Die Vogelmasse im Blick

Radargeräte tragen viel zur Erforschung und zum Schutz des Vogelzuges bei

vom Recherche-Kollektiv Flugbegleiter: Markus Hofmann
5 Minuten
Vögel ziehen als Siluetten vor dem blauen Himmel vorbei.

„Dieser grüne Kreis da könnte eine Möwe sein.“ Janine Aschwanden, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Schweizerischen Vogelwarte Sempach im Kanton Luzern, beugt sich am Tisch etwas vor, um die Grafik auf dem Computerbildschirm besser zu sehen. Auf einem blauen Hintergrund zeichnen sich einige grüne Kreise und rote Kreuze ab, die von rechts nach links über den Bildschirm wandern. „Grün bedeutet Vogel, rot Insekt“, sagt Aschwanden.

Die Quelle der grünen Kreise und roten Kreuze sieht aus wie ein Kühlschrank mit einem Eimer oben drauf und steht ein paar Hundert Meter von Aschwandens Büro entfernt auf dem Dach des Besucherzentrums der Vogelwarte, direkt am Ufer des Sempachersees. Dort sucht seit zwei Jahren ein von der Vogelwarte neuentwickeltes Radargerät den Himmel nach Flugobjekten ab, 24 Stunden pro Tag und sieben Tage die Woche. Die Echosignaturen, die der Radar empfängt, können die Forscher fast in Echtzeit an ihren Rechnern mitverfolgen. Automatisch werden die eingehenden Daten ausgewertet und grafisch aufbereitet. In vereinfachter Form kann auch die Öffentlichkeit die Radaraufzeichnungen auf den Seiten der Schweizer Informationszentrale für Ornithologinnen und Ornithologen (ornitho.ch) mitverfolgen.

Grün bedeutet Vögel, rot Insekten: Diese Daten übermittel das Radargerät auf die Computer der Ornithologen. Fast in Echtzeit lässt sich so der Vogelzug rund um die Uhr beobachten.
Grün bedeutet Vögel, rot Insekten: Diese Daten übermittel das Radargerät auf die Computer der Ornithologen. Fast in Echtzeit lässt sich so der Vogelzug rund um die Uhr beobachten.

Einzelne Vogelarten können mit diesem Radar allerdings nicht bestimmt werden. Die Bemerkung Aschwandens, dass es sich bei einem der grünen Flecken um eine Möwe gehandelt haben könnte, ist denn auch mehr eine von langer Erfahrung genährte Vermutung als eine exakte Bestimmung. Anhand der unterschiedlichen Flügelschlagmuster lassen sich aber Vogelgruppen voneinander unterscheiden. Sing-, Wasser- und Watvögel, Segler sowie Insekten können getrennt erfasst werden.

„Singvögel etwa fliegen eher in einem abgehackten Rhythmus, Wasservögel haben hingegen einen kontinuierlichen Flügelschlag. Das erkennt der Radar“, erklärt Janine Aschwanden. Noch nicht herausfiltern kann der Computer die Flugmuster der Fledermäuse. Mengenmässig spielen diese hier allerdings keine entscheidende Rolle. Im Vergleich zu durchziehenden Vögeln sind Fledermäuse deutlich in der Unterzahl und werden einstweilen der Vogelmasse zugerechnet.

„Die Radarstrahlen erfassen Vögel in einer Entfernung von bis zu 1500 Meter“, sagt Janine Aschwanden. Da Sempach rund 500 Meter über dem Meeresspiegel liegt, können demnach Vögel, die den Ort auf bis zu 2000 Meter überfliegen, erkannt werden. Zudem werden die Flugrichtung sowie die Geschwindigkeit der Tiere berechnet. „Die mittleren Flughöhen der Vogelgruppen, die Verteilung der Flugrichtung sowie die Zugintensitäten über das Jahr hinweg oder während eines Tages: Das sind Daten, die uns die Radaruntersuchungen liefern“, sagt Aschwanden.

Mit dem Radar in der Wüste

Die Schweizerische Vogelwarte verfügt über eine lange Erfahrung in der Radarornithologie. Vor 50 Jahren begannen Wissenschaftler, mit Radargeräten der Schweizer Armee Vögeln auf dem Zug nachzuspüren. Forschungsreisen mit den teilweisen schweren Radarmaschinen führten nach Israel und Mauretanien, beides Länder, die von vielen Vögeln während des Zuges überflogen und zur Rast genutzt werden. Über der westlichen Sahara etwa konnte zum ersten Mal der zeitliche und räumliche Verlauf des Vogelzugs gemessen werden. Die Ornithologen fanden heraus, dass die Vögel nachts zogen und am Tag in der Wüste rasteten. Mittlerweile ist der Radar zu einem festen Bestandteil der Zugvogelforschung geworden. Er ergänzt sowohl traditionelle Forschungsmethoden wie die Beringung oder die Sichtbeobachtung als auch moderne Ansätze wie die Ausstattung einzelner Vögel mit Minisendern.

