Klimawandel essen Seele auf
Die globale Erwärmung greift die geistige Gesundheit an
Seine Hunde konnte der Texaner noch retten, sonst nichts. Nun sitzt er durchnässt, erschöpft und verzweifelt in einem Lastwagen der National Guard, die ihm zur Hilfe kam, als Hurrikan „Harvey" im August 2017 sein Stadtviertel in Houston überschwemmte.
Als der Wind nachließ, fingen die Probleme erst an. Hurrikan Harvey hatte Ende August in Houston seinen „landfall“ gemacht, war also mit Sturmgewalt über die texanische Metropole hergefallen. Aber dann blieb das Tiefdruckgebiet einfach stehen und regnete sich ab. Teilweise fielen mehr als 700 Millimeter Wasser in zwei Tagen. Stadtviertel standen unter Wasser, mehr als 100 Menschen fanden den Tod, viele Überlebende mussten aus ihren überfluteten Häusern gerettet werden. Fernsehstationen auf der ganzen Welt zeigten die dramatischen Bilder.
Vier Monate später wollten Gesundheitsforscher der örtlichen University of Texas in einer Umfrage wissen, wie es den Bürgern ging: Ob sie nervös oder unruhig waren, ob sie sich wert- oder hoffnungslos fühlten, ob sie Freude empfinden konnten oder ihnen alles mühselig erschien. Diese Fragen gehören zu einem validierten psychologischen Test, der vor einer seelischen Erkrankung wie Depression warnen kann. Anhand der Antworten, stellten die Wissenschaftler fest, zeigten 18 Prozent der Teilnehmer „Serious Psychological Distress“, also ernstzunehmende mentale Probleme – mehr als doppelt so viele wie in einer früheren Erhebung. Von jenen Texanern, die schwere Schäden an ihrem Haus erlebt hatten, bekam sogar fast die Hälfte diese Ferndiagnose. Denn mit dem Haus waren oft auch die sozialen Beziehungen in die Brüche gegangen – von den materiellen Schwierigkeiten ganz zu schweigen.
Nach dem Sturm habe alle Welt über die physischen Schäden gesprochen, sagt Stephen Linder vom Institute of Health Policy an der University of Texas. „Aber es gibt auch weniger sichtbare, psychische Schäden, die lange andauern und bei denjenigen mit beschädigten Häusern auch alles übertreffen, was wir je nach anderen Naturkatastrophen erlebt haben.“ Und wenn sich die Erfahrungen aus der kleinen niederbayrischen Stadt Simbach am Inn bestätigen, könnten diese Belastungen mit der Zeit sogar zunehmen.
Ganz andere Weltgegend, ähnliche Vorkommnisse: Fast zwei Jahre lang hatte der Mann die Bilder schon mit sich herumgetragen, bis er im April 2018 professionelle Hilfe suchte. Immer wieder durchlebte er die Szenen: Am 1. Juni 2016, als eine Wand von Regenwasser und Schlamm durch den bayerischen Ort Simbach raste, konnte er sich gerade eben noch auf den Dachboden seines Hauses retten. Von dort sah er hilflos zu, wie das Haus nebenan zusammenbrach und die 80-jährige Bewohnerin vom Wasser mitgerissen wurde. Die alte Dame war hinterher eines der sieben Todesopfer der Flutkatastrophe. Und ihr Nachbar findet sich heute unter jenen Simbachern wieder, denen „die Seele überläuft“, wie die Mittelbayerische Zeitung sechs Monate nach dem Ereignis geschrieben hatte.
