Hauptsache steil: Auf der Suche nach dem Mauerläufer

Die prächtigen Mauerläufer leben verborgen im Hochgebirge. Doch im Winter ziehen sie in die Niederungen. Einzelne von ihnen sind dann auch in Siedlungen anzutreffen – theoretisch.

vom Recherche-Kollektiv Flugbegleiter: Markus Hofmann
10 Minuten
Ein Mauerläufer zeit an einer Felswand sitzend seine rot-schwarz-weissen Flügel.

Die absurde Seite des Vogelbeobachtens wird mir bewusst, als ich die Bahn verlasse. Etwas mehr als eine Stunde bin ich in eine Stadt gefahren, um einen etwa 16 Zentimeter grossen und rund 18 Gramm schweren Vogel zu finden. Die Stadt erstreckt sich auf immerhin 15 Quadratkilometer und zählt 16.000 Einwohner. Zudem hängt gerade eine dunkelgraue Hochnebeldecke über dem Land. Obwohl es erst Mittag ist, habe ich den Eindruck, dass bald die Dämmerung anbricht. Kalt ist es auch: die Temperatur liegt um den Gefrierpunkt – nicht eben die besten Bedingungen für die Vogelbeobachtung.

Immerhin weiss ich, wo ich nach dem Vogel suchen muss. Vögel sind allerdings äusserst bewegliche Lebewesen. Sie können immer hier und anderswo sein. Und selbst wenn sie dort sind, wo man sie erwartet, bedeutet dies noch lange nicht, dass man sie auch sieht.

Ein perfekter Kletterer

Je stärker der Vogel auf einen bestimmten Lebensraum angewiesen ist, desto leichter fällt die Suche. Zumindest in der Theorie. Der Mauerläufer, den ich finden möchte, gehört zu diesen spezialisierten Vogelarten. Er hält sich am liebsten an Felswänden auf. Steil müssen sie sein. Dank seiner langen und spitzen Krallen erklimmt er problemlos senkrechte und sogar überhängende Felsen. An diesen geht der Mauerläufer auf die Jagd und stochert mit seinem feinen und gebogenen Schnabel in Ritzen und Spalten nach Insekten und Spinnen.

1000 bis 2500 Mauerläufer-Brutpaare leben in der Schweiz. Das entspricht 1,4 bis 3,5 Prozent des europäischen Bestandes; ziemlich viel für so ein kleines Land wie die Schweiz. Die grosse Mehrheit der Mauerläufer hält sich hier in einer Höhe zwischen 1600 und 2800 Metern auf, weshalb vor allem Bergsteiger und Freestyle-Kletterinnen zu den Glücklichen gehören, die den Mauerläufer zu Gesicht bekommen. Nicht-kletterfreudige „Unterländer“ und Städter wie ich warten am besten auf den Winter.

Denn ab dem Herbst, wenn die Nahrung in den hohen Bergen knapp wird, weichen Mauerläufer in die Niederungen aus. Die Mauerläufer gehören zu den Teilziehern unter den Zugvögeln. Nicht alle verlassen ihr Brutgebiet im Winter, aber ausreichend viele um sie dann ausserhalb ihres hochgebirgigen Stammgebietes zu sehen. Ab Oktober tauchen sie gar in Siedlungen auf und tauschen das Gebirge gegen Gemäuer ein.

Ein Turm des Schloss Burgdorf wird von einem grossen Berner Wappen geziert.
Im Winterhalbjahr ziehen die Mauerläufer in die Niederungen und halten sich immer wieder an historischen Gebäuden auf wie hier am Schloss Burgdorf in der Schweiz.

In Burgdorf, das unweit von Bern auf etwas über 500 Meter Höhe an den Ausläufern der Berner Alpen liegt, hält sich regelmässig ein Mauerläufer rund um das mittelalterliche Schloss auf, das von einem Felsen herab auf die Altstadt schaut. Dass man im Winter mehrere Mauerläufer gleichzeitig zu sehen bekommt, ist unwahrscheinlich. In der kalten und nahrungsarmen Jahreszeit wird der Mauerläufer zum Einzelgänger. Dafür bleibt er seinem Territorium treu, was die Chance erhöht, ihn auch wirklich dort anzutreffen.

