Vom Herzschlag bis zum Winterblues

Das Leben ist getaktet

30 Minuten
Eine Uhr liegt zwischen den Pflanzen eines Gartens. Die Uhrzeit ist  19:27 Uhr.

 Im zweiten Teil des Erbe&Umwelt Schwerpunkts zur Chronobiologie geht es um die faszinierende Vielfalt der biologischen Uhren: Es gibt ultradiane Rhythmen, Mondzyklen, Gezeitenrhythmen, die Taktung nach Jahreszeiten, vielleicht auch eine Lebensuhr und manches mehr.

Was ist Zeit? Diese Frage sollte man bloß keinem Physiker stellen. „Der Gedanke, Raum und Zeit müssten so sein, wie sie uns erscheinen, ist Ballast, der abgeworfen werden konnte“, schreibt Henning Genz, im Jahr 2006 verstorbener Autor und Physiker. Eine der wichtigsten Konsequenzen aus Albert Einsteins Relativitätstheorie sei: „Es gibt kein Naturgesetz, das eine wahrhaftige Zeit vor anderen, gleichberechtigten auszeichnete.“ Nur logisch also, dass Physiker heute womöglich mehr denn je darüber uneins sind, was Zeit eigentlich ist. Ihre Zeit kann vorwärts oder rückwärts gehen, sie ist dehnbar, kann mal schneller und mal langsamer sein, sie mag den Weg beschreiben, den ein bestimmtes System nimmt, wenn es sich von der Ordnung zur Unordnung bewegt oder umgekehrt. „Für uns gläubige Physiker hat die Scheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nur die Bedeutung einer wenn auch hartnäckigen Illusion“, brachte Albert Einstein den Sachverhalt auf den Punkt.

Biologen haben es besser – oder zumindest leichter. Für sie entsteht die Zeit – ganz pragmatisch – aus den periodischen Abläufen, die sich das Leben selber schafft, um den unaufhörlichen Fluss der Ereignisse in der Umwelt sinnvoll zu takten. Die Folge sind eine Vielzahl von Rhythmen, mit denen Organismen sich selbst regulieren, auf die Natur reagieren und diese umgekehrt natürlich auch beeinflussen.

Für die Kommunikation innerhalb eines Organismus und zwischen verschiedenen Lebewesen ist es hilfreich, wenn Handlungen oder Signale nicht gleichförmig, konstant und monoton ablaufen, sondern mehr oder weniger stark gepulst auftauchen, oft sogar regelmäßig und zyklisch auf und nieder schwingen. Noch bedeutender für das chronologische Gefüge der Lebewesen ist, dass einige der wichtigsten und dramatischsten Veränderungen in der Umwelt eine zeitlich streng vorhersagbare Folge regelmäßig wiederkehrende astronomischer Ereignisse sind. Die biologischen Uhren, die fast alle Organismen in sich tragen, sagen diese Ereignisse – Tage, Gezeiten, Mondzyklen und Jahre – vorher, helfen sich auf sie einzustellen und möglichst perfekt mit ihnen umzugehen.

Die Zeit umhüllt das Leben wie ein Bündel unterschiedlich großer, konzentrischer Kreise, und das Leben selbst entwickelt seine eigenen, spiegelbildlichen Zyklen, damit es sich in der Natur zurechtfindet. Chronobiologe Jay Dunlap formuliert es treffend: „Geburt bis Tod, ein Kreis, und darinnen lauter Kreise innerhalb von Kreisen – zirkannuale Rhythmen, Menstruationszyklen, Halbmondzyklen und tägliche 24-Stunden-Zyklen.“

Im Körper klingt Musik

Eine Melodielinie taucht auf, dann eine zweite. Sie finden sich zu einem kurzen gemeinsamen Thema, laufen aber unerbittlich wieder auseinander. Das Ohr des Zuhörers versucht zu sortieren, was kaum zu fassen ist, entdeckt neue Rhythmen, um sie sogleich wieder zu verlieren. Die Musik öffnet sich, ein neues Muster entfaltet eine ungewohnte Harmonie, die fasziniert, obwohl sie dem gängigen Hörgefühl zuwider läuft. Der Pianist scheint inzwischen fünf Hände zu haben – und die unerhörte Fähigkeit mit jeder einen anderen Rhythmus zu spielen. Es ist der Franzose Pierre-Laurent Aimard, der eine der virtuosen Klavier-Etüden des zeitgenössischen Komponisten György Ligeti meistert.

