Freiheit, rücksichtslos zu sein: Die katastrophale Corona-Bilanz der Ampelkoalition
100 Tage verpasste Verantwortung und ein neues Infektionsschutzgesetz: Wie die neue Bundesregierung alle jene Menschen verrät, die Gefährdete schützen und unnötiges Leid verhindern wollen. Ein Kommentar
Schon bei ihrem ersten Anlauf, den Schutz der Bevölkerung vor dem gefährlichen grassierenden Coronavirus zugunsten anderer politischer Ziele aufzuweichen, hat die Ampelkoalition aus SPD, FDP und Grünen den völlig falschen Zeitpunkt gewählt. Am selben 27. Oktober 2021, an dem der inzwischen zum Bundesjustizminister avancierte FDP-Politiker Marco Buschmann vor der Bundespressekonferenz verkündete, die „pandemische Lage von nationaler Tragweite” werde beendet, stieg die Zahl der Coronafälle und auch der Toten in der damaligen Delta-Welle sprunghaft an.
Und am selben 25. November, an dem das neue Infektionsschutzgesetz der Ampelkoalition zu greifen begann, die Handlungsfähigkeit der Bundesregierung schwächte und ihr einige der effektivsten Maßnahmen geradewegs verbot, erreichte Deutschland die erschreckende Marke von 100.000 Menschen, die in den bis dahin 18 Monaten Pandemie offiziell als Corona-Tote registriert worden sind. Keine andere Infektionskrankheit hat in der deutschen Nachkriegsgeschichte in so kurzer Zeit so viele Menschen dahingerafft.
Keine vier Monate sind seither vergangenen und weitere 26.420 Menschen sind im Zusammenhang mit Covid-19 gestorben. Hatten sich bis Ende November 2021 5,7 Millionen Menschen in Deutschland nachweislich mit dem Coronavirus infiziert, sind es nun 18 Millionen Menschen. Die größte Infektionswelle der Pandemie fiel in die ersten hundert Tage der Ampelkoalition.
Junge Menschen mit Denkstörungen durch Covid – ignoriert
Auch wenn ein erheblicher Teil der Infizierten die Erkrankung nur wie eine normale Erkältung erlebt hat, ist das bei vielen ganz anders: Kürzlich warnte an der Seite von Lothar Wieler, dem Chef des Robert-Koch-Instituts, und von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach die Medizinerin Jördis Frommhold, Chefärztin für Atemwegserkrankungen an der Median Reha-Klinik Heiligendamm, in der Bundespressekonferenz vor Langzeitfolgen für einen erheblichen Teil der Betroffenen.
Menschen, die vor kurzem noch aktiv Sport getrieben hätten, seien jetzt nach zwanzig Minuten Spazierengehen erschöpft, Mütter könnten Grundschulkindern nicht mehr bei den Grundrechenarten helfen. Frommhold beschrieb „kognitive Defizite, die zum Teil demenzähnlich sind, auch bei jungen Menschen" und warnte, Long Covid sei „eine chronische, bisher nicht heilbare Krankheit, deren Ursache wir noch nicht geklärt habe."
Hunderttausende Menschen drohten „dauerhaft erwerbsunfähig zu werden". Weiterhin geht dieses Leid und diese Gefahr aber wider besseres Wissen in kein politisches Strategiepapier ein.
Weitgehend unbekümmert von der großen Zahl der Toten und Versehrten hat die Ampelkoalition nun im Bundestag ihr neues Infektionsschutzgesetz beschlossen. Es sieht vor, mit Ausnahme von wenigen Pflichten zum Maskentragen die bundesweiten Corona-Schutzmaßnahmen ganz zu beenden. Nur in nicht näher definierten „Hotspots” sollen die Länder durch Beschluss ihrer Parlamente Maßnahmen von einer stark verkürzten Liste auswählen dürfen.
FDP fördert die Freiheit, rücksichtslos zu handeln
An diesem unheilvollen 18. März ist jedoch ganz Deutschland ein Hotspot.
Entgegen der voreiligen Verlautbarung von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach von Mitte Februar, der Höhepunkt der Omikron-Welle sei „überschritten”, steigen die Fallzahlen derzeit wieder stark an.
