Der Natur in Europa geht es schlecht
Zwei Berichte der EU zeigen, wie dringend eine Öko-Wende auf unserem Kontinent ist
Der Natur in Europa geht es schlecht, in weiten Teilen sogar sehr schlecht. Auch in den letzten sechs Jahren ist es wieder nicht gelungen, den anhaltenden Verlust der biologischen Vielfalt – von Pflanzen, Tieren und Lebensräumen – zu stoppen. Besonders dramatisch setzt sich der Niedergang europaweit in der Agrarlandschaft fort.
EU räumt zum zweiten Mal innerhalb von Wochen Scheitern beim Biodiversitätsschutz ein
Das sind die Kernergebnisse zweier „Berichte zur Lage der Natur in Europa“, die Europäische Kommission und Europäische Umweltagentur EEA am Montag vorgelegt haben. In beiden Berichten wird das Scheitern der EU-Staaten beim Schutz der Biodiversität eingeräumt – und das bereits zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit. Zunächst hatte die EU vor wenigen Wochen, ebenso wie die anderen Mitgliedstaaten der UN-Konvention für biologische Vielfalt (CBD) , das Verfehlen sämtlicher der sogenannten Aichi-Ziele zum globalen Naturschutz einräumen müssen, .
Nun folgt das Eingeständnis, auch auf dem eigenen Kontinent gescheitert zu sein. „Die EU-Biodiversitätsziele konnten nicht erreicht werden“, bilanziert etwa die EEA. Faktoren der Naturzerstörung gibt es viele: Europas Landschaften werden von Autobahnen zerschnitten, überdüngt, bebaut, übernutzt – alles Prozesse, die der Artenvielfalt schaden.
Dass es heißt, Ziele könnte nicht erreicht werden, ist fast noch eine Untertreibung. Ein genauerer Blick in die Analysen offenbart, wie verheerend das Zeugnis ausfällt, das sich die Europäische Union selbst ausstellt – und das, während in der Staatengemeinschaft wichtige Weichenstellungen zum künftigen Umgang mit der Natur laufen.
Beispiel Vögel:
Zwischen 2013 und 2018 ging die Zahl der Vogelarten, deren Bestände als stabil auf einem angemessenen Niveau sind, abermals zurück. Damit wird jetzt nicht einmal mehr jeder zweiten Art (47 Prozent) ein sogenannter guter Erhaltungszustand attestiert. Das ist erneut ein Minus von fünf Prozent gegenüber dem Bericht aus dem vorangegangenen Sechsjahreszeitraum. Gleichzeitig stieg der Anteil jener Vogelarten, die sich einem schlechten oder sogar besorgniserregenden Zustand befinden, (von einem ohnehin hohen Niveau) noch einmal um sieben Prozentpunkte auf 39 Prozent an.
Feld- und Wiesenvögel europaweit am stärksten unter Druck
Die Analyse der Bestandstrends für einzelne Arten zeigt exemplarisch, in welchen Lebensräumen sich Vögel auch heute noch vergleichsweise gut behaupten, und wo es am schwierigsten für sie ist. So haben die Populationen vieler Spezies, die an oder im Wasser leben, EU-weit zugenommen. Das könnte daran liegen, dass viele Flüsse, Bäche und Seen dank strengerer Umweltvorschriften und effizienterer Kläranlagen sauberer geworden.
Zum anderen sind die Nährstoffeinträge vor allem aus der Landwirtschaft gestiegen, was wiederum die Fischbestände hat wachsen lassen. Zu den Gewinnern bei den an den Lebensraum Wasser gebundenen Arten gehören Schnatterente, Gänsesäger, Seeadler und Höckerschwan.
Ganz anders ist die Lage bei den Vogelarten der Feld- und Wiesenlandschaft. Hier weisen die Populationskurven fast durchweg nach unten. Mit Rebhuhn und Kiebitz gehören zwei typische Wiesen- und Ackerbewohner zu den größten Verlierern.
Beispiel Lebensräume:
Nur 15 Prozent aller Lebensraumtypen, die unser Kontinent aufweist, befinden sich in einem guten Zustand; 81 Prozent sind dagegen in schlechter oder sehr schlechter Verfassung.
Die Bilanz zeigt, dass Europas Natur, verglichen mit dem Zeitraum zwischen 2002 und 2007, nochmals ärmer und fragiler geworden ist. Mit am schlechtesten geht es dabei Mooren und anderen Feuchtgebieten, also ausgerechnet den Habitaten, die nicht nur besonders reich an