„Die Natur ist sehr dankbar: Wenn wir ihr Zeit und vor allem Raum geben, kommt das Urwüchsige rasch zurück“

Markus Hofmann interviewt Heinrich Haller, den langjährigen Direktor des Schweizerischen Nationalparks

vom Recherche-Kollektiv Flugbegleiter: Markus Hofmann
12 Minuten
Vögel fliegen am Himmel. [AI]

Ein Dutzend Alpendohlen segelt laut rufend über dem Schloss Wildenberg in Zernez. Hier hat die Verwaltung des Schweizerischen Nationalparks im Engadin ihren Sitz – und damit der Park-Direktor Heinrich Haller seinen Arbeitsplatz. Hallers Büro, aus dessen Fenster man auf das moderne Besucherzentrum blickt, ist mit Arvenholz ausgekleidet, in der Ecke steht ein Kachelofen. Seit 1996 ist Haller Direktor des Nationalparks, der weitab von den wirtschaftlichen Zentren des Landes im Südosten der Schweiz liegt.

Ein Biswind bläst den Schnee von den Bergspitzen in den Himmel. Unten im Tal, auf rund 1500 Meter über Meer, macht sich hingegen der Frühling bemerkbar, die Schneedecke an den sonnenbeschienenen Hängen wird dünner, bereits schaut das Gras an einigen Stellen hervor. Die Wege im 170 km2 grossen Nationalparks sind aber weiterhin geschlossen, auf ihnen liegt noch zu viel Schnee. Gemäss der Internationalen Naturschutzunion (IUCN) rangiert der Schweizerische Nationalpark in der höchsten Schutzkategorie Ia; es ist ein Gebiet, das hauptsächlich Forschungszwecken und dem Schutz unbeeinflusster Wildnis dient. Besucher dürfen die Wege nicht verlassen, jegliche Nutzung ist untersagt.

Der Schweizerische Nationalpark ist der älteste der Alpen und Mitteleuropas; 1914 wurde er gegründet. Zum Vergleich: Der Nationalpark Bayrischer Wald, der erste Deutschlands, besteht seit 1970. Doch während in Deutschland in den letzten Jahrzehnten weitere 15 Nationalparks hinzugekommen sind, gibt es in der Schweiz weiterhin nur einen einzigen. Zwei Nationalparkprojekte in den Kantonen Graubünden und Tessin fanden in den Volksabstimmungen 2016 beziehungsweise 2018 keine Mehrheit. Die Bewohner der betroffenen Gemeinden – darunter Jäger, Alpinisten, Pilzsammler und Hundehalter – befürchteten wegen des strengen Naturschutzes, der in einem Nationalpark gilt, in ihrer Bewegungsfreiheit zu stark eingeschränkt zu werden.

Was sind die Gründe für diese Haltung? Welche Zukunft hat der Naturschutz in dicht bevölkerten Ländern wie der Schweiz? Das wollten wir von Heinrich Haller wissen, der im Laufe seiner Karriere auch als Wildtierbiologe an der Universität Göttingen Gebirgsökologie unterrichtete. Ende dieses Jahres geht Haller in Pension. Danach wird er wieder mehr Zeit haben, sich einer seiner Leidenschaften zu widmen: dem Beobachten von Vögeln. Auch darüber haben wir selbstverständlich mit Heinrich Haller gesprochen.

ein Gebäude mit einem Kirchturm und Schnee auf dem Boden [AI]
Zernez ist das Tor zum Schweizerischen Nationalpark. Im Schloss Wildenberg hat die Parkverwaltung ihren Sitz.

Die Flugbegleiter: In den letzten Jahren gab es in der Schweiz Projekte für zwei neue Nationalparks. Beide scheiterten bei Volksabstimmungen. Wieso tut sich die Schweiz so schwer mit neuen Nationalparks?