Wieder wählt die Ampelkoalition den falschen Zeitpunkt für ihren Beschluss. In der Nacht zum Tag der Bundestagssitzung speiste das Robert-Koch-Institut erstmals fast 300.000 Neuinfektionen in seine Datenbank ein. 226 weitere Todesfälle sind zu beklagen.
Triebkraft für den Beschluss ist die FDP, die schon im Oktober letzten Jahres genau zu wissen vorgab, dass die Pandemie am 20. März 2022 zu Ende sein würde und die nun trotz der verheerenden Lage darauf besteht. Es ist pure Ideologie, die hier am Werk ist. Die FDP möchte ihr brachiales Konzept von Freiheit dem ganzen Land aufdrängen. Freiheit in der in letzter Konsequenz sozialdarwinistischen Lesart der Liberalen heißt, rücksichtslos sein zu können und nicht frei in der Lesart der Aufklärung, nämlich frei dazu, auf andere Rücksicht zu nehmen. Nicht umsonst waren die Demonstrationen von schwurbelnden sogenannten „Querdenkern” in letzter Zeit rückläufig. Mit der FDP sitzen sie ja an den Hebeln der Macht. Nur die Wortwahl ist etwas gefälliger.
Aber auch die SPD macht bei dem Spiel mit. Unvergessen wird der so vage wie naive Satz von Bundeskanzler Olaf Scholz von Mitte Februar bleiben: „Irgendwie haben wir nach all diesen langen zwei Jahren mal verdient, dass es irgendwie wieder besser wird – und es sieht ein bisschen danach aus, dass wir genau das auch vor uns haben.“
Statt die Schwachen zu schützen, wie das der Sozialdemokratie gut stünde, werden die zurecht besorgten Menschen mit Immunproblemen, Krebserkrankungen und Long Covid nun in den Schatten der Gesellschaft gedrängt, weil sie fast nirgendwo mehr mit einem gesellschaftlich verabredeten Schutz vor einer Infektion rechnen können – und das wird auch noch als „neue Normalität” verkauft. Die Grünen haben sich längst ergeben, sie wollen an der Macht bleiben, um ihre Klimapolitik durchsetzen zu können. Das ist unter allen Motiven vielleicht noch das hehrste, eine Entschuldigung ist es nicht.
Alle Indikatoren stehen auf Rot
Die Bundesregierung straft mit dem neuen Infektionsschutzgesetz ihre eigenen Ankündigungen Lügen. Vor drei Monaten hat sie einen 19-köpfigen wissenschaftlichen Expertenrat eingesetzt und mit der Aufgabe betraut, die Corona-Entscheidungen der Regierung vorzubereiten und zu begleiten.
In seiner 6. Stellungnahme hat dieses Gremium am 13. Februar einen „verantwortungsvollen Weg der Öffnungen” skizziert. Darin heißt es, trotz einiger Unsicherheiten können „nach Ansicht des ExpertInnenrats unter den oben genannten Rahmenbedingungen eine besonnene Rücknahme einzelner Infektionsschutzmaßnahmen in den kommenden Wochen möglich sein.”
Auf das Wort „Öffnungen” hat sich die Ampelkoalition gestürzt und die formulierten Bedingungen schlichtweg ignoriert. Zu diesen Bedingungen heißt es: „Ein Zurückfahren staatlicher Infektionsschutzmaßnahmen erscheint sinnvoll, sobald ein stabiler Abfall der Hospitalisierung und Intensivneuaufnahmen und -belegung zu verzeichnen ist.”
Doch keine der vom Expertenrat genannten Voraussetzungen trifft aktuell zu: Einweisungen in Krankenhäuser, Verlegung auf Intensivstation, Todesfälle und Inzidenz bei Menschen über 60 Jahren – überall steigen die Zahlen, teils dramatisch.
