Die digitalen Geister des Regenwaldes
Die Shipibo setzen moderne Technik ein, um die Natur und ihre eigene Lebensweise zu bewahren
Die Waldbrände im Amazonas bewegen viele Menschen und sind Thema der Weltpolitik. Wir bei RiffReporter wollen Probleme klar benennen, aber auch über Lösungen berichten. Die Menschen, um die es in diesem Beitrag geht, arbeiten konkret am Schutz des Regenwaldes.
Wenn Teddy Cairuna seine Drohne steigen lassen will, bittet er vorher die Geister des Waldes um Erlaubnis. Dazu spielt er auf seinem Handy seinen Lieblings-Icaro ab, einen eintönigen Gesang in der Sprache der Shipibo. Er verbindet den Geist der Pflanzen mit dem Geist der Menschen.
„Schau, da lässt sich ein Schmetterling nieder, der Wald ist einverstanden“, freut sich Teddy und holt seine Drohne aus dem Rucksack. Geschickt manövriert der 38-Jährige vom Volk der Shipibo mit seiner Steuerung das fast neue Fluggerät über die Bäume. Das Surren der Drohne verscheucht den Schmetterling. Der schlaksige Mann trägt Gummistiefel, Jeans und eine graue Weste mit der Aufschrift „Wald-Patrouille der Gemeinde Nuevo Saposoa“. Er gehört zu der freiwilligen Waldhütergruppe seines Dorfes, eine Art freiwillige Feuerwehr, die darauf achtet, dass niemand sich an ihrem Gemeinschaftswald vergreift.
Wir stehen mitten im peruanischen Regenwald, an der Grenze des 9.678 Hektar umfassenden Gemeinschaftswaldes der Shipibo-Gemeinde.
Vier Stunden hat die Bootsfahrt von der Provinzhauptstadt Pucallpa bis zur Siedlung Nuevo Saposoa gedauert – und zur Grenze des Gemeinschaftswaldes noch einmal so lange. Das Dorf mit seinen rund 250 Einwohnern wirkt auf den ersten Blick wie ein Hort der Idylle. Holzhäuschen stehen in einer Reihe auf Pfählen, damit sie während der Regenzeit nicht überschwemmt werden. Einige sind bunt angestrichen, auf den Veranden baumeln Hängematten. Nachts hört man nur die Geräusche des Waldes und das Lachen aus einigen Häusern. Noch gibt es hier kein Internet, keinen Handyempfang und der Strom aus Solarzellen reicht nicht für Fernseher und Computer, sondern gerade mal für eine Glühbirne pro Hütte – und die Batterie der Drohne.
Auf dem Display des Steuerungsgerätes sieht Cairuna, was die über ihm schwebende Drohnenkamera aufnimmt. Sie kann über die angrenzenden Baumreihen fliegen, die vom Boden aus die Sicht in den Wald versperren. Noch vor zwei Jahren hatten dort Eindringlinge Koka angepflanzt.
„Wir wollen sicher sein, dass die Koka-Bauern nicht zurückkommen“, erklärt er. Er ist zufrieden mit dem, was er sieht: Auf den damals gerodeten Flächen wächst nun der Wald nach. Kein Zeichen neuer Eindringlinge. „Sie wissen, dass wir hier patrouillieren, und lassen sich deswegen nicht mehr blicken.“
Die Drohne und GPS-Karten erlauben es, Verbrechen zu beweisen
In aller Frühe waren wir vom Dorf aufgebrochen, um in zwei Holzbooten mit je einem Außenbordmotor in den Wald hineinzufahren. Teddy Cairuna steht dabei am Bug und weist seinem Bruder Larry am Steuerruder den Weg durch Schling- und Wasserpflanzen, Stromschnellen und umgestürzte Baumstämme. „Schon mit zwölf Jahren lernen wir, mit dem Boot auf unseren Flüssen zu fahren“, erklärt er und zeigt zielsicher nach links, wo eine kleine Fahrrinne verläuft und wir in einen Nebenarm abbiegen.