Heinrich Haller: Grund dafür sind unsere speziellen territorialen Befindlichkeiten. Wir sind ein durch und durch basisdemokratisches Land. Einen bestimmenden Einfluss von oben wie er in Deutschland oder noch stärker in Frankreich vorhanden ist, ist bei uns undenkbar. Das hat staatspolitisch viele Vorteile: Wir können als Stimmbürger unsere Rechte und Pflichten wahrnehmen. Aber wenn es darum geht, ein streng geschütztes Naturschutzgebiet zu gründen, ist das eine grosse Hürde – eine offensichtlich unüberwindliche Hürde, wie die beiden Fälle zeigen.

Was wäre zu tun?

Ich will ganz klar festhalten, dass die Basisdemokratie in der Schweiz nichts Schlechtes ist. Im Fall von Nationalparks braucht es neben den Abstimmungen in den betroffenen Gemeinden aber auch eine Form der Mitsprache übergeordneter staatlicher Ebenen, also von den Kantonen und der Eidgenossenschaft. Und man müsste mehr Anreize schaffen

Welche Anreize?

In erster Linie finanzielle Anreize. Denn der Wert, der hinter dem Natur- und Umweltschutz steckt, wird derzeit nicht genügend hoch veranschlagt. Es geht doch im wahrsten Sinne des Wortes um unser Naturerbe, das wir für unsere Nachkommen erhalten müssen. Die Natur ist unsere Lebensgrundlage. Wir benötigen streng geschützte Gebiete als eine Art Tabuzone, gerade weil wir die restliche Fläche des Landes so stark beanspruchen. Das investierte Geld fliesst ja zurück, wie der Nationalpark im Engadin zeigt: Er trägt massgeblich zur Wertschöpfung in der Region bei.

Schauen wir über die Schweizer Grenze, nach Baden-Württemberg. Da sieht es anders aus. 2014 wurde dort der Nationalpark Schwarzwald gegründet. Es gab nicht dieselben basisdemokratischen Hürden zu nehmen wie in der Schweiz.

Ja, das ist so. Dazu kommt, dass in Deutschland vergleichsweise grosse territoriale Einheiten vorhanden sind. So gibt es dort zum Beispiel Staatswaldungen grösseren Ausmasses. Das macht es einfacher, Schutzgebiete auszuscheiden. In der Schweiz liegt hingegen vieles im Schoss der einzelnen Gemeinden; sie entscheiden, was auf ihrem Boden passiert. Auch das ist grundsätzlich nicht schlecht, nur macht es die Aufgabe, einen neuen Nationalpark zu gründen, halt sehr schwierig.

„Überbaute Landschaften passen

nicht zum modernen Tourismus“

Man hat den Eindruck, dass die städtische Bevölkerung in den Bergen die Natur sucht, die sie in der Stadt verloren hat. Die Menschen in den Bergen wollen sich aber wirtschaftlich entwickeln und bauen lieber Skisportanlagen als neue Naturschutzgebiete zu gründen.

Dahinter steckt ein Missverständnis: Denn man kann auch Städte sehr attraktiv gestalten. Ansätze dazu gibt es. Die grössten Probleme mit der schwindenden Biodiversität kennen wir im Kulturland, wo Agrarsteppen die Landschaft prägen. In den Berggebieten ist der wirtschaftliche Erfolg selbstverständlich wichtig; die Bevölkerung muss hier ein Auskommen finden. Die Frage ist nun: Ist der Bevölkerung wirtschaftlich mit dem zusätzlichen Bau von Sportanlagen gedient? Der Trend im Tourismus geht doch eigentlich in eine andere Richtung: Man will durchschnaufen, sucht Ruhe und Entschleunigung. Dafür ist eine weitere Überbauung der Landschaft nur nachteilig.

Wird es in der Schweiz jemals einen weiteren Nationalpark geben?