Das Stück ist darauf angelegt, vom Einfachen ins Hochkomplexe zu führen. Es folgt keinem der gewohnten Taktschemata. Doch warum bewirkt es beim Zuhörer so eine eigenartige Vertrautheit, so ein Gefühl, das alles schon gehört zu haben?

Dem Rätsel kommt näher, wer eine der interessantesten Quellen für Ligetis Inspiration kennt: die Gesänge der Pygmäen. Das zentralafrikanische Volk, das in den Urwäldern des Kongobeckens lebt, besitzt die komplexeste Vokalmusik der Welt. Seit Jahrtausenden singen die Pygmäen bei nahezu allem was sie tun und geben ihren reichen Liedschatz von Generation zu Generation weiter. Die Gemeinschaft singt zusammen, doch fast jeder eine eigene, festgelegte Melodie, manche trommeln, andere Klatschen. Die Lieder sind polyphon und polyrhythmisch zugleich. Und vermutlich stammen sie aus einer Zeit, als der Mensch ein feineres Gespür für die Natur hatte als heute.

So könnte es sein, dass die Vertrautheit, die Ligetis Musik ausstrahlt, von einer ungeahnten Nähe zur Natur kommt. Ligeti selbst hat über seine Etüden gesagt: „Sie erhalten sich als wachsende Organismen.“ Fast scheint es so, als spiegelte diese Musik etwas wider, was sich pausenlos in unseren Körpern abspielt, den chaotisch wirren Tanz der Nerven, Muskeln und Organe, die Musik des Lebens.

Da überrascht es gar nicht mehr, dass sich die Oszillation von Kalzium in einer Leberzelle, wenn sie vertont wird, ähnlich anhört wie polyrhythmische Musik. Und dass die Hirnaktivität eines zehnjährigen Jungen, die anfangs ruhig und ausgeglichen ist, sich aber langsam aufbauscht und schließlich bis zum epileptischen Anfall steigert, übersetzt in Klaviermusik zumindest ansatzweise als moderne Komposition durchgehen könnte. Gerold Baier, Zell- und Entwicklungsbiologe am University College London, hat diese Beispiele als Anlage zu seinem Buch „Rhythmik“ vertont. Er propagiert die These, dass viele Abläufe des Organismus eine rhythmische Natur haben: der Herzschlag, die Hormonausschüttung, der Stoffwechselaustausch einzelner Zellen, die Übertragung von Informationen in den Nerven und zu den Muskeln. Und dass es der Wissenschaft entscheidend weiterhelfen würde, lernte sie diese Rhythmen wie Musik zu hören und zu deuten.

Tatsächlich äußert sich das Chronologische des Lebens schon in Zeitabschnitten, die weitaus kürzer sind, als der tägliche Schlaf-Wach-Rhythmus oder der alljährliche Wechsel aus Blütezeit und Fruchtwachstum. Fünf Mal pro Sekunde schwingen beispielsweise die Thetawellen, die das Gehirn eines leicht schlafenden Menschen erzeugt. Doppelt so schnell feuern die Nerven eines wenig erregten aber wachen Menschen. Und mit vierzig Hertz, also vierzig Mal pro Sekunde oszillieren die Hirnströme plötzlich, wenn Menschen Sinneseindrücke verarbeiten. Diese so genannten Gammawellen – letztlich das gemeinsame elektrische Signal einer großen Zahl synchron im schnellen Wechsel erregter und gehemmter Nerven – helfen einer neuen Theorie zufolge denjenigen Zellen, die am gleichen Thema arbeiten, zusammenzuhalten. Wolf Singer, emeritierter Direktor am Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt am Main nennt die Gammawellen deshalb auch einen „Kleber“ im Gehirn.

Diese Fotomontage zeigt links eine Lerche und rechts eine Eule.
Als Eulen und Lerchen werden die extremen menschlichen Chronotypen bezeichnet. Die Eulen sind die Spättypen, die abends spät müde werden und morgens lange schlafen können. Lerchen sind die Frühtypen, die abends früh müde werden und morgens ebenfalls früh ausgeschlafen sind.

Warum gibt es innere Uhren? Lesen Sie weiter im dritten Teil des Erbe&Umwelt Schwerpunkts zur Chronobiologie: Warum gutes Timing belohnt wird, wieso Fledermäuse in der Dämmerung jagen, wie Eidechsen im hohen Norden überleben sowie Monarchfalter navigieren, und warum Kinder am liebsten nachts zur Welt kommen.

Der Erbe&Umwelt Schwerpunkt Chronobiologie im Überblick

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