Die stundenlange Fahrt durch Flüsse und Bäche gleicht einer Fahrt durch ein verwunschenes Paradies. Auf dem Wasser spiegeln sich die umgebenden Pflanzen, Sträucher, Lianen und Bäume, als ob es zwei Welten gäbe, eine über und eine unter dem Wasser. Jeden Moment, so meint man, könnte ein Waldgeist von einem der Bäume herunterkommen oder eine Nixe aus dem Wasser auftauchen.
Für die Menschen, die hier leben, ist dies Realität. Im Wasser leben die Geister der Toten in unterirdischen Städten und sie gilt es zu ehren und gegen Eindringlinge zu schützen. Derer gibt es leider recht viele.
„Vor drei Jahren hatten wir 260 Alarme wegen illegaler Eindringlinge“, sagt Teddy Cairuna. Die größte Gefahr für Nuevo Saposoa geht von illegalen Koka-Bauern aus, die – oft im Auftrag von Drogenhändlern – Waldgebiete roden und die verbotene Pflanze anbauen. Aber auch Holzhändler wollen aus dem Regenwald Gewinn schlagen und fällen verbotenerweise Bäume. Wie zum Beweis kommt uns auf der schmalen Wasserstraße ein Lastenschiff voller Baumstämme entgegen.
„Wenn wir in den Wald auf die Jagd gingen oder für unseren eigenen Hausbau Holz schlugen, bemerkten wir zwar die illegalen Eindringlinge, aber wir hatten keine Beweise, die wir der Polizei vorlegen konnten.“ Kamen die Vertreter der Staatsgewalt Wochen später in das Gebiet, so fanden sie oft niemanden mehr vor und mussten unverrichteter Dinge wieder abziehen.
Angst vor Eskalation
„Deswegen sind Smartphones, Drohnen und die Satellitenkarten so nützlich für uns“, erklärt der Shipibo und zieht sein neues weißes Handy aus der Hosentasche. Telefonieren kann er damit nicht, es gibt kein Netz. Aber er kann Fotos machen, die genauen Koordinaten mittels GPS feststellen und den Behörden übermitteln. Die Nichtregierungsorganisation Rainforest Foundation US hat es ihm zur Verfügung gestellt und Teddy Cairuna und seine Mitstreiter auch in der Handhabung der Drohnen geschult.
„Wir wussten nicht, was das ist, dachten, das seien kleine Flugzeuge“, erzählt er. „Dass ich, ein einfacher Shipibo, je eine Drohne fliegen lassen könnte, davon hätte ich nie geträumt.“ Er ist sichtbar stolz auf seine neuen Fähigkeiten. Und noch einen Vorteil hat die Drohne bei der Überwachung des Waldes: „Oft ist es zu gefährlich, wenn wir die Eindringlinge direkt konfrontieren“, sagt Cairuna.
Erst im vergangenen Jahr wurde ein Mitglied des Nachbardorfes umgebracht. Dank der Drohne können sie nun Aufnahmen betroffener Gebiete machen, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen. Nicht wie vor einem Jahr, als sie mitten im Wald plötzlich einen Holzfäller antrafen. Auch an diesem Ort wollen die Brüder heute kontrollieren, ob alles in Ordnung ist.
Wir steigen das lehmige Ufer hoch und gehen eine halbe Stunde durch den Wald. Wobei der Amazonas-Regenwald mit unserem deutschen Kulturwald wenig gemein hat. Vor jedem Tritt schlägt Larry Cairuna mit seiner Machete einen kleinen Pfad frei. Lianen, Blätter, Wurzeln und Äste bedecken den Boden, Ameisen und Käfer krabbeln umher. Alles schimmert dunkelgrün oder braun, die Bäume sind so hoch, dass kein Sonnenlicht durchbricht. Es riecht nach Nässe und Moder und die Moskitos stechen im Sekundentakt.