Im Gegensatz zu diesen Methoden weist der Radar einen entscheidenden Vorteil auf: Mit seiner Hilfe lässt sich eine sehr grosse Zahl von Vögeln rund um die Uhr beobachten, ohne dabei die Tiere zu stören: „Fangen und Beringen der Vögel sind sehr aufwendig und vergleichsweise ineffektiv“, sagt Silke Bauer, Spezialistin für Vogelzug an der Vogelwarte: „Mit dem Radar kriegen wir die Biomasse in den Blick.“

Doch einzelne Radaranlagen bilden lediglich einen beschränkten Teil der Vogelbewegungen ab. Ideal wäre es, wenn ein Radarnetz über einen möglichst weiten Raum gespannt werden könnte. Genau dies hat das „European Network for the Radar Surveillance of Animal Movement initiiert, in dem Silke Bauer die Schweiz vertritt; auch Deutschland beteiligt sich daran. „Im Grunde verfügen wir ja bereits über ein europäisches Radarnetz“, sagt Silke Bauer: „Die Wetterradare der einzelnen Staaten überziehen den ganzen Kontinent.“

Meteorologen versus Ornithologen

Radarmeteorologen verfolgen allerdings andere Ziele als Ornithologen. An Daten von Tierbewegungen sind sie wenig interessiert, sie richten ihr Augenmerk auf die Niederschläge. Hinzu kommen staatliche Differenzen. Die meteorologischen Anstalten der verschiedenen europäischen Länder benutzen unterschiedliche Radarsysteme und Speichersysteme, so dass die erhobenen Daten des Vogelzugs nicht so ohne weiteres vergleichbar wären. Zudem müssen für eine Zusammenarbeit über ganz Europa hinweg viele bürokratische und rechtliche Hürden überwunden werden. Es wird daher voraussichtlich noch ein paar Jahre dauern, bis ein europäisches Radarnetz für die Zugvogelforschung Wirklichkeit ist.

Silke Bauer schaut derweil etwas neidisch in die USA, die solch zwischenstaatliche Probleme nicht kennen. Soeben ist eine Studie erschienen, die mithilfe von 143 amerikanischen Wetterradaren zum ersten Mal abschätzen konnte, wie viele Vögel während des Frühlings- und Herbstzugs über den USA unterwegs sind. Die Messungen zwischen 2013 und 2017 ergaben, dass während des Herbstzugs rund vier Milliarden Vögel die USA von Norden nach Süden und während des Frühjahrzuges rund drei Milliarden von Süden nach Norden überqueren.

„Die Potenziale und Anwendungsmöglichkeiten eines kontinentalen Radarnetzwerks in Europa wären gross“, sagt Silke Bauer. „Wir könnten wie die USA den Vogelbestand grossflächig erfassen und positive oder negative Veränderungen feststellen. Erforschen könnten wir zum Beispiel, wie sich die Lichtverschmutzung in den städtischen Gebieten oder Windkraftanlagen auf den Vogelzug auswirken.“ Auch die Flugsicherheit der Luftfahrt profitiere davon, wenn die Flugwege der Zugvögel genau bekannt seien. Zudem liessen sich Voraussagen anstellen über Krankheiten, die ziehende Vögel verbreiten. Und selbstverständlich wären solche Daten beim Naturschutz willkommen, um etwa Schutzgebiete für rastende Zugvögel zu schaffen.

Das Radargerät „Birdscan MR1“, eine Neuentwicklung der Schweizerischen Vogelwarte, sucht den Himmel über Sempach im Kanton Luzern ab. Derzeit läuft noch ein Versuch mit einer Videokamera, die gleich neben dem Radar angebracht und ebenfalls senkrecht nach oben gerichtet ist. Mit ihr versuchen die Ornithologen, einzelne Vogelarten zu bestimmen; etwas, das der Radar (noch) nicht schafft.
Das Radargerät „Birdscan MR1“, eine Neuentwicklung der Schweizerischen Vogelwarte, sucht den Himmel über Sempach im Kanton Luzern ab. Derzeit läuft noch ein Versuch mit einer Videokamera, die gleich neben dem Radar angebracht und ebenfalls senkrecht nach oben gerichtet ist. Mit ihr versuchen die Ornithologen, einzelne Vogelarten zu bestimmen; etwas, das der Radar (noch) nicht schafft.

Auch Radarmodelle wie dasjenige, das vom Dach der Schweizerischen Vogelwarte senkrecht in den Himmel guckt, finden neben der Forschung praktische Anwendung. Dieser Radar, der „BirdScan MR1“, ist weniger als zwei Meter hoch, ein Meter breit sowie rund 100 Kilogramm schwer und damit auch mobil einsetzbar, etwa bei Umweltverträglichkeitsprüfungen.

„Bei Bauprojekten für Windkraftanlagen hilft uns dieser Radar, die Gefahren für den Vogelzug zu beurteilen“, sagt Janine Aschwanden. „Üblicherweise beobachten wir dabei den Vogelzug mit dem Radar zwei Monate während den Hauptzugzeiten – sowohl im Frühling als auch im Herbst.“ Auf dem Grenchenberg, einem Teil der Jurakette im Kanton Solothurn, wurde nun ein solcher Radar fest installiert. In Zukunft steuert er dort die geplanten Windkraftanlagen: Erkennt der Radar, dass viele Vögel ziehen und Kollisionen drohen, schalten sich die Windräder automatisch ab.

Vom Vogelzug ist über Sempach an diesem sonnigen Nachmittag allerdings kaum etwas zu erkennen. Nur wenige grüne Kreise und rote Kreuze erscheinen auf dem Computer von Janine Aschwanden. In der Nacht, wenn viele Vögel in Richtung Süden ziehen, wird sich das Bild ändern. Die eine oder andere Möwe wird dann möglicherweise auch dabei sein.

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