Corona-Booster: STIKO empfiehlt an Omikron-Varianten angepasste Impfstoffe
Daran, wer eine zweite Auffrischung gegen Covid-19 erhalten sollte, hat sich jedoch nichts geändert. „Ein immungesunder Mensch unter 60 Jahren braucht erstmal keine vierte Impfung.“
Die Ständige Impfkommission (STIKO) empfiehlt, für Booster-Impfungen gegen Covid-19 zukünftig vorzugsweise die an die Omikron-Varianten BA.1 beziehungsweise BA.4/BA.5 angepassten mRNA-Impfstoffe zu nutzen. In der Pressemitteilung zur Aktualisierung der Impfempfehlung schätzt die STIKO die angepassten Vakzine „trotz der begrenzten klinischen Studiendaten als sicher und gut verträglich ein“. Allerdings fordert sie die Impfstoffhersteller ausdrücklich auf, noch ausstehende Studiendaten zur klinischen Wirksamkeit nachzuliefern.
Für die ersten beiden Impfungen, die Grundimmunisierung, sind die angepassten Impfstoffe bisher nicht zugelassen.
Die Europäische Kommission hatte die angepassten Präparate am zweiten beziehungsweise am 12. September 2022 zugelassen. Es sind so genannte bivalente Impfstoffe. Das bedeutet, dass sie zwei verschiedene mRNA-Varianten enthalten: Zum einen die Bauanleitung für das äußere Spike-Protein des ursprünglichen Wildtyps (die Wuhan-Variante) und zusätzlich diejenige der Varianten BA.1 oder BA.4/BA.5. „Die Idee ist, dass man durch die Kombination dieser beiden Spike-Varianten mit der entsprechenden Wildvirus-Sequenz eine Verbreiterung der Immunantwort erzielt“, sagte Christian Bogdan, Mikrobiologe vom Universitätsklinikum Erlangen und Mitglied der STIKO auf einer Veranstaltung des Science Media Center am 19. September 2022. Nachdem Omikron fast ein Dreivierteljahr durch die Republik gelaufen sei, gehe es letztlich darum, auch Menschen, die mit dem Virus bisher nicht in Kontakt waren, erfolgreich dagegen impfen zu können.
Ob der an BA.1 oder an BA.4/BA.5 angepasste Impfstoff verwendet würde, macht nach Einschätzung der STIKO keinen Unterschied. Die Immunisierung mit BA.1 löse auch eine gute Immunantwort gegen BA.4/BA.5 aus. Die ExpertInnen sprechen außerdem von einer vorzugsweisen Verwendung dieser Impfstoffe für die dritte oder vierte Impfung. Auch die anderen, ursprünglichen Vakzine könnten noch verwendet werden, auch sie schützen, nach dreimaliger Gabe gut vor schweren Infektionen, auch vor schweren Omikron-Infektionen.
An den grundsätzlichen Empfehlungen, wer eine dritte beziehungsweise vierte Impfung erhalten soll, ändert sich nichts. Allgemein raten die Fachleute allen Personen ab 12 Jahren zu einer Auffrischungsimpfung, so sie denn zweimal geimpft und bisher durch eine Infektion noch nicht mit dem Virus in Kontakt gekommen sind. Menschen über 60, immungeschwächten Personen und solchen, die dem Virus in besonderer Weise ausgesetzt sind, zum Beispiel Mitarbeitende im Gesundheitswesen, rät die STIKO zu einem zweiten Booster, also einer vierten Impfung, die jetzt mit den angepassten Vakzinen erfolgen könnte. Für alle anderen gilt das nicht. „Ein immungesunder Mensch unter 60 Jahre braucht jetzt erstmal keine vierte Impfung, auch nicht mit den angepassten Impfstoffen“, erklärt Christian Bogdan.
