricht rund 13 Billionen Euro. Das World Economic Forum schätzt, dass jährlich mehr als zehn Billionen Euro durch Umweltzerstörung verloren gehen, etwa durch Ernteausfälle, Hochwasserschäden und Gesundheitskosten.

Würden die genannten Kipppunkte überschritten, hätte das katastrophale Folgen für die Ernährungssicherheit, die Wasserverfügbarkeit und das Klima. Das würde Ressourcenkriege und große Migrationsbewegungen nach sich ziehen, ganz zu schweigen von gesundheitlichen Konsequenzen.

Konkret können abgeholzte Wälder kein weiteres CO2 speichern und damit nicht mehr zum Klimaschutz beitragen. Das Eindringen der Menschen in natürliche Lebensräume und deren Zerstörung fördern Zoonosen, also von Tieren stammende Erkrankungen, die auf den Menschen überspringen. Beispiele dafür sind Covid-19 und Ebola. Das Insektensterben verringert die Bestäuberleistung der Tiere und damit die Erträge in der Landwirtschaft.

Obendrein sind – wie schon beim Klimawandel – die wohlhabenden Staaten für den größten Umweltverbrauch verantwortlich. Am stärksten von den Folgen betroffen sind aber zunächst die ärmsten Länder. Ähnlich verhält es sich innerhalb der Bevölkerungsgruppen eines Staates zwischen Arm und Reich.

runde Fischzuchtanlagen in einem Meeresarm vor einer bergigen Küste
Aquakulturen in den Lofoten

Welche Ursachen sieht der Bericht für die Artenkrise?

Als Hauptursachen für den Biodiversitätsverlust nennen die Fachleute des IPBES, dass natürliche Ressourcen übernutzt werden, die Menschen sich zunehmend von der Natur entfremden, Macht und Wohlstand ungleich verteilt sind sowie dass sich viele Menschen und Unternehmen auf kurzfristige, materielle und individuelle Vorteile fokussieren.

Weltweit gibt es jährlich rund 1,8 Billionen Euro an umweltschädlichen Subventionen, etwa für fossile Brennstoffe und die industrielle Landwirtschaft. Gleichzeitig erweisen sich freiwillige Nachhaltigkeitsmaßnahmen oft als ineffektiv. So sind bis heute weniger als 15 Prozent der globalen Fischerei zertifiziert nachhaltig. Die Verbraucher merken davon wenig, denn Umweltkosten sind selten in den Marktpreisen enthalten, es fehlt der Lenkungseffekt durch ehrliche Preise.

Was ist neu an der Sichtweise des Berichts?

„Zum ersten Mal identifiziert ein IPBES-Bericht die Grundursachen der Biodiversitätskrise, beispielsweise die weltweit zunehmende Konzentration von politischem Einfluss und Vermögen und die Entfremdung der Menschen von der Natur, die unter anderem durch koloniales Denken befördert wird“, sagt Tobias Plieninger, Leiter des Fachgebiets 'Sozial-ökologische Interaktionen in Agrarsystemen’ an der Universität Göttingen und Leitautor des Assessments. „Solche Faktoren sind schwer zu überwinden, stellen aber den Kern der Biodiversitätskrise dar.“ Der Bericht entwickle aber auch eine positive Vision für Mensch und Natur und zeige eine Vielzahl von Handlungsoptionen auf, wie ein transformativer Wandel hin zu mehr Nachhaltigkeit gelingen könne.

„Der Bericht fordert explizit einen sozial-ökologischen Fokus auf Transformation. Das ist wichtig für Entscheidungsträger:innen, denn es heißt, Naturschutz anders zu denken“, erläutert Marion Mehring, Leiterin des Forschungsfelds Biodiversität und Gesellschaft am Institut für sozial-ökologische Forschung, die nicht am Bericht beteiligt war. Vorgeschlagen werde ein Naturschutz, der nicht nur in Schutzräumen stattfindet. „Das macht schon deshalb Sinn, weil wir aus der Vergangenheit gelernt haben, dass Naturschutzgebiete nicht immer ein Garant für Biodiversität sind“, sagt die Forscherin. Stand der Wissenschaft sei heute, Natur und Gesellschaft wieder näher zusammenzubringen. „Das heißt: Naturschutz sollte nicht länger als das Gegenteil von Naturnutzung verstanden werden“, betont Mehring. „Für einen künftigen Naturschutz bedeutet das, auch andere Nachhaltigkeitsziele oder Gerechtigkeitsfragen zu berücksichtigen.“ Diese gesellschaftlichen Aspekte seien bisher beim Naturschutz zu kurz gekommen.