Ich hoffe es sehr. Aber das wird nicht in absehbarer Zeit geschehen. Die zwei Nationalpark-Projekte waren sehr gut vorbereitet und sind trotzdem gescheitert. Es braucht daher nun eine gewisse Frist, bis man sich wieder an ein neues Projekt wagen kann. Zu hoffen ist, dass es zu einer weiteren Sensibilisierung der Bevölkerung kommt, was den Umweltschutz betrifft. Die gegenwärtigen Aufbrüche mit den Demonstrationen gegen den Klimawandel deuten in diese Richtung. Allerdings: Die Klimaerwärmung ist ein sehr zentrales Problem, aber es ist nicht das einzige grosse Problem. Die Eutrophierung, also die erhöhten Stickstoffeinträge in die Ökosysteme, sowie der Schwund der Biodiversität sind ebenso ernst zu nehmen.

Vor kurzem sagten Sie, sie könnten sich einen Nationalpark auch im stark bevölkerten und genutzten Schweizer Mittelland vorstellen, zum Beispiel im Kanton Aargau. War das mehr als eine Provokation?

Ja, es war eine Provokation, aber keine grundlose. Es ist mir durchaus ernst damit, selbstverständlich nicht morgen, aber langfristig. Es ist doch klar: Die Bedürfnisse nach Rückzugsräumen und nach intakter Natur bleiben bestehen oder werden sogar zunehmen. Und gerade das Mittelland, wo es tolle Flüsse und angrenzende Landschaften gibt, ist ein sehr wertvoller Naturraum. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Natur sehr dankbar ist: Wenn wir ihr Zeit und vor allem Raum geben, kommt das Urwüchsige rasch zurück. Mit gutem Willen wäre ein solcher Nationalpark im Mittelland durchaus möglich. Schauen Sie nach Deutschland, da gibt es etwa den Nationalpark Unteres Odertal. Was dort möglich ist, sollte doch auch in der Schweiz klappen.

Bei Ihrem Amtsantritt sagten Sie, der Schweizerische Nationalpark sei in erster Linie für die Natur da, nicht für die Menschen. 150'000 Parkbesucher zählen sie im Schnitt jedes Jahr, viele von ihnen kommen mit dem eigenen Auto und benutzen die Ofenpassstrasse, die mitten durch den Park führt. Wie sind Sie mit diesem Nutzungskonflikt umgegangen?

Klar ist: Ökologie kommt vor Ökonomie. Wäre es anders, würde man dem Nationalpark nicht gerecht werden. Ebenso wichtig ist aber auch, dass die regionale Wirtschaft eingebunden wird. Naturschutz lohnt sich und zwar auch wirtschaftlich, vielen ist das aber noch zu wenig bewusst. Auf der anderen Seite braucht es aber auch die Offenheit der Naturschützer: Eine doktrinäre Haltung nützt der Natur letztlich nichts. Es sind immer Abwägungen zwischen Schutz und Nutzung notwendig. Zu Ihrem Beispiel: Die Ofenpassstrasse ist meine Hauptsorge. Sie wertet den Nationalpark ab. Als der Nationalpark 1914 gegründet wurde, war dies hier eine Idylle.

„Ein Tal zu entvölkern, nur um mehr Platz für die Natur zu haben,

das geht hier nicht und das ist richtig so.“

Wie war die Situation damals?

Es gab nur Pferdekutschen, im Kanton Graubünden wurden Autos erst 1925 zugelassen. Diese Situation kann man natürlich nicht mehr mit heute vergleichen. Ich bin ein Realo: Die Ofenpassstrasse zu schliessen, ist illusorisch. Sie verbindet das Engadin mit dem Schweizer Münstertal und dem italienische Vinschgau. Ein Tunnel wäre die beste Lösung, aber den kann niemand bezahlen. Man müsste die durch die Strasse bewirkten Einbussen andernorts kompensieren, zum Beispiel durch die Ausweitung des Schutzgebiets. Das ist uns aber nicht in genügendem Ausmass gelungen.

ein Mann sitzt an einem Schreibtisch und hält ein Blatt Papier [AI]
Der Wildtierbiologe Heinrich Haller ist seit 1996 Direktor des Schweizerischen Nationalparks.