Das Drama im Namen

Ich bin ebenfalls alleine unterwegs. Da nicht nur ein trüber Sonntag, sondern auch noch ein Pandemie-bedingter Shutdown herrscht, und damit neben den Läden auch die Restaurants und Cafés geschlossen sind, wirkt die Stadt wie ausgestorben. Doch der Mauerläufer bringt alles mit, um die Corona-Tristesse aufzuhellen. Denn er ist nicht nur wegen seines Lebensraums eine besondere Vogelart, sondern auch wegen seines Äusseren.

Um es kurz zu machen: Der Mauerläufer ist einer der schönsten Vögel Mitteleuropas. Sein schlichter deutscher Name ist seiner Pracht eigentlich nicht angemessen. Passender, da vielversprechender hört sich sein wissenschaftlicher Name an: Tichodroma muraria. Übersetzt bedeutet dies zwar auch nichts anderes als Mauerläufer. Die Anmutung ist aber eine ganz andere: Ticho-droma. Da schwingt das Drama schon mit.

Beispielhaft dafür steht dieser kleine Vogel am Beginn tragischer Ereignisse im Roman „Der Mauerläufer“ der amerikanischen Schriftstellerin Nell Zink. Ein Vogelliebhaber verursacht beim Anblick des Mauerläufers in den Berner Alpen einen Autounfall, wodurch seine Frau und Beifahrerin eine Fehlgeburt erleidet. Man kann es sich denken: Die Geschichte wird in der Folge nicht viel fröhlicher.

Ein Mauerläufer klettert eine steile Felswand hoch.
Wenn der Mauerläufer seine Flügel geschlossen hält, ist er in seinem grauen Kleid gut getarnt.

Auf den ersten Blick würde man dem Mauerläufer diese Wirkung nicht zutrauen. Er gleicht dem Kleiber: Statt in orange-blau ist er einfach in unscheinbarem Grau gehalten. Doch hat der Mauerläufer erst einmal seine Flügel entfaltet, schlägt einem seine ganze Schönheit entgegen. Dann führt er seine Tarnung im grauen Kleid geradezu ad absurdum. Das unscheinbare Aschenbrödel verwandelt sich in eine Prinzessin, die gekleidet ist in eine leuchtend rot-schwarze Robe mit knallweissen Punkten an der Bordüre.

Die Geode unter den Vögeln

Manche nennen den Mauerläufer das Edelweiss unter den Bergvögeln. Ich vergleiche ihn mit einer Geode, diesem grauen Steinknollen, der in seinem Innern funkelnde Quarze verbirgt. Ein solcher Edelstein unter den Vögeln würde mich oben am Schloss in Burgdorf erwarten.

Ich bleibe zunächst ausserhalb der Schlossmauern. Ein Weg führt nördlich am Schloss vorbei, dazwischen liegt der teilweise mit Gebüsch zugewachsene Schlossgraben. Der Schnee knirscht unter den Schuhen. Ich suche nach verdächtigen Bewegungen an der Schlossmauer. Nach einem Huschen und Hüpfen. Sitzt der Mauerläufer ruhig an der Mauer, ist er wegen seines grauen Gefieders kaum zu erkennen, geschweige denn, wenn er sich in einer Spalte versteckt.

Die nördliche Seite des Schlosses von Burgdorf wird von einem Schlossgraben begrenzt.
Der kleine Vogel könnte überall und nirgends sein: Wenn er still sitzt, ist er in seinem grauen Gefieder kaum zu erkennen.

Ich erkenne nichts. Keine Bewegung. Mit dem Fernglas schweife ich langsam übers Gemäuer. Nichts. In meinem Rücken beginnt eine Kohlmeise zu zwitschern. Ich betrete über die Ziehbrücke die Schlossanlage, schaue die Türme hinauf. An der Linde im Hof hängt ein verlassener Nistkasten. Rabenkrähen umkreisen den Schlossfelsen. Vom Mauerläufer keine Spur.

Vögel suchen ist wie Lotto spielen

Auch wenn die Chance gering war, dass sich der Mauerläufer genau dann am Schloss aufhält, wenn ich mich dort rumtreibe, bin ich doch etwas enttäuscht. Es ist wie beim Lottospielen: Die Wahrscheinlichkeit auf einen Gewinn ist verschwindend gering. Und dennoch hat man jedes Mal das Gefühl: Jetzt klappt es.

Glücklicherweise gibt es in Burgdorf noch eine weitere Stelle, wo sich der Mauerläufer gerne aufhält. Dem Schloss gegenüber, auf der anderen Seite der Emme, dem Fluss, der dem Emmental und dem gleichnamigen Käse den Namen gegeben hat, ragen vier Sandsteinfelsen in die Höhe: die „Gysnauflühe“.

