Zwischen Weiherkette und Stromwasser

Gerhard Richter taucht ein in die Flußlandschaft seiner Kindheit und entdeckt zwischen Iller und Illerkanal einen ganz neuen Bach.

von Gerhard Richter
8 Minuten
Ein Fluss mit Bäumen im Hintergrund [AI]

Der Illerkanal ist eine Lebensader für diese Voralpenregion, aber er wirkt einfach nur lang und tot. Immer noch. Seit meiner Kindheit ist mir dieses Gewässer unheimlich. Jetzt stehe ich auf der Kanal-Brücke und starre hinunter aufs Wasser. Zum ersten Mal schaue ich mir diesen Kanal genauer an, lasse ihn auf mich wirken. Die Wasseroberfläche ist glatt und die Umgebung spiegelt sich auf kuriose Weise darin. Die beiden Dämme des Kanals führen das Wasser nämlich in einer unnatürlichen Höhe, an den Kronen der Bäume vorbei. Das Wasser scheint dem Himmel näher als der Erde. Die Wolken treiben als Spiegelbild im Kanal mit, bis sie am Ende der Biegung, weit hinten am Stauwehr, mitsamt der trägen Flut in die Turbine stürzen. Bis dahin langweilt sich das Wasser in seinem Hochbett. Es gähnt.

Acht Jahre lang habe ich diesen Kanal an jedem Schultag zweimal mit dem Fahrrad überquert. Morgens auf dem Weg zum Gymnasium und nachmittags wieder zurück. Morgens hatte ich keinen Blick für die Besonderheiten dieses Wasserlaufs, ich war ja meistens viel zu spät dran und musste heftig in die Pedale treten, wie ein Tour de France-Radler beim Endspurt. Und nachmittags? Da hatte ich eher die Muße einen Blick aufs Wasser zu werfen. Aber der Illerkanal gab nicht viel her. Er war immer still und lauernd, über seinem Wasser kräuselte sich oft ein unheimlicher Nebel, als dünste er etwas aus, das man ungern einatmete. Niemals keimte in mir der Wunsch, dort baden zu wollen. Kein Angler saß am Ufer und wenn auf dem Damm ein Spaziergänger zu sehen war, dann umwehte ihn der beklemmende Verdacht, er wolle sich umbringen.

So wie Herr H….

Er hat sich – so wurde es mir als Kind erzählt – im Illerkanal ertränkt. Es war das erste Mal, dass ich das Wort “ „Depression“ gehört habe. Und den Begriff: “Ins Wasser gehen“. Illerkanal und Schwermut sind seitdem eins. Von allen Gewässern der Gegend hat der Illerkanal mit seiner Trübsinnigkeit zweifellos die größte Anziehungskraft auf Menschen, die aus dem Leben scheiden wollen. Wenn jemand eine passende Stelle sucht, um „ins Wasser zu gehen“, dann findet er sie an der eintönigen, immer kurzgemähten Böschung.

Ich überlege, warum auch ich mich jetzt am Kanal so unwohl fühle. Mir scheint, als gehorche dieses menschgemachte Element der Landschaft einer dunklen Macht. Tatsächlich ist das gestaute Wasser schon verplant. Ufer, Gras und Wasser haben nur einen einzigen Zweck. Es ist nach dem Willen der Ingenieure Strom, nur noch nicht umgewandelt. Auf eine unerklärliche Art hat der ganze Kanal, wie er auf die Turbine zuläuft, seine Kraft als lebendiges Gewässer abgegeben. Jeder Tropfen, jedes Molekül weiß, dass es bald in die Turbine stürzt. Es ist lediglich Stromwasser. Dieses Gewässer steht unter totaler Kontrolle, völlig losgelöst von Wetter und Jahreszeit rückt das Wasser in Zeitlupe vor, resigniert und reizlos. Unfähig, sich gegen die Fronarbeit aufzubäumen und über die Ufer zu schäumen. Dabei wird dieses Wasser von Millionen Lebewesen ersehnt. Zur Linken des Illerkanals begleitet nämlich ein Wäldchen den Damm. Etwa 200 Meter breit und bestimmt 20 Kilometer lang. Während die Wurzeln der Erlen und Eichen sich tief in die Erde strecken müssen, um an Wasser zu kommen, fließt es in Höhe der Äste an ihnen vorbei. Der Illerkanal ist ein technisches Denkmal und ein ökologisches Trauerspiel. Sicherlich der traurigste der Flussläufe im Illertal. Heute will ich drei dieser Flussläufe von ihnen beschreiben, sie liegen sehr dicht beieinander. Alle sind von Menschenhand geprägt und das hat ihr Wesen gründlich verändert.

2. Fluß: Die Iller

Gleich nebenan – nur zweihundert Meter entfernt und parallel zum trübsinnigen Kanal – rauscht hell und lebensfroh die Iller. Sie kommt aus den Alpen und trägt den amtlichen Stempel „Wildfluss“. Aber der Mensch hat ihre Wildheit gezähmt, und somit ist die Geschichte der Iller fast ebenso traurig, wie die des Kanals.

Als Kinder und Jugendliche verbrachten wir ganze Nachmittage auf den Kiesbänken am Ufer. Das Wasser war immer kalt, auch im Sommer, weil es ein paar Tage vorher noch Schnee war oder Eis. Es war herrlich, sich gegen die Strömung zu stemmen oder sich mittreiben zu lassen. Und in den Uferweiden hing ein würziger Duft nach Algen und nassem Stein. Am Ufer lag Schwemmholz vom letzten Hochwasser, hart und ausgebleicht wie Knochen. In den Ästen hingen vertrocknete Grasbüschel, so wild und zerzaust wie unsere Frisuren in den Sommerferien.

ein Fluss mit einem kleinen Wasserfall [AI]
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