Auch bei der vom Expertenrat für Öffnungen eingeforderten hohen Impfquote sieht die Bilanz schlecht aus. Seit Anfang des Jahres stagniert die Impfkampagne, es kommen kaum neue Erstimpfungen hinzu. Noch immer sind 15,6 Millionen Menschen im geeigneten Alter in Deutschland ungeimpft. Und 35 Millionen Menschen haben noch nicht die zum Schutz nötige dritte Impfung, den Booster. Mit seinen großspurigen Zielen für 2022 ist Scholz als Papiertiger gelandet – und ob die von ihm geforderte Impfpflicht rechtzeitig kommt, um Deutschland vor der nächsten Herbst- und Winterwelle zu schützen, ist auch nach der jüngsten Debatte im Bundestag völlig offen.
Es gibt zwei Karl Lauterbachs
Ein zu frühes Öffnen berge die Gefahr eines erneuten Anstieges der Krankheitslast, warnten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Ihr Ruf verhallte ungehört, aber nicht nur das: Es gab keine eigene Stellungnahme des Gremiums speziell zum neuen Infektionsschutzgesetz und damit zur größten Veränderung in der Coronapolitik seit Beginn der Pandemie. Offenbar hat es die Ampelkoalition verstanden, wissenschaftlichen Rat nicht nur zu instrumentalisieren, sondern auch zu neutralisieren.
In der Gesamtschau ist die Bilanz der Ampelkoalition in der Corona-Politik katastrophal, ein größeres Versagen wäre kaum möglich gewesen. Eine besonders tragische Rolle nimmt dabei Karl Lauterbach ein, von dem sich viele Menschen, besonders jene mit besonderen Risiken, einen Fürsprecher und Beschützer gegen die Rücksichtslosigkeit von Maskenverweigerern und Corona-Leugnern versprochen hatten.
Doch in den vergangenen Tagen wurde vollends klar, dass es zwei Karl Lauterbachs gibt: Einen, der auf Twitter vor den Corona-Gefahren warnt und einen, der als Bundesgesundheitsminister die FDP gewähren lässt – aus Gründen, die nichts mit Infektionsschutz und viel mit Machterhalt zu tun haben. Der Kontrast zwischen Lauterbachs Twitter-Warnungen und seinem realen Handeln machen ihn zur tragischen Figur – und zu einem Gesundheitsminister, der in einer entscheidenden Phase seiner Aufgabe nicht gerecht wird.
Es geht um konkretes Leid, nicht nur um das Gesundheitssystem
Die Verteidigung Lauterbachs, ein Mehr an Maßnahmen sei nicht möglich, weil nur ein drohender Kollaps des Gesundheitssystems sie legitimieren könne, ist schwach und fadenscheinig. Zum einen hat das Bundesverfassungsgericht dem in Artikel 2(2) verbrieften Schutz des Lebens und der Gesundheit als solchem in seinen bisherigen Corona-Urteilen einen hohen Stellenwert zugesprochen.
Nähme man nur die drohende „Überlastung des Gesundheitssystems” als Kriterium, gäbe es ja für diese Pandemie und folgende Pandemien eine ganz einfache Lösung, viel billiger als aufwändige Maskenregeln und Kontaktbeschränkungen: Man müsste das Gesundheitssystem nur in die Lage versetzen, kurzfristig die Kapazitäten der Intensivstationen hochzufahren: Dann könnte dort ein Vielfaches an Erkrankten prozessiert werden, könnten viel mehr Menschen betreut sterben, ohne dass eine Systemüberlastung droht.
Dass dies ein zynisches und menschenverachtendes Vorgehen wäre, liegt auf der Hand. Das Gedankenspiel widerlegt zugleich das Argument, nur das Vermeiden einer Überlastung könne Maßnahmen begründen: Das Vermeiden von Infektionen, Leid und Tod ist ein hoher Wert an sich. Der Staat muss dies nur gut begründen.
Auf eine wichtige Begründung hat der Staat bisher verzichtet: Noch immer verbreitet das Robert-Koch-Institut in seiner täglichen Corona-Statistik die Mär, Infizierte könnten pauschal nach wenigen Wochen als „Genesene” eingestuft werden. Die Regierung hat sich bisher noch nicht einmal die Mühe gegeben, das Long-Covid-Geschehen wirklich zu verstehen und in seine Entscheidungen einzubeziehen. Hunderttausende vor der Erwerbungsunfähigkeit zu bewahren, wie die Chefärztin an der Seite Lauterbachs anmahnte, ist wohl ein Ziel, das staatliches Handeln begründen könnte. Die Ampelkoalition verzichtet nun bewusst darauf.