Für den Mauerläufer sind es vom Schloss dorthin ein paar Flügelschläge. Ich aber muss den steilen Schlosshügel hinuntersteigen und dann über eine schneebedeckte Wiese an den Stadtrand zur Emme spazieren. Für einen besseren Überblick bleibe ich auf dem der „Gysnauflühe“ gegenüberliegendem Ufer. Die Felsen stehen unter Naturschutz.

Die Felsabstürze bei Burgdorf sind rund 60 Meter hoch und von einem alten Wald umgeben.
Die Gysnauflühe bei Burdorf: ein ideales Winterquartier für den Mauerläufer.

Ich suche die 60 Meter hohen sandsteingelben Felsabstürze ab. Den Kopf in den Nacken gelegt und das schwere Fernglas vor Augen fliesst mir schmerzend das Blut aus den Armen. Vom Mauerläufer auch hier keine Anzeichen. Eine Mäusebussard-Patrouille fliegt mir durchs Bild. Plötzlich knirscht es rau mitten im Fluss gleich vor mir. Und ein eisernes Gesetz des Vogelbeobachtens bestätigt sich: Man sieht immer etwas Interessantes, auch wenn es nicht das Gewünschte ist.

Vogel im Wasser statt am Berg

Auf einem der Steine, die ein paar Zentimeter aus dem Fluss ragen, ist von blossem Auge ein weisser Fleck erkennbar. Dort liegt die Quelle des knirschenden Gesangs. Der Blick durch das Fernglas bestätigt die Vermutung: die helle Brust und Kehle einer sonst braun gefärbten Wasseramsel. Wie es typisch ist für diese Art, vollführt sie immer wieder Knickse. Statt dass ich senkrechte Felswände nach dem Mauerläufer absuche, schaue ich nun aufs Gewässer und gebannt der Wasseramsel zu, wie sie ihren Kopf ins eisige Wasser der Emme taucht.

Eine Wasseramsel steht auf einem Stein mitten in einem Gewässer.
Auch eisiges Wasser macht der Wasseramsel nichts aus. Mit ihrer rauen Stimme macht sie auf sich aufmerksam.

Die Wasseramsel-Beobachtung ist eine schöne Entschädigung für den ausbleibenden Mauerläufer. Doch ich gebe nicht auf. Nochmals suche ich die Felsen ab. Ein Fleck weit oben entpuppt sich bei näherer Betrachtung als Wanderfalke. Er sitzt regungslos auf einer Felskante. Der Mauerläufer passt ins Beuteschema dieses Greifvogels. Gut, wenn der in der Nähe ist, würde ich mich als Mauerläufer auch rarmachen, denke ich, und breche die Suche ab.

Viadukt und Steinbruch: Ersatzgebirge für den Mauerläufer

Einen weiteren Versuch, den Geoden unter den Vögeln zu sehen, unternehme ich ein paar Tage später in Saint-Ursanne. Das Mittelalter-Städtchen im Kanton Jura, nahe der französischen Grenze und idyllisch am Doubs auf 440 Meter Höhe gelegen, ist in der Schweiz ebenfalls als winterlicher Mauerläufer-Hotspot bekannt. Nach zwei Stunden Fahrt von Zürich erreicht der Zug den Bahnhof über einen hohen, steinernen Viadukt. Hinter dem Bahnhof steigt ein Steinbruch an. Gutes Ersatzgebirge für den Mauerläufer ist also reichlich vorhanden. Ich bin der einzige, der in dieser westlichen Ecke der Schweiz aus der Bahn steigt.

Das Städtchen Saint-Ursanne liegt am Doubs im Kanton Jura (Schweiz).
Saint-Ursanne, im Westen der Schweiz und nahe der französischen Grenze gelegen, ist bekannt als beliebter Aufenthaltsort des Mauerläufers.

Sehr langsam gehe ich den Gleisen entlang und schaue angestrengt in die Felswand neben dem Bahnhof. Ein graues Etwas lässt mein Herz kurz rascher schlagen. Fehlalarm: ein Rotkehlchen.

Nach wenigen Minuten erreiche ich das Besucherzentrum des „Felslabors Mont-Terri“. Während ich auf eine zumindest flüchtige Begegnung mit dem Mauerläufer hoffe, sind hier tief im Innern des Berges Wissenschaftler aus verschiedenen Ländern, auch aus Deutschland, der Ewigkeit auf der Spur. Seit Jahren suchen sie nach Möglichkeiten, wie man Atommüll für Hunderttausende von Jahren sicher im Tongestein vergraben könnte. Wegen Corona hat das Besucherzentrum geschlossen. Nebenan brennt in einem schmucklosen Bürogebäude Licht.