Der Blick zurück
Am Anfang der Pandemie war alles noch recht eindeutig. Das neue Coronavirus Sars-CoV-2 übersprang die Artengrenze und traf auf eine Weltbevölkerung, dessen Immunsystem noch nie zuvor Kontakt zu diesem Virus hatte. Impfstoffe standen überraschend schnell zur Verfügung, um die Menschen zu schützen. Dennoch starben bisher weltweit 6, 5 Millionen Menschen im Zusammenhang mit einer Corona-Infektion (Stand 14. September 2022). Britische Forschende haben ausgerechnet, wie viele Todesfälle die Covid-19-Impfungen allein in der Zeit vom Dezember 2020 bis Dezember 2021 in 185 Ländern verhindern konnten: es waren 14, 4 Millionen. Es hätten weitaus mehr sein können, wenn die Impfstoffe weltweit gerechter verteilt worden wären.
Heute sieht die Lage völlig anders aus. Seit bald drei Jahren leben wir mit dem Virus und jeder Mensch hat seine eigene Corona-Geschichte. Der eine ist zwei, die andere drei- oder viermal geimpft, wieder andere überhaupt nicht; mancher steckte sich zu Beginn mit der Wuhan-Variante an, manch andere erst in den letzten Monaten mit Omikron, wieder andere haben mehrere Infektionen unterschiedlicher Schwere hinter sich.
Die Erfahrungen mit dem Coronavirus, sei es über Impfungen oder Infektionen, prägen die Körperabwehr und wirken sich auf zukünftige Begegnungen aus. „Die Prägung ist unterschiedlich, je nachdem, wo man auf der Welt lebt und welche Impfungen man erhalten hat – und das bestimmt die spätere Immunantwort“, zitiert der Pharmazeut Theo Dingermann die britische Immunologin Rosemary Boyton vom Imperial College (London) in einem Artikel in der Pharmazeutischen Zeitung. Dingermann ergänzt: Es gebe aktuell keinen Konsens darüber, wie sich die ursprüngliche Prägung – also die Infektion oder Impfung mit der ersten Virusvariante – im Falle von Sars-CoV-2 auswirke.
Um es noch komplizierter zu machen: Zur eigenen Impf- und Infektionsgeschichte kommt natürlich die eigene körperliche Verfasstheit: das Alter, chronische Erkrankungen, Lebensstil, Ernährung, Umweltbelastung, eine Fülle an Faktoren, die generell beeinflussen, ob und wie schwer wir an einer Infektion erkranken – aber auch, ob und in welchem Umfang unsere Körperabwehr auf Impfungen reagiert.
Das hat Folgen für die MedizinerInnen: Die Gestaltung, Auswertung und Aussagekraft von Studien zur Wirksamkeit von Corona-Impfstoffen werden immer komplexer. Und: EIN „Marschbefehl“ für alle, à la „alle brauchen die vierte Impfung“ oder „einmal im Jahr im Herbst musst sich jeder gegen Corona impfen lassen“ funktionieren nicht (mehr).
Unterschiede bei Wirksamkeitsstudien der Corona-Impfstoffe gestern und heute
So wie zu Beginn der Pandemie zehntausende Menschen nach dem Zufallsprinzip entweder mit einem Impfstoff oder einem Placebo zu impfen, und dann zu schauen, ob sie sich infizieren, sei im Jahre 2022 nicht mehr praktikabel, schreibt der Wissenschaftsjournalist Ewen Callawayim Fachmagazin Nature. Angepasste Impfstoffe würden nun in kleineren Studiengruppen untersucht werden. Um ihre Wirksamkeit zu ermitteln, werde die Immunantwort, insbesondere die Menge an neutralisierenden Antikörpern bestimmt, im Vergleich zu Personen, die eine weitere Dosis mit dem Original-Impfstoff erhalten hatten, erklärt Callaway.
Klar ist: Die Menge an Antikörpern, die eine Infektion mit einer aktuell kursierenden Virusvariante blockieren und so das Virus neutralisieren, ist zurzeit der beste Vorhersagewert für die Immunstärke gegen das Coronavirus, den wir haben. Beim Blick auf womöglich sinkende Spiegel an neutralisierenden Antikörpern darf man aber nicht vergessen: Sie sind nicht die einzigen Werkzeuge des Körpers, um Krankheitserreger aus dem Verkehr zu ziehen. Es gibt Antikörper, die nicht neutralisieren, dem Virus aber trotzdem zusetzen; es gibt spezialisierte Immunzellen, die das Virus oder virusinfizierte Zellen angreifen; es gibt die angeborene Immunabwehr; und es gibt die Gedächtniszellen, die sich in Infektionspausen verbergen und erst dann wieder auf den Plan treten, wenn das Virus den Körper erneut bedroht.