„Der Mann hat bis jetzt gedacht, er könne das aus eigener Kraft bewältigen, aber die innere Unruhe ließ ihn nicht mehr los“, erzählt Margarete Liebmann, Psychiaterin und Chefärztin an der AMEOS-Klinikum Inntal in Simbach am Inn. Jetzt gehört er, wie schon seit einiger Zeit seine Ehefrau, zu den Dutzenden Patienten im Ort, die von Liebmann und ihrem Team behandelt werden. Es ist ein langwieriger Prozess, und dass der Wiederaufbau des Ortes Fortschritte macht, hilft nicht immer. „Vielen fehlt in ihren sanierten Häusern das Gefühl, tatsächlich Zuhause zu sein“, sagt die Ärztin. Allzu schnell werde die Erinnerung geweckt: „Bei einem heftigen Landregen einen Mittagsschlaf zu machen, das geht nicht mehr, da fahren bei den Leuten die Sensoren hoch.“
Auf solche Probleme müssen sich Psychologen in Zukunft vermehrt einstellen. Im Gegensatz zu Erdbeben, die ähnliche Leiden auslösen können, verändern sich die wetterbedingten Katastrophen nämlich durch den Klimawandel. Zahl und Stärke von Extremwetter-Ereignissen dürften zunehmen, stellte der Weltklimarat IPCC in seinem Bericht 2014 fest – und die Gesundheit vieler Menschen, auch die mentale, werde darunter leiden. Es sei sowohl mit akuten Symptomen wie post-traumatischer Belastung zu rechnen wie mit chronischen Folgen: Ängsten, Aggression, Depression und verstärkter Suizid-Neigung. „In einer Stichprobe von Menschen, die vom Hurrikan Katrina [2005 in der Region New Orleans] betroffen war, hatten sich Selbstmord-Gedanken und vollzogene Selbstmorde mehr als verdoppelt“, berichtete 2017 eine Studie der American Psychological Association (APA).
Hinter den Katastrophen steckt auch der Mensch
Obwohl für einen Wirbelsturm wie Harvey oder die Gewitterzelle, die sich über Simbach festsetzte, niemals allein der Klimawandel verantwortlich ist, so kann er doch die Folgen der Ereignisse verstärken – allein deshalb, weil die immer wärmere Luft der Atmosphäre mehr Feuchtigkeit aufnehmen kann, die dann abregnet. Die relativ neue Fachrichtung der Klimaforschung namens „Attribution“ kann darum mit zunehmender Genauigkeit ausrechnen, wie sehr das Risiko für eine solche Katastrophe durch die globale Erwärmung gestiegen ist. Bei Hurrikan Harvey zum Beispiel lautete das Ergebnis „dreimal so hoch“, zudem hatte der Klimawandel die Regenmenge um 15 Prozent erhöht.
Für Simbach fand die Analyse keine klare Aussage, auch der Deutsche Wetterdienst hielt sich mit einer Zuweisung zurück. Doch in der öffentlichen Diskussion über die Flutwelle war der Klimawandel durchaus ein Thema. Aber auch die Mais-Monokultur der Bauern in der Umgebung und das Verschwinden vieler Auen, die große Wassermengen aufnehmen können, hätten die Anwohner für die Katastrophe verantwortlich gemacht, sagt Margarete Liebmann, die selbst in dem betroffenen Ort lebt – alles Faktoren, die auf das Handeln von Menschen zurückgehen.
„Wenn ein Ereignis, gar eine Katastrophe, als von Menschen verursacht erlebt wird, dann wirkt sie viel traumatisierender, als wenn es reine Naturgewalt wäre“, erklärt die Ärztin. Das ist ein weiterer Grund, dass sich Psychologen und Psychiater auf eine Zunahme mentaler Probleme durch den Klimawandel einstellen müssen. Auf die Dauer werden es wohl nicht einmal die Amerikaner durchhalten, nach Naturkatastrophen in betroffenen Gebieten noch weniger über den Klimawandel zu reden als sonst schon.
