Zum Tag der Erde: Naturschutz muss gerechter werden
Symptombekämpfung im Naturschutz reicht nicht. Interview mit der Umweltwissenschaftlerin Julie Zähringer.
Wir müssen die Hälfte der Erde unter Schutz stellen. Nur so kann die Biodiversität gerettet und ein Massenaussterben verhindert werden. Dies fordern und behaupten viele Naturschützerinnen und Naturschützer. Einer der prominentesten unter ihnen ist der Biologe und Ameisenforscher E.O. Wilson, der 2016 ein Buch verfasste mit dem programmatischen Titel „Die Hälfte der Erde“. Wilsons Stiftung zum Schutz der Biodiversität hat bereits ein „Half-Earth“-Projekt ins Leben gerufen, das für die Idee wirbt.
Mit Erfolg: Die „Hälfte der Erde“ taucht immer wieder auf, wenn es darum geht, über Schutzmassnahmen auf globaler Ebene zu diskutieren. Der „Global Deal for Nature“, den eine Reihe von Ökologen vor einem Jahr vorgestellt haben, hat das Ziel übernommen, zumindest mittelfristig: Bis ins Jahr 2030 sollen 30 Prozent der Erde offiziell geschützt werden, bis 2050 sollen es dann 50 Prozent sein.
Damit gehen Wilson sowie die Initianten des „Global Deal for Nature“ weit über die bisherigen Ziele hinaus. Gemäss der Biodiversitätskonvention sollen 17 Prozent der Landmasse sowie 10 Prozent der Meere unter Schutz gestellt werden – und zwar bis ins laufende Jahr. Im Herbst hätte die Staatengemeinschaft Bilanz ziehen sowie neue Meilensteine im Biodiversitätsschutz definieren sollen. Doch wegen der Corona-Krise ist die internationale Konferenz verschoben worden.
Eine Milliarde Menschen betroffen
Zeit also, „Half-Earth“ kritisch zu betrachten. Denn oft wird bei dieser Idee, die aus Sicht des Naturschutzes einleuchtet, die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Sprich: den Menschen, die von solchen Schutzmassnahmen betroffen wären.
Die Rechnung gemacht haben Forscherinnen der Universitäten Cambridge und Bern. Ihr Resultat, das sie Ende 2019 in „Nature Sustainability“ veröffentlichten, ist eindrücklich: Würde die halbe Erde geschützt, wäre eine Milliarde Menschen direkt davon betroffen.
Eine der rechnenden Forscherinnen ist Julie Zähringer vom „Interdisziplinären Zentrum für Nachhaltige Entwicklung und Umwelt“ der Universität Bern. Die Umweltwissenschaftlerin untersucht in ihrer Arbeit, wie sich Landnutzungsänderungen auf die Bevölkerung vor Ort auswirken: Wie leben Menschen an den Rändern von Naturreservaten? Mit welchen Problemen haben sie zu kämpfen?
Ihre Feldforschung hat sie unter anderem nach Madagaskar geführt. Dabei hat sie festgestellt: Die Forderung nach mehr Schutzgebieten kommt oft aus den reichen Industrieländern, umsetzen müssen sie dann die armen Entwicklungsländer.
„Die Flugbegleiter“ haben mit Julie Zähringer gesprochen und wollten von ihr wissen, wer denn vor allem von „Half-Earth“ betroffen wäre und wie ein gerechter Naturschutz aussieht, der die Bedürfnisse und Interessen der Menschen angemessen berücksichtigt.
Markus Hofmann: Wer wäre am meisten betroffen, wenn die Hälfte der Welt unter Schutz gestellt würde?
Julie Zähringer: Am meisten betroffen wären Länder, in denen Menschen mit niedrigem bis mittleren Einkommen leben. Aber auch Länder, die gemäss Weltbank über die tiefsten Einkommen verfügen, würde es treffen: In diesen Ländern leben 10 Prozent der Menschen, die durch das „Half-Earth“-Projekt Beschränkungen unterworfen wären. Die Industrieländer wären am wenigsten betroffen.
Menschen in Industrieländern kämen also auch nicht ungeschoren davon. Können Sie Beispiele machen?
Ein prominentes Beispiel ist London: Im Grossraum London müssten Gebiete unter Schutz gestellt werden. In der Schweiz wäre der Alpenraum stark betroffen.
In den Alpen gibt es ja bereits grosse Schutzgebiete. Es kämen also noch neue dazu?
Auf jeden Fall. Die bisherigen Schutzgebiete in der Schweiz genügten nicht. Wir wissen aus Erfahrung, wie schwierig es ist, heute einen neuen Nationalpark in der Schweiz zu errichten. Die entsprechenden Bemühungen in den letzten Jahren sind alle gescheitert. Das zeigt, wie schwierig es wäre, einen „Half-Earth“-Plan umzusetzen.
Und wie sähe es in Deutschland aus?