Der Druck auf die Umwelt macht vor den Naturschutzgebieten nicht halt. Die berühmte deutsche Insektenstudie, die 2017 weltweit Schlagzeilen machte, belegte einen starken Rückgang von Insekten – und zwar ausgerechnet in Schutzgebieten. Und in Grossbritannien ist ebenfalls gerade Alarm geschlagen worden: Dort gehen die Bestände der Wildtiere in den Naturparks ebenfalls stark zurück. Sind Naturschutzgebiete keine Naturoasen mehr?

Doch, bei uns schon! Es ist erstaunlich, was im Schweizerischen Nationalpark an Tieren und Pflanzen vorhanden ist. Ja, eigentlich ist der ganze Kernraum der inneren Alpen weiterhin intakt. Wir haben hier eine Bevölkerungsdichte von acht Personen pro Quadratkilometer. Da gibt es noch Platz für die Natur. Der Schweizerische Nationalpark ist keine Oase in einer naturfernen Umgebung, sondern wir sind eingebettet in einen weitgehend gut erhaltenen Aussenraum. Umso wichtiger ist es, auch diesen zu bewahren. Dennoch dürfen wir die Augen vor Verschlechterungen nicht verschliessen: Auch hier oben findet eine Intensivierung der Landwirtschaft statt. Man sieht das zum Beispiel beim Braunkehlchen, dessen Bestand im Engadin wegen Überdüngung und zu häufiger Mahd zurückgeht.

Natur benötigt Raum, sagen Sie. Was halten Sie von der Idee des Rewilding, also Gebiete, die vom Menschen verlassen worden sind, der Natur zu überlassen?

Das ist perfekt, aber wir haben keine entvölkerten Talschaften in der Schweiz. Und sie zu entvölkern, nur um mehr Platz für die Natur zu haben, das geht hier nicht. Was auch richtig ist so. Denn ein gutes Nebeneinander von Mensch und Natur ist möglich. Wie eine Studie von Mountain Wilderness zeigt, gibt es in der Schweiz durchaus noch Wildnis. Wichtig ist nun, dass wir die Erschliessung dieser wilden Gebiete mit Strassen und anderen Einrichtungen verhindern. Ich bin ein liberaler Mensch, abgesehen von besonders geschützten Zonen soll jeder hingehen können, wohin er will, aber man muss ihm dies ja nicht mit Infrastrukturen erleichtern.

„Im Umgang mit Wolf, Luchs und Bär braucht

es mehr Toleranz und weniger Kleinkrämerei“

Der berühmte Biologe E. O. Wilson fordert, die eine Hälfte der Welt auf Land und im Meer zu schützen, die andere Hälfte wäre dann für die Menschen. Nur so sei die Biodiversität zu retten. Unterstützen sie diese Idee?

Wilson ist eine faszinierende Persönlichkeit und war früher ein Top-Biologe. Und selbstverständlich hat er im Grundsatz auch recht. Aber diese Idee ist schlicht nicht umsetzbar. Bereits die Ankündigung schreckt viele Menschen ab, und die Gefahr besteht, dass wir dadurch die Unterstützung dieser Menschen für vernünftige Naturschutzprojekte verlieren.

Im Umgang mit Wolf, Luchs und Bär braucht es mehr Toleranz und weniger Kleinkrämerei.Wolf, Bär und Luchs sorgen in der Schweiz und in vielen anderen mitteleuropäischen Ländern seit Jahren für hitzige Diskussionen. Sind sie für die einen Sinnbilder verlorener Wildnis, sind sie für die anderen Schädlinge, die hier nichts verloren haben. Wird sich die Gesellschaft auf einen für Prädatoren und Mensch verträglichen Umgang einigen?