Wie lange Immunität in die Zukunft hinein anhält, ist unklar
Unsere Erfahrungen mit Sars-CoV-2 reichen erst knapp drei Jahre zurück. Das ist im Vergleich zu den üblichen Infektionsgeschichten und dem evolutionären Miteinander zwischen einem Krankheitserreger und seinem Wirt eine verschwindend kurze Zeit. Viele der jetzt in den wissenschaftlichen Publikationen beschriebenen Werte geben die Antikörper-Spiegel nur wenige Wochen, bis höchstens einige Monate nach der Infektion oder Impfung an. Da sich das Virus auch rasch ändert, kann kaum prognostiziert werden, welche Immunantwort sich in ein oder zwei Jahren noch schützend vor die dann vorherrschende Virusvariante stellen kann.
Nach den Erfahrungen mit anderen Krankheitserregern ist jedoch davon auszugehen, dass die Immunabwehr sich nach drei Kontakten zum Virus – sei es durch Impfungen oder Infektionen –noch sehr lange an die Begegnung erinnern wird. Und es wird im Falle eines erneuten Zusammentreffens schwere Erkrankungen verhindern können. Selbst wenn sich das Virus verändert, wird es immer noch zahlreiche Bausteine tragen, die es nicht verändern kann und auf die das Immunsystem eine Antwort hat. Fast alle Veränderungen im Spike-Protein bei den Corona-Varianten seien bisher in der ersten, äußeren Hälfte des Proteins aufgetreten, erklärt die Immunologin Christine Falkgegenüber dem SMC. Antikörper, die sich gegen den hinteren, bis auf sechs Mutationen nahezu unveränderten Teil des Spike richteten, könnten zwar eine Infektion nicht verhindern, seien aber für die Kontrolle des Virus auch sehr wichtig. Dieser zweite Abschnitt des Spike-Proteins gebe uns Sicherheit. „Die systemische Immunität steht wie eine eins, wenn wir dreimal gegen Corona geimpft sind“, so Falk weiter. Damit meint sie den Teil des Immunsystems, dessen Abwehrleistung im Körper etwa in den Lymphknoten oder der Milz erfolgt, im Gegensatz zur Schleimhautimmunität.
Daten zur Wirksamkeit der an die Omikron-Variante BA.1 oder BA.4/BA.5 angepassten Impfstoffe
Eine Anpassung der Impfstoffe an aktuell kursierende Virusvarianten war überfällig, darin sind sich viele Fachleute einig. In klinischen Studien mit den an die Omikron-Variante BA.1 angepassten bivalenten mRNA-Impfstoffen der Firmen Biontech/Pfizer und Moderna, stieg die Menge an neutralisierenden Antikörpern gegen Omikron im Vergleich zum nicht-angepassten Wuhan-Impfstoff um das Eineinhalb- bis Zweifache. „Diese Antikörper-Daten gehen in die richtige Richtung“, sagt Christian Bogdan. Es sei davon auszugehen, dass diese aktualisierten Impfstoffe einen besseren Schutz böten als die bisherigen. In welchem Umfang sie das tatsächlich tun, könne wegen fehlender klinischer Daten noch nicht gesagt werden. Das sei einfach dem Umstand geschuldet, dass die Beobachtungsdauer noch zu kurz und die Zahl der bisherigen Infektionsfälle zu gering seien.
Eine Modellrechnung von WissenschaftlerInnen der University of New South Wales in Sydney hatte dem angepassten Booster zwar anhand von Antikörper-Mengen eine kaum erhöhte Wirksamkeit gegen eine spürbare Infektion oder einen schweren Covid-19-Verlauf vorausgesagt. Doch Experten kritisieren Berechnungen dieser Art, weil das australische Team von falschen Bezugsgrößen ausgegangen sei. „Setzt man den Schutz durch {den Wildtyp-Impfstoff} fälschlicherweise viel zu hoch an, ist klar, dass {der} zu erwartende Zusatznutzen viel kleiner ausfällt als er der Realität entspricht“, schreibt zum Beispiel der Mediziner Jan Hartmann auf Twitter.