Den Wert dieses Waldes als Speicher von Kohlenstoff und Hort der Artenvielfalt kann man nur erahnen. Auf einmal sehen wir mitten im Dickicht Holzbalken gegen die Bäume gelehnt. „Hier haben wir den Holzfäller angetroffen. Er hatte die Stämme zu Balken verarbeitet und war gerade dabei, sie aus dem Wald zu schleppen“, berichtet Teddy Cairuna. „Wir begannen heftig zu streiten, wessen Land das sei, auf dem er Holz geschlagen hat. Zum Glück ist es nicht eskaliert, aber das war eine gefährliche Situation.“
Der Lohn für Waldschutz wirkt noch nicht in der Fläche
Dank der GPS-Koordinaten konnten sie nachweisen, dass es ihr Gemeinschaftsland war, Polizei und Staatsanwaltschaft alarmieren und den Holzfäller vertreiben. Heute prangt an dieser Stelle ein weiß gestrichener Pfahl – er markiert die Grenze des Gemeinschaftswaldes von Nuevo Saposoa.
Trotz oder gerade wegen seiner Unzugänglichkeit ist der Amazonas-Regenwald zum Spielball vielfältiger Interessen geworden. Um eines der letzten unerschlossenen Waldgebiete ist ein Tauziehen im Gange, mit zum Teil ungleichen Mitteln. Auf der einen Seite stehen die Indigenen, die ihren Wald schützen wollen. Unterstützung erhalten sie von ausländischen NGOs wie der Rainforest Foundation, vom Waldschutzprogramm des peruanischen Umweltministeriums und vom Umweltstaatsanwalt Jose Luis Guzmán. Unterstützt werden diese staatlichen Programme auch mit Klimaschutzgeldern ausländischer Staaten, so auch mit Geldern der vom deutschen Bundesumweltministerium gespeisten Internationalen Klima-Initiative.
Die Gemeinde Nuevo Saposoa hat einen Vertrag mit dem peruanischen Waldschutzprogramm abgeschlossen – im Gegenzug für ihren aktiven Bestandsschutz des Waldes erhält sie direkte Ausgleichszahlungen. „Zehn Soles (drei Euro) erhält das Dorf pro Jahr für jeden Hektar bewahrten Gemeinschaftswald“, sagt Brenda Maldonado vom staatlichen Waldschutzprogramm. Das Geld wird gemäß einem von der Dorfgemeinschaft aufgestellten Investitionsplan verwendet. „Nuevo Saposoa beschloss, mit dem Geld neue Netze für den Fischfang, eine Herberge für Tourist*innen und eben eine Drohne anzuschaffen“, berichtet Maldonado.
209 indigene Gemeinden beteiligen sich in Peru an diesem Programm. Bis 2020 sollen damit 54 Millionen Hektar Wald erhalten werden. Darunter fallen Naturschutzgebiete und fünf Millionen Hektar, die Gemeinden wie Nuevo Saposoa gehören. Aber die Wirklichkeit sieht anders aus. „Mit den Direktzahlungen an die Gemeinden haben wir bisher gerade mal zwei Millionen Hektar Wald erhalten“, gibt Brenda Maldonado vom staatlichen Waldschutzprogramm zu.
Ein Umweltstaatsanwalt ohne Transportmittel
Stattdessen hat Peru zwischen 2012 und 2017 jährlich rund 155.000 Hektar Wald verloren. Denn die Kräfte, die an der anderen Seite des Taus ziehen, sind ungleich mächtiger: das Landwirtschaftsministerium, die Regionalregierung, kleine und größere Siedler*innen, Landspekulant*innen, Goldgräber*innen und Palmölplantagenbesitzer*innen. Noch immer schwebt bei manch einem Beamten die alte Idee im Kopf herum, dass der Amazonas erschlossen und landwirtschaftlich in Wert gesetzt werden soll.
Umweltstaatsanwalt José Luis Guzmán erklärt, wie einfach es in Peru immer noch ist, eigentlich unveräußerliches Waldgebiet in Nutzland umzuwandeln: „Ein Siedler fällt einen Hektar, baut darauf Mais oder Soja an und beantragt dann beim Landwirtschaftsministerium die Umnutzung des Landes – am besten gleich für eine viel größere Fläche als die tatsächlich von ihm gerodete.“ Ist das Land einmal für landwirtschaftliche Nutzung ausgewiesen, kann es ins Grundbuchamt eingeschrieben und ganz legal verkauft werden.
