Heulsuse und harter Kerl: Geschlechter-Stereotype schaden unserer Gesundheit

Wie schnell bekommen wir ärztliche Hilfe, wenn wir krank sind? Das hängt auch von Gender-Stereotypen ab – von unseren eigenen und denen in den Köpfen des Gesundheitspersonals. So werden die Schmerzen von Frauen weniger ernstgenommen, Depressionen bei Männern oft nicht erkannt.

vom Recherche-Kollektiv Der andere Körper:
8 Minuten
Im Bild sind eine Frau und ein Mann zu sehen, sie trägt eine Bluse, er Hemd und Sakko. Beide neigen den Kopf nach links, legen die rechte Hand an den Nacken und verziehen offenbar schmerzverzerrt das Gesicht.

Ein fünfjähriges Kind sitzt auf dem Schoß seines Vaters. Es trägt ein rotes T-Shirt, Shorts, die halblangen blonden Haare fallen ihm ins Gesicht. „Au!“, ruft das Kind, als eine Arzthelferin ihm Blut aus der Fingerkuppe abnimmt, dann jammert es noch ein bisschen vor sich hin.

Diesen Videoclip, 58 Sekunden lang, zeigten der Psychologieprofessor Lindsey L. Cohen von der Georgia State University und sein Team 183 Studierenden. Dann baten sie die eine Hälfte von ihnen, anzugeben, wie stark sie die Schmerzen der kleinen Samantha einschätzten. Die andere Hälfte fragten sie, wie stark die Schmerzen des kleinen Samuel gewesen seien. Das Ergebnis der 2014 veröffentlichten Studie: Auf einer Skala von 1 bis 100 wurden Samuels Schmerzen im Durchschnitt bei 65,15 eingeordnet, die von Samantha nur bei 58,75, also als signifikant schwächer – dabei hatten alle Teilnehmenden dasselbe Video desselben Kindes gesehen. Als ein Team der Universität Yale die Studie später mit einer größeren und diverseren Stichprobe wiederholte, stellte es einen ähnlichen Unterschied fest.

Schmerz lässt sich nicht objektiv messen

Wie stark unsere Schmerzen sind, beeinflusst, welche Diagnosen, welche Behandlung, welche Medikamente wir bekommen. Aber Schmerz ist eine subjektive Erfahrung. Es gibt keine objektive Methode, ihn zu messen. Will eine Ärztin wissen, wie stark die Schmerzen eines Patienten sind, kann sie ihn nur danach fragen oder – wie die Studierenden in Cohens Experiment – Schlüsse aus seinem Gesichtsausdruck, seinem Verhalten ziehen.

Wie Ärzt*innen und Pflegepersonal unseren Schmerz behandeln, hängt also einerseits davon ab, wie wir ihn kommunizieren – und andererseits davon, wie sehr sie unseren subjektiven Angaben vertrauen. Beides kann von Rollenbildern und Geschlechterstereotypen beeinflusst sein.

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