Das wäre dringend nötig. Gerade wenn wir die grossen Verluste in Betracht ziehen, die die Biodiversität erlitten hat und wohl noch weiter erleiden wird, müssen wir doch positive Entwicklungen wie eben die Rückkehr dieser Tiere schätzen und uns bemühen, einen guten Umgang mit ihnen zu finden. Konflikte gibt es, doch diese sind mit etwas zusätzlichem Aufwand lösbar.

Aber die politische Entwicklung deutet in die andere Richtung. Die Schweiz etwa hinterfragt den Schutzstatus des Wolfs.

Ich bedauere das sehr und hoffe, dass nun ein Ruck durch die Bevölkerung geht und sie erkennt, wie wichtig Natur und Umwelt sind – auch was unsere psychische Befindlichkeit betrifft. Ich sage jeweils: Der Nationalparkt ist nicht nur ein Biotop, sondern auch ein Psychotop. Es geht uns einfach besser in einer intakten Natur. Im Umgang mit Wolf, Luchs und Bär braucht es mehr Toleranz und weniger Kleinkrämerei.

eine Nahaufnahme eines Vogels [AI]
Dem Steinadler geht es in den Schweizer Alpen wieder bestens. Nun breitet er sich in tiefere Lagen sowie in den Jura aus.

Sie haben sich als Wildtierbiologe immer wieder auch mit Vögeln beschäftigt. Dabei sagten Sie einmal: Die grösste Herausforderung für einen Feldforscher und Ornithologen sei die Erforschung des Uhus. Was ist so speziell an diesem Vogel?

Ich war schon als Jugendlicher fasziniert von dieser Art. Ich machte mit einer Arbeit über den Uhu am Wettbewerb „Schweizer Jugend forscht“ mit. Für mich galt der Uhu damals als ein Ausdruck unversehrter Natur. In Graubünden war er – wie überall – selten. Es war daher eine grosse Herausforderung für mich, ihn überhaupt zu finden. Dass der Uhu ein nachtaktiver Vogel ist, machte die Sache natürlich nicht einfacher, aber umso spannender.

Wie geht es dem Uhu jetzt in Graubünden?

Nach wie vor nicht gut, ja, gar schlechter. Aber im Schweizer Jura und im Mittelland hat sich der Uhu-Bestand erholt im Vergleich zu den 1970er Jahren

Was ist der Grund für die schlechte Situation in Graubünden?

Der Lebensraum des Uhus zieht sich in den Alpen fast ausschliesslich entlang den Haupttälern. Diese sind gleichzeitig Zivilisationsachsen mit Stromleitungen, Eisenbahntrasses und Strassen.

Uhus werden zu Verkehrsopfern?

Ja, aber man versucht, etwas dagegen zu unternehmen, indem man zum Beispiel Stromleitungen, an denen Uhus durch einen Schlag getötet werden können, in den Boden verlegt. Aber das braucht Zeit.

Einen Namen haben Sie sich mit Steinadler-Studien gemacht. Heute leben 350 bis 360 Steinadler-Paare in der Schweiz, der Schweizer Alpenraum gilt als besetzt. Kommt es nun zum Dichtestress bei den Steinadlern?

Das ist so, aber das ist ganz natürlich.

Wie reagieren die Steinadler darauf, besiedeln sie den Rest der Schweiz?

Das tun sie bereits. Aber es gibt Grenzen, denn der Steinadler ist angewiesen auf grosse und einigermassen ruhige Jagdgebiete, wie man sie beispielsweise auch im hügeligen Alpenvorland findet. Da gibt es sicher noch einige Standorte, die der Steinadler besetzen kann. Derzeit erobert er gerade den Jura. Und möglicherweise wird er bald auch den Schwarzwald und andere Mittelgebirge aufsuchen. Das ist etwas total Positives. Deshalb sollten wir auch nicht sagen, dass alle Hoffnung verloren ist und der Naturschutz sowieso keinen Sinn ergibt. Im Gegenteil: Es gibt viele gute Entwicklungen, die man hervorheben und weiter unterstützen soll.