Eine zuckende Fledermaus im Winter?

Manche vergleichen den Flug des Mauerläufers mit demjenigen des Schmetterlings. Doch der schwarze Fleck, den ich am Rande meines linken Auges wahrnehme, erinnert mich zunächst an eine Fledermaus. Diese Winterschläferin wäre hier allerdings an einem kalten Tag im Januar definitiv am falschen Ort. Das flatternde Zucken kann also eigentlich nur der Mauerläufer sein!

Ein Mauerläufer fliegt einer Felswand entlang.
Im Flug erinnert der Mauerläufer wegen seiner runden Flügel an den Wiedehopf – wenn da nicht dieses Rubinrot wäre.

Da klebt er schon an der Hauswand und klettert rasch und mühelos wie ein Gecko in die Höhe. Anders als Spechte und Baumläufer, die ebenfalls sehr geschickte Kletterer sind, benötigt er dazu keinen Stützschwanz. Er schafft dies mit seinen feinen, spitzen Krallen sowie der Verlagerung seines Körperschwerpunktes zur Wand hin.

„Hallo, hier bin ich.“

Dann streckt er kurz seine Flügel aus, als ob er sie dehnen wollte. Wie eine Signallampe leuchtet das Rot zwischen den schwarz-weissen Flügelspitzen und dem grauen Rücken auf. Das regelmässige Flügelzucken ist eine Eigenart des Mauerläufers, wie man es sonst von Laubsängern kennt. Es dient wohl der artinternen Kommunikation: „Hallo, hier bin ich.“ Und uns Menschen hilft dieses Verhalten, die Mauerläufer überhaupt zu sehen.

Husch – schon verschwindet der Mauerläufer in einem Spalt unter dem Dach. Kurz danach guckt er mit seinem vorwitzig langen Schnabel nach draussen. Ob es ein Weibchen oder ein Männchen ist, kann ich nicht erkennen. Der beobachtete Mauerläufer trägt ein weisses Kehl- und Brustkleid. Doch dies tun zu dieser Jahreszeit beide Geschlechter. In der Mauser zum Prachtkleid verfärben sich ab Februar beim Männchen Kehle und Brust schwarz.

Ein graues, unverputztes Backsteingebäude beim Bahnhof in Saint-Ursanne, an dem immer wieder der Mauerläufer zu beobachten ist.
Viel schmuckloser als dieses Gebäude geht es nicht mehr, doch das stört den Mauerläufer in Saint-Ursanne nicht. Wie ein Gecko klettert er die Fassade hoch.

Der Mauerläufer lässt sich fallen und fliegt mit seinen runden Flügeln, die an den Wiedehopf erinnern, an die Wand des gegenüberliegenden Gebäudes. Mehrere Minuten kann ich ihn beobachten, bis er sich wiederum unter dem Dach versteckt. Eine Weile warte ich ab, ob er wieder hervorkriecht und nochmals sein grau-rot-schwarz-weisses Gefieder zeigt. Auch suche ich im Steinbruch hinter dem Haus nach ihm. Vielleicht ist er unbemerkt dorthin geflogen. Doch von Tichodroma m. ist kein Zucken mehr zu erkennen.

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Im Gegensatz zur Schweiz ist der Mauerläufer in Deutschland extrem selten. In den bayrischen Alpen brüten 80 bis 120 Paare. Im Winter sind die Mauerläufer in tieferen Lagen, zum Teil fernab von Gebirgen anzutreffen. Mein Flugbegleiter-Kollege Thomas Krumenacker fand ihn einmal an der Konstantin-Basilika in Trier. Das Backstein-Gebäude aus dem 4. Jahrhundert diente einem Vogel als standesgemässe Bleibe über mehrere Winter hinweg.

Dem neuen europäischen Brutvogelatlas zufolge ist der Bestand in der alpinen Region, in Deutschland, Österreich und der Schweiz stabil. Insgesamt aber steht der Mauerläufer in Europa unter Druck, insbesondere in den Pyrenäen, dem Apennin und den Karpaten. Was die Gründe dafür sind, ist nicht restlos geklärt. Veränderte klimatische Verhältnisse könnten eine Rolle spielen, aber auch menschliche Freizeitaktivitäten wie das Freestyle-Klettern an Felswänden, an denen Mauerläufer brüten.

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