Fachleute kritisieren Impfstoffhersteller
Im Gespräch mit dem SMC kritisiert Bogdan die Hersteller: Wenn man bedenkt, dass Omikron schon seit neun Monaten unterwegs sei, hätte man sich mehr Daten gewünscht. Sein STIKO-Kollege Jörg Meerpohl, Direktor des Instituts für Evidenz in der Medizin, Universitätsklinikum Freiburg, und Direktor von Cochrane Deutschland, stimmt ihm zu. Für den an die BA.1 Variante angepassten Impfstoff stünden zwar Daten vom Menschen zur Verfügung, für den BA.4/BA.5 indes nur Ergebnisse aus Studien an Mäusen: „Das ist nicht das, was ich mir wünsche, aber: Wir (..) müssen mit dem leben, was wir haben“, so Meerpohl gegenüber dem SMC. Wenn sich die STIKO zu einer wichtigen Frage äußern solle, könne sie sich leider nicht aussuchen, welche Beweislage zu diesem Zeitpunkt zur Verfügung stünde.
„Die Grundlage für die Zulassung der BA.4/BA.5-Impfstoffe in den USA und Europa gründet sich auf den Erfahrungen mit den bisherigen mRNA-Impfstoffen, den klinischen Studien zum BA.1-Booster und Mäuse-Experimenten“, berichtet Kimberly Nicolausim Faktencheck bei Correctiv.
Die Europäische Arzneimittelagentur EMA wollte im Vergleich zur US-amerikanischen FDA eigentlich zurückhaltender sein bei der Zulassung des BA.4/BA.5-Impfstoffs. Sie wollte bei „der Linie bleiben, neue Impfstoffe erst zuzulassen, wenn klinische Daten zu ihrer Wirksamkeit vorliegen“, zitiert das „Deutsche Ärzteblatt“ die EMA-Dirketorin Emer Cooke mit einer Aussage vom 7. August 2022. Diese Zurückhaltung hat sich offensichtlich innerhalb weniger Wochen in Luft aufgelöst. Die EMA schlug der Europäischen Kommission den Impfstoff am 12. September zur Zulassung vor.
Einen Impfstoff zu nutzen, dessen Wirkung bisher nur an Mäusen getestet wurde, könne den Booster-Widerwillen der Bevölkerung verstärken, gibt der US-amerikanische Mediziner Eric Topol zu Bedenken. In den USA haben 32 Prozent, in Deutschland bisher 62 Prozent eine Booster-Impfung erhalten. Topol selbst wird sich den vierten Piks mit dem BA.4/BA.5-Vakzin daher wohl erst dann holen, wenn mehr klinische Daten zur Verfügung stünden, schreibt er in seinem Blog „Ground Truth“. (Anmerkung: In den USA ist nur dieser aktualisierte, nicht aber der BA.1-Impfstoff zugelassen.)
Ziel der Corona-Impfungen: schwere Erkrankungen und Todesfälle verhindern
Das primäre Ziel der Corona-Impfungen bleibe die Verhinderung von schweren Erkrankungen und Tod, betont Christian Bogdan. Es gehe nicht darum, harmlose Infektionen zu verhindern, indem wir uns alle drei Monate impfen lassen. Das sei eine Idee, die durch ungünstige politische Äußerungen getriggert worden sei. Bogdan kritisiert das, genauso wie das dauerhafte Betreiben des „Zahlenspiels der Inzidenzen“, wie er es nennt. „Dieses Virus werden wir nicht vom Erdball verschwinden lassen können, sondern wir werden uns hier auf kurz oder lang genauso arrangieren, wie mit allen anderen sogenannten Erkältungsviren auch“, sagt der Mikrobiologe aus Erlangen. Zukünftig werde es nicht mehr sinnvoll sein, Sars-CoV-2 (als einen von vielen Atemwegserregern) einer permanenten Diagnostik zuzuführen. „Warum soll ich einen harmlosen Schnupfen – in der Form kann sich Sars-CoV-2 auch manifestieren – diagnostisch begleiten?“
Die Recherchen zu diesem Beitrag wurden über die Riff freie Medien gGmbH aus Mitteln der Klaus Tschira Stiftung gefördert.