Auch in Deutschland bräuchte es eine Ausweitung der Schutzgebiete: vor allem in Bayern, und in zweiter Linie auch in Norddeutschland, zum Beispiel in Brandenburg und Sachsen-Anhalt.
„Es kann vermehrt zu Konflikten mit Wildtieren kommen“
Was heisst eigentlich „betroffen“: Mit welchen Einschränkungen müssten die Menschen rechnen?
Es ist nicht ganz einfach, darauf zu antworten. Denn die Befürworter von „Half-Earth“ haben sich nicht klar dazu geäussert, welche Art von Schutz sie sich überhaupt vorstellen. Aber wir wissen aus der Forschung, welche negativen Folgen Schutzgebiete für Menschen haben können. Die physische Vertreibung – die Menschen müssen ihren Lebensraum verlassen – sowie die ökonomische Vertreibung stehen im Vordergrund. Bei der ökonomischen Vertreibung können die Menschen zwar weiterhin an ihrem angestammten Ort leben, aber ihre übliche wirtschaftliche Tätigkeit wird verboten oder stark eingeschränkt, zum Beispiel in der Landwirtschaft. Dadurch erfahren sie finanzielle Einbussen. Zudem kann der Fall eintreten, dass durch den Schutz die Zahl der Wildtiere in der Nähe menschlicher Siedlungen zunimmt, was wiederum zu Konflikten führen kann. Das war zum Beispiel in Uganda der Fall, wo Schimpansen die Ernte auf Feldern zerstörten. Und offensichtlich ist, dass durch Schutzgebiete der freie Zugang zu Land eingeschränkt wird. Das kann sich sogar auf kulturelle Tätigkeiten auswirken.
Was muss man sich darunter vorstellen?
In Madagaskar lagen Friedhöfe in Wäldern, zu denen der Zugang wegen der Errichtung eines Nationalparks nicht mehr möglich war. Die Menschen waren gezwungen, ihre Friedhöfe an einen neuen Ort zu verlegen.
Aber es gibt ja auch positive Auswirkungen. Menschen profitieren ganz direkt vom Naturschutz, etwa dank Ökotourismus oder einer gesünderen Umwelt.
Bestimmt. Die Ökosystemleistungen verbessern sich, etwa das Mikroklima oder die Wasserversorgung. Allerdings stellen sich diese Folgen in der Regel erst längerfristig ein. Und ja, dank Ökotourismus können finanzielle Einbussen teilweise gutgemacht werden. In der Praxis besteht allerdings das Problem, dass solche touristischen Einnahmen oft nicht verteilt werden. Oder sie werden in kommunale Projekte gesteckt und kommen nicht den Menschen individuell zugute. So werden in Madagaskar zum Beispiel in Gemeinden, die von Schutzgebieten betroffen sind, Schulhäuser gebaut. Das ist zwar gut, aber es entschädigt nicht den individuellen Verlust, den die Menschen vor Ort erfahren.
Der Biodiversitätsrat IPBES warnt davor, dass eine Million Arten in den kommenden Jahrzehnten aussterben könnte. Da braucht es doch einschneidende Massnahmen.
Damit sind wir auch einverstanden. Wir sagen nicht, dass es keinen Naturschutz braucht. Dieser ist nicht nur wichtig, sondern auch sehr dringend. Aber wir müssen darüber nachdenken, wie wir den Naturschutz gerechter gestalten können. Vor allem dann, wenn wir über Naturschutz reden, der in tropischen Ländern durchgesetzt werden soll, also dort, wo die Biodiversität besonders hoch ist. Die Initiative zu solchem Naturschutz kommt oft aus den reichen Ländern des Nordens. Betroffen sind dann aber Menschen in den Entwicklungsländern im Süden. Diese tragen zwar auch zum Verlust der Biodiversität bei, indem sie etwa Wälder abholzen. Aber die Gründe für die Abholzung werden oft von den Industrieländern gesteuert, wenn man etwa an Produkte wie Palmöl oder Kakao denkt, die bei uns stark nachgefragt werden.
„Verbindliche Abmachungen für alle sind nötig“
Wie liesse sich der Naturschutz gerechter gestalten?
Sehr wichtig ist, dass die betroffenen Menschen eine Mitsprache haben. Sie müssen bei der Planung eines Naturschutzgebietes mitreden dürfen. Das bedeutet Aufwand. Aber Naturschutz funktioniert nur, wenn die Leute vor Ort miteinbezogen werden. Weiter ist eine finanzielle Kompensation notwendig: Wenn es zum Beispiel darum geht, ein Gebiet unbedingt zu schützen, weil nur noch dort eine gewisse Art lebt, dann braucht es eine finanzielle Entschädigung. Denn verbietet man Menschen den Zugang zu einem Gebiet, zum Beispiel zu einem Wald, kann dies existenzbedrohend sein.
Geld kann den Wald auch nicht ersetzen.