Unvorbereitet in den nächsten Corona-Winter
Am 20. März wachen die Deutschen in einer neuen Phase der Pandemie auf. Ab jetzt kann niemand mehr auf einen demokratisch legitimierten Basisschutz im ganzen Bundesgebiet vertrauen, außer, er fährt mit der Bahn, wo es den Fahrgästen erspart bleiben wird, dass rücksichtslose Mitreisende ihre Masken je nach durchfahrenem Bundesland absetzen dürfen. Es bleibt nun den Ländern überlassen, welche der stark eingeengten Maßnahmen sie ergreifen – ein Ansatz, der schon einmal gründlich schief gegangen ist und unter Kanzlerin Merkel zur „Bundesnotbremse” geführt hat, die dann auch einigermaßen gegriffen hat.
Das ist auch für die Menschen gefährlich, die nun aus der Ukraine zu uns fliehen. Fünf Millionen Infektionen waren in dem Land bis zum Beginn des Kriegs registriert worden und mehr als 120.000 Corona-Tote. Mit dem Kriegsbeginn versiegte auch die Corona-Statistik. Nur 36 Prozent der Menschen in der Ukraine haben bis Kriegsbeginn zwei Impfdosen erhalten, nur knapp zwei Prozent die bei Omikron so wichtige Auffrischungsimpfung. Aus dem Kriegsgebiet kommen sie nun mitten in ein Hochinzidenz-Gebiet fast ohne Schutzmaßnahmen – geschwächt und gestresst. Fortgesetzte Schutzmaßnahmen sind auch deshalb dringend nötig, um die Geflüchteten davor zu bewahren, als erstes in Deutschland an Covid-19 zu erkranken. Sie haben wahrlich Besseres verdient.
Auf zweierlei können die vielen Menschen in Deutschland, die den 20. März nicht als den „Freedom Day” sehen, ab dem sie ihren von der FDP nun regierungsamtlich sanktionierten Egoismus wieder ausleben können, hoffen: Auf die Saisonalität des Virus, also auf das Wetter. Und auf die Mitmenschlichkeit der anderen, die in zwei Jahren Pandemie den Wert von Fürsorge und Rücksichtnahme erfahren haben.
Auf was die stille Mehrheit hoffen kann
Immerhin sechzig Prozent der Bevölkerung – jene stille Mehrheit, die in den vergangenen zwei Jahren allzu häufig zugunsten von Schreihälsen ignoriert wurde – wollen die Maske freiwillig weitertragen, auch wenn es der Staat nicht vorschreibt. Das ist jene Freiheit zu mitmenschlichem Verhalten, die menschliche Zivilisation überhaupt erst begründet.
Auf den Bundesgesundheitsminister werden sie sich nicht verlassen können und auf den Bundesjustizminister auch nicht: Marco Buschmann wird sich wahrscheinlich nicht entblöden zu sagen, dass es, wenn die Lage wie jetzt im ganzen Land katastrophal ist, es per Definition keine der im Gesetz beschriebenen „Hotspots” gibt, die neue Maßnahmen rechtfertigen könnten. Das Konstrukt der Hotspots, in denen Maßnahmen des Schutzes vor dem Coronavirus eingeführt werden dürfen, ist so wacklig, dass es Verwaltungsgerichte auf Trab halten, aber womöglich kaum real Menschen schützen kann.
Das alles bereitet Deutschland nicht auf das vor, was unweigerlich kommt: Die nächste kalte und dunkle Jahreszeit, die nächste Mutation. Die Bundesregierung wird dann vor der Aufgabe stehen, dem egoistischen Teil der Bevölkerung zu verklickern, dass die Pandemie entgegen der Ankündigungen doch nicht vorbei ist, und dass wohl erneut Maßnahmen eingeführt werden müssen.