„Alpenschneehühner werden nun im Durchschnitt

100 Meter höher angetroffen als noch vor 20 Jahren“

Ein grosser Erfolg des Artenschutzes ist die Wiederansiedlung des Bartgeiers – gerade auch im Schweizerischen Nationalpark. 2017 waren hier fünf Horste im Park besetzt. Ist die Zukunft des Bartgeiers gesichert?

Nicht definitiv. Es sollte in den Alpen mehrere Hundert Paare geben, damit der Bestand gesichert ist. Soweit sind wir noch nicht, aber wir sind auf dem richtigen Weg. In Graubünden und den angrenzenden italienischen Gebieten ist die Bestandsentwicklung besonders gut, was mich natürlich freut.

In letzter Zeit haben Sie sich etwas intensiver mit den Kolkraben beschäftigt, die im Nationalpark auch zu finden sind.

Ich beobachte Kolkraben schon seit Jahrzehnten – vor allem aus purer Freude und Faszination. Der Kolkrabe ist ein sehr charaktervolles Tier: eben rabenschwarz, ein extremer Flugkünstler mit hohen kognitiven Fähigkeiten. Als Kulturfolger haben Kolkraben einen starken Bezug zum Menschen und umgekehrt. Denken Sie nur an die vielen Mythologien, in denen er eine Rolle spielt. Als Biologe hat es mich gereizt, eine Bestandsaufnahme des Kolkraben im und rund um den Nationalpark zu machen. Der Bestand ist hier klein. Doch das ist keine Überraschung. Falls das Angebot an Kadavern gering ausfällt, ist es für den Kolkraben schwierig, in dieser eher unproduktiven Hochgebirgslage genügend Futter zur Jungenaufzucht zu finden. Deshalb geht es ihm am besten in der landwirtschaftlich genutzten und reich strukturierten Kulturlandschaft, eben dort, wo der Mensch ist.

Die Vögel des Nationalparks sind den harten klimatischen Bedingungen angepasst. Wie wird sich der Klimawandel auf den Vogelbestand auswirken?

Einzelne Arten – wie zum Beispiel das Alpenschneehuhn – müssen höhere Lagen aufsuchen. Das kann man bereits beobachten, die Alpenschneehühner werden nun im Durchschnitt 100 Meter höher angetroffen als noch vor 20 Jahren. Hier im Hochgebirge können sie noch weiter hinauf, an anderen, tiefer gelegenen Gebieten wird es hingegen schwieriger.

Wenn die Schneehühner ohnehin unter Druck stehen: Ist dann die Jagd auf sie noch nötig?

Nötig nicht. Aber ich bin nicht der Meinung, dass man die Jagd deswegen verbieten muss. Sie hat keinen entscheidenden Einfluss auf den Bestand des Alpenschneehuhns. Ich bin kein Jagdgegner, ich ging früher selber auf die Jagd, wenn auch ausschliesslich auf Huftiere. Die Jagd ist sinnvoll und gut, wenn es dabei um die nachhaltige Nutzung eines hochwertigen Nahrungsmittels geht.

Sie waren nun knapp 25 Jahre Park-Direktor: Wie sieht der Nationalpark in einem Vierteljahrhundert aus?

Ich bin guter Dinge. Der Schweizerische Nationalpark ist politisch und gesellschaftlich breit abgestützt. Je älter der Park wird, desto wertvoller wird er auch. Und ich hoffe, dass mit der Wertschätzung gegenüber dem Park auch die allgemeine Wertschätzung gegenüber der Natur wächst.

Literatur:

Rudolf Haller, Maja Rapp, Andrea Hämmerle (Hg.): Am Puls der Natur. Der Nationalpark und sein Direktor im Spannungsfeld zwischen Forschung, Management und Politik. Haupt Verlag, Bern 2018. 256 Seiten, CHF 39, Euro 39.

Eine Blumenwiese mit Werbe-Slogan drauf.
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