Schließlich ist in den USA die Diskussion über die mentalen Folgen weit fortgeschritten. Fachleute haben sogar schon einige neue Fachbegriffe geprägt. Einer davon heißt „Solastalgia“, eine Neuschöpfung aus „solace“ (Trost) und „Nostalgia“, also der Sehnsucht nach Vergangenem, oder in diesem Fall: Vergehendem. „Es ist der Schmerz, dass der Ort, an dem man wohnt und den man liebt, unmittelbar bedroht ist“, so hatte Glenn Albrecht von der University of Newcastle in Australien, der sich als Umwelt-Philosoph bezeichnete, den Begriff 2005 definiert. Mit dem Ort können schließlich, so die Argumentation, Gefühle von Identität und Zugehörigkeit sowie die Kontrolle über das eigene Leben in Gefahr geraten. Wer bisher in schweren Zeiten die Seele im Bergtal oder am Strand ins Lot brachte, kann aus dem Gleichgewicht geraten, wenn diese Orte durch den Klimawandel beschädigt oder zerstört werden. Ganz zu schweigen von Ureinwohnern, deren Kultur viel stärker mit dem Land verwoben ist, als bei allen Zuwanderern.
Die Welt geht unter, und niemand hört zu
Ein weiterer Begriff ist das „Prä-traumatische Belastungs-Syndrom“, geprägt von der Psychiaterin Lise van Susteren aus Washington. Sie meint damit die Verzweiflung von Forschern und Umweltaktivisten, die sehr genau wissen, was der Welt bevorsteht, damit aber kaum Gehör finden. „Ich sehe eine wachsende Zahl von Klima-Kassandras, deren Gedanken um das zukünftige Leid kreisen. Sie leiden unter einer prä-traumatischen Stressreaktion, weil sie wissen, dass die Welt die Warnungen nicht deutlich genug hört“, beschrieb die Ärztin das Problem in der APA-Studie.
Eine der Betroffenen heißt Camille Parmesan, eine prominente Klimaforscherin aus Texas. Sie schlidderte 2012 in eine Krise, die sie „professionelle Depression“ nannte. Vorher hatte sie dreimal als Autorin an den IPCC-Berichten mitgearbeitet, stets begleitet von einem nagenden Gefühl der Unsicherheit und dem Willen, ihre Fähigkeiten gegen die Veränderungen einzusetzen. „Ich bin eigentlich schon vor 15 Jahren in Panik geraten, als die ersten Studien zeigten, dass sich die arktische Tundra von einer Senke für CO2 zu einer Quelle verwandelt“, verriet sie vor zwei Jahren dem Esquire-Magazine. Diese Umkehr von einem Speicher für Kohlendioxid in einen Emittenten würde einen Teufelskreis starten, weil die Erwärmung immer mehr Treibhausgas aus dem Permafrost der Polarregion freisetzen und sich so selbst verstärken könnte.
Aber besonders nach dem gescheiterten Klimagipfel in Kopenhagen 2009 interessierte sich in Parmesans Heimatland kaum noch jemand für den Klimawandel. Die Medien, von denen viele die dänische Hauptstadt zuvor als „Hopenhagen“ gehypt hatten, wandten sich ab. Der Begriff „climate change“ wurde in Texas nach politischer Intervention aus wissenschafts-basierten Regierungsdokumenten gestrichen, rechte Hetzer griffen die Forscher wie Parmesan persönlich an. Große Teile des Landes taten so, als seien wissenschaftliche Fakten Glaubenssache, die man akzeptieren kann oder auch nicht.
Wenn Wissenschaftler unter dieser Situation leiden, dann weil auch sie Menschen mit Emotionen, Hoffnungen und Ängsten sind. Ihre Arbeit verlangt meist, dass sie ihre Gefühle zügeln. Ihre Ergebnisse sollen sie frei von Affekten erarbeiten und nüchtern präsentieren, schon um in der Öffentlichkeit souverän und kompetent zu wirken. Aber das fällt gerade Klimaforschern zunehmend schwer, besonders wenn sie angegriffen und verhöhnt werden. „Ich kenne keinen einzigen Wissenschaftler, der keine emotionale Reaktion hat, weil so vieles verloren geht“, sagte Parmesan 2012 in einem Report der National Wildlife Federation. Schließlich verließ die Forscherin ihre Heimat und zog an die Universität im britischen Plymouth. Und damit ist sie nicht die einzige Amerikanerin, die nach Europa floh. Andere empfahlen, öfter mal den Kraftausdruck F**K zu benutzen, gern auch in Tweets und voll ausgeschrieben, um die Tiefe ihres Ärgers und ihrer Sorge auszudrücken – und vermutlich Dampf abzulassen.