Klar, alles lässt sich nicht ersetzen. Aber um den ökonomischen Verlust zu kompensieren, sind Investitionen in Einkommensmöglichkeiten der betroffenen Menschen notwendig, also in Beschäftigungen, die den Wald nicht schädigen. In Madagaskar, wo ich vor Ort forsche, werden zum Beispiel bereits Vanille und Nelken umweltverträglich angebaut. Dies liesse sich weiter ausbauen, damit mehr Menschen profitieren könnten. Doch dafür braucht es eine technische Begleitung und Zugang zum Wissen. Am Ende stellt sich die Frage der Gerechtigkeit: Ist es gerecht, wenn die globale Gemeinschaft bestimmt, einen Wald zu schützen, weil dies für die Biodiversität und das Klima notwendig ist, die Kosten für den Schutz aber nur die Menschen vor Ort tragen? Um hier Gerechtigkeit zu schaffen, ist immer ein Aushandlungsprozess notwendig.
Die Errichtung eines Schutzgebiets ist das eine. Was ist nötig, damit der Schutz umgesetzt und gewährleistet ist?
Die Menschen vor Ort müssen den Schutz akzeptieren. Dafür müssen die Menschen nicht nur bei der Planung mitreden können, sondern auch dann, wenn es um Anpassungen geht. Ich kann ein Beispiel aus Madagaskar erzählen: Da wurden die Grenzen eines Naturparks verschoben, ohne dass man die Menschen darüber informiert hatte. Eines Tages gingen sie aufs Feld und sahen rote Striche an Bäumen, wo die neue Grenze verlief. Solche Anpassungen ohne Mitbestimmungen werden nicht verstanden und akzeptiert. Und wenn Menschen Angst haben müssen, dass ihnen jederzeit noch mehr weggenommen werden könnte, ist dies dem Schutz nicht förderlich. Verbindliche Abmachungen für alle sind daher nötig. Zudem gibt es keinen guten Schutz ohne genügend Personal, Finanzen und Materialien. Doch an all dem fehlt es in Entwicklungsländern oft.
„Wir wissen nie genau, wie viele Schutzgebiete es braucht“
In der Klimapolitik gibt es das 1,5 bzw. 2-Grad-Ziel. In der Biodiversitätspolitik fehlt es bisher an einem solchen eingängigen Ziel. Diese Lücke fühlt der Vorschlag, die Hälfte der Erde unter Schutz zu stellen. Kommunikativ ist das eine gute Sache, man versteht das sofort.
Für die Kommunikation ist das sinnvoll. Damit erreicht man bestimmt viele Menschen. Aber für die Naturschutzplanung bringt ein solches Ziel nicht viel. Denn wir wissen ja nie genau, wie viele Schutzgebiete es braucht. Einen so klaren Grenzwert gibt es im Naturschutz nicht. Vernünftiger ist es, wenn wir in den Regionen prüfen, was realistisch umsetzbar ist. Statt Flächenziele vorzugeben, müssen wir fragen, welche Prozesse es braucht und was zwischen den verschiedenen Akteuren passieren muss, damit die Biodiversität geschützt werden kann. Ansätze, die funktionieren, sollten wir dann auch an anderen Orten mit den notwendigen Anpassungen ausprobieren.
Was raten Sie den Politikerinnen und Politikern, die demnächst neue globale Biodiversitätsziele vereinbaren müssen?
Es braucht auf jeden Fall einen ganzheitlichen und interdisziplinären Ansatz. Der biologische Ansatz alleine genügt nicht. Naturschutz ist eigentlich eine sozialwissenschaftliche Disziplin, denn es geht immer um eine Interaktion von Mensch und der Natur. Und was beeinflusst werden muss, ist das Verhalten der Menschen. Jedes Biodiversitätsziel muss nicht nur auf die ökologischen, sondern auch auf die sozialen und ökonomischen Auswirkungen überprüft werden. Auch dürfen wir nicht nur Symptome bekämpfen wie etwa die Entwaldung. Wir müssen auch die Treiber dieser Symptome anschauen. Wenn die Nachfrage nach einem bestimmten Produkt zur Entwaldung führt, dann muss man versuchen, diese Nachfrage zu steuern. Diese Steuerung liegt dann klar in der Verantwortung der Industrieländer. Doch in der Konsequenz bedeutet das oftmals Verzicht. Und wir wissen ja, wie schwierig es uns fällt, auf nicht lebenswichtige Produkte oder Tätigkeiten zu verzichten.
Zudem dürfen wir den Biodiversitätsschutz nicht für sich alleine anschauen: Wir müssen auch andere Systeme wie etwa das Klima im Blick haben. Denn mit dem Klimawandel werden sich viele Arten geografisch verschieben und aus den bestehenden Schutzgebieten auswandern. Dann werden diese ihre Schutzfunktion gar nicht mehr erfüllen. Auch aus diesem Grund sind im Naturschutz dringend ganzheitlichere Strategien notwendig.