Ein Punkt kommt der Expertin jedoch zu kurz: „Im ‚Faktencheck Artenvielfalt Deutschland‘ haben wir gezeigt, dass es notwendig ist, sich auch mit umstrittenem Wissen zu befassen und nicht nur mit Wissenslücken oder mit einer besseren Berücksichtigung von lokalen oder indigenen Wissensträger:innen.“ Wissen sei immer mit Werten und Emotionen verknüpft und somit in einen sozialen Kontext eingebunden. Das müsse auch berücksichtigt werden. Denn, so Mehring: „Wissen allein erzeugt noch kein Engagement, sondern kann auch Angst und Skepsis hervorrufen, wenn wir zum Beispiel an Wildtiere oder invasive Arten denken.“

Drei Männer und drei Frauen sitzen auf einem Podium, im Hintergrund an der Wand Symbole afrikanischer Tier- und Pflanzenarten
Auf der 11. Plenarsitzung des IPBES im Dezember 2024 in Namibia wurde das Transformative Change Assessement offiziell verabschiedet.

Welche konkreten Lösungen schlagen die Forscher vor?

Der Bericht rät dazu, Landwirtschaft, Fischerei, Forstwirtschaft, Infrastruktur und Stadtentwicklung grundlegend umzugestalten. Schädliche Subventionen sollten abgebaut, CO2-Steuern und Kreislaufwirtschaft eingeführt werden. Landwirtschaft sollte regenerativ arbeiten sowie mit Permakulturen und Agroforstsystemen. Schutzgebiete und indigene Rechte haben sich als Strategien bewährt. Außerdem sollte ein nachhaltiger Konsum durch Öffentlichkeits- und Bildungsarbeit gefördert werden. „Der Bericht zeigt zum Beispiel, dass die Abschaffung, die schrittweise Einstellung oder Reform von Subventionen für Wirtschaftssektoren, die für den Verlust der biologischen Vielfalt verantwortlich sind, möglich und wirksam ist, wenn sie mit einer sektorübergreifenden Koordinierung einhergeht“, resümiert Mehring. Das unterstreicht auch Plieninger: „Eine besonders wichtige Maßnahme ist der Abbau umweltschädlicher Subventionen, die auch in Deutschland etwa im Agrar- und Verkehrssektor in großem Umfang vorhanden sind.“

Als Anregung verweist der Bericht gern auf indigene Gemeinschaften, die wesentlich nachhaltiger leben und weltweit 40 Prozent der ökologisch intakten Landschaften verwalten. Gemeint ist damit keineswegs, auf die Bäume zurückzukehren. Vielmehr geht es darum, naturverbundene Methoden mit Hightech zu verbinden. Die Sami in Skandinavien etwa managen ihre Rentierherden mit GPS-Tracking und Drohnen. Die Zapatisten in Mexiko setzen auf Permakultur und Agroforstsysteme. Die Haida in Kanada nutzen moderne Technologien, um Waldökosysteme zu erhalten und trotzdem forstwirtschaftlich zu nutzen.

Weitere Säulen sind rechtliche und gesellschaftliche Strukturen. Costa Rica hat Ökosystemleistungen in seiner Wirtschaftsstrategie integriert. Die Regierung hat der Bestäubung durch Insekten, dem Erholungswert von Wäldern oder der Filterleistung des Bodens einen monetären Wert zugewiesen. Die EU hat über das Lieferkettengesetz erstmals Unternehmen zu gewissen Nachhaltigkeitsstandards verpflichtet. Zertifikate wie Fairtrade oder MSC fördern nachhaltige Produktionsmethoden. Frankreich hat Einwegplastik verboten. Schwedische Schulen veranstalten Outdoor-Unterricht, um die Naturverbundenheit zu stärken. Das Unternehmen Patagonia verkauft nicht nur neue Kleidung, sondern repariert gebrauchte Textilien. Filme wie „Unser Planet“ erweitern das Bewusstsein für die Artenkrise.

Wie stehen die Chancen, dass besserer Artenschutz umgesetzt wird?

Bereits im Dezember 2022 verpflichteten sich die Unterzeichnerstaaten des Abkommens von Montréal, dringende Maßnahmen zum Schutz der Biodiversität zu ergreifen. Besonders hervorgehoben wird das 30×30-Ziel: Bis 2030 sollen 30 Prozent der weltweiten Land-, Wasser- und Meeresflächen unter Schutz gestellt werden.

„Das neue EU-Gesetz zur Wiederherstellung der Natur bietet gerade in Europa in den nächsten Jahren hervorragende Möglichkeiten, den Schutz und die Regeneration von Natur mit den vielfältigen Wertvorstellungen und Nutzungsansprüchen der Menschen zu verbinden“, nennt Plieninger ein Beispiel, bei dem er zuversichtlich ist. Insgesamt jedoch ist der Experte eher skeptisch: „Es besteht eine gewaltige Fallhöhe zwischen dem transformativen Wandel, den unser Bericht für nötig erachtet und der in der politischen Diskussion in Deutschland oft zu beobachtenden Verweigerung jeglicher Veränderungsbereitschaft.“ Dies sei nicht leicht zu überbrücken. Deshalb fordern auch in Deutschland gerade zahlreiche Wissenschaftler:innen, der Klima- und Naturschutz müsse Priorität in den Koalitionsverhandlungen haben.

Doch auch für Menschen, die Argumente wie Gesundheit und Gerechtigkeit nicht überzeugen, gibt es noch eine Botschaft aus zahlreichen Studien: Jeder Euro, der heute in den Artenschutz investiert wird, erzeugt das Zehnfache als Rendite.

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