Käufer*innen sind dann zum Beispiel Investor*innen im Auftrag großer Palmöl-Konzerne. Guzmán kann seine Empörung angesichts dieser Praktiken, die er tagtäglich erfährt, kaum zurückhalten. Eine große Rolle spielen auch korrupte Beamte. Kurz vor Weihnachten 2018 wurde der Landwirtschaftsdirektor der Region Ucayali wegen Korruption abgesetzt – er hatte sich massiv an Landspekulationen bereichert.
Die Arbeit der staatlichen Waldschützer wird auch von mangelnder Ausrüstung behindert. „Wenn wir eine Anzeige von einem Dorf bekommen, dann müssen wir erst die Marine oder eine Nichtregierungsorganisation darum bitten, dass sie uns ein Boot und das dazugehörige Benzin stellt“, sagt Guzmán. Der Umweltstaatsanwalt und die fünf Umweltpolizisten von Ucayali verfügen über kein eigenes Transportmittel, mit dem sie über die Wasserstraßen in den Wald hineinfahren können.
Das Leben in Nuevo Saposoa mag idyllisch wirken, aber materiell gesehen gehören die Menschen hier zu den Ärmsten in Peru. Die Menschen leben vom Fischfang, die meisten haben in ihrem Hinterhof noch ein paar Enten und Hühner. Die Frauen nähen traditionelle Blusen in der Hoffnung, sie für ein paar Soles an eine der wenigen Touristinnen zu verkaufen, die sich bis hierher verirren. Denn Geld ist rar in Nuevo Saposoa, und die Menschen benötigen auch hier Hefte und Stifte für ihre Kinder, Benzin für ihre Außenbordmotoren und Medikamente, wenn die alten Schamanen nicht mehr weiter wissen.
Eng verbunden mit den Pflanzen, Bäumen, Tieren
Auch im Regenwald hält das moderne Leben Einzug. Die Direktzahlungen des Waldschutzprogramms kommen einkommensfördernden Projekten des ganzen Dorfes zugute – es wurden etwa Fischernetze oder Stoffe damit gekauft. Löhne für die Waldschützer selbst sind jedoch nicht vorgesehen. Teddy Cairuna ist damit nicht einverstanden „Das mit der traditionellen Gemeinschaftsarbeit, die jeder ehrenamtlich verrichtet, funktioniert hier nicht mehr“, sagt er.
Deshalb möchte er, dass der peruanische Staat auch die einzelnen Waldhüter für ihre Dienstleistung bezahlt. „Denn wir schützen den Wald ja nicht nur für uns, wir tun das für die ganze Welt.“
Naturschutz als Tradition
Rosa Cairuna, eine Tante der Drohnenpiloten Larry und Teddy, sitzt auf ihrer Veranda und näht auf einer fußgetriebenen Nähmaschine. Trotz ihrer 65 Jahre glänzt ihr langes Haar pechschwarz, und behände steigt sie die Hühnerleiter von ihrem Haus herunter. Ihr Mann liegt daneben in der Hängematte und schnitzt ein Paddel für sein Kanu.
Dabei erzählt er von den alten Legenden und Bräuchen: dass Mütter ihre Babys mit einem Tuch bedeckten, sobald sie unter einem der mächtigen Kapokbäume vorbeikommen, damit dieser ihre Kinder nicht verhexe. Oder dass frischgebackene Väter einen Monat lang zu Hause blieben, denn wenn sie im Wald einen Baum fällten, könnte das Kind durch den Geist des Baumes zu Schaden kommen. Die Menschen im Amazonas-Regenwald fühlen sich eng verbunden mit den Pflanzen, Bäumen und Tieren. „Gerade darum“, sagt Teddy Cairuna, „sind wir indigenen Völker die besten Waldschützer. Es ist Teil unserer Tradition.“
Dieser Beitrag ist zuerst im Magazin „Natur" erschienen.