Auch die amerikanische Umweltaktivistin Gillian Caldwell beschrieb den Druck. Sie hatte eine ganze Weile mit zivilen Kriegsopfern gearbeitet, bevor sie sich mit der Organisation 1Sky.org dem Klima-Thema zuwandte. Bald bekannte sie in einem Blogbeitrag: „Unsere Nation dazu zu bringen, den Klimawandel zu stoppen, ist emotional aufwühlender als jeder andere Job, den ich jemals hatte.“ Dann zitierte sie einige Tipps von Lise van Susteren, um dem Burnout der Engagierten vorzubeugen: auf sich selbst achten zum Beispiel, sich gesund ernähren und viel bewegen, in die Natur gehen, eine strikte Trennung zwischen Beruf und Privatleben wahren und lachen.
Die Albträume der Klimaforscher
Von solchen Stressfaktoren sind auch Wissenschaftler auf dieser Seite des Atlantiks nicht immer frei. Stefan Rahmstorf vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, den sich die deutschen Klimawandel-Leugner als einen Lieblingsfeind herausgegriffen haben, vertraute darum der Webseite isthishowyoufeel.com einen wiederkehrenden Albtraum an: „Ich gehe wandern und komme zu einem einsamen Bauernhof, der brennt. Kinder rufen aus den Fenstern im oberen Stockwerk um Hilfe. Ich alarmiere die Feuerwehr. Aber sie kommt nicht, weil ein Verrückter immer wieder sagt, es handele sich um einen falschen Alarm.“
Von all diesen Effekten indes – den Ängsten der Traumatisierten, der Sehnsucht nach verloren-gehenden Orten, der Frustration der Forscher und Aktivisten – ist keiner spezifisch für den Klimawandel, könnte man nun einwenden. Und dem ist kaum zu widersprechen: vermutlich fühlen Kämpfer gegen zuckrige Limonaden ähnlich; auch Erdbeben nehmen den Überlebenden den Lebensmut, und Solastalgia wurde ursprünglich für Menschen definiert, deren Heimat ein Kohletagebau bedrohte.
Tatsächlich, sagt etwa Andreas Meißner, Psychiater und Psychotherapeut aus München, gebe es noch keine gesicherten Daten zur klinischen Relevanz der Solastalgia. Und mit der „prä-traumatischen Belastung“, also einer krankhaften Angst vor zukünftigen Katastrophen, solle man vielleicht nicht zu einem Kongress über die manifesten posttraumatischen Beschwerden von Gewaltopfern gehen. „Es mag auch sein, dass manche Betroffene andere persönliche Probleme auf die Situation der Umwelt projizieren“, fügt er hinzu. Doch ignorieren sollte man die zunehmenden Berichte über seelische Folgen der globalen Erwärmung trotzdem nicht: Die zunehmende Zerstörung der Natur biete in jedem Fall genügend Auslöser für mentale Probleme.
Insgesamt ist Meißner überzeugt, dass viele Menschen bereits heute ein Unbehagen empfinden. Der Klimawandel verunsichert sie und sie können damit genauso wenig souverän umgehen wie mit der eigenen Sterblichkeit – und verdrängen deswegen eine angemessene Reaktion. „Es wird Zeit, die psychischen Aspekte, die letztlich immer den Intellekt übersteuern und unser Handeln bestimmen, in den Fokus zu rücken“, schreibt er darum in seinem Buch „Mensch – was nun? Warum wir in Zeiten der Ökokrise Orientierung brauchen“ (Oekom-Verlag). Für diejenigen, die sensibler, engagierter oder stärker betroffen sind als der Durchschnitt, können die Folgen der Klimakrise nämlich schnell zur persönlichen Krise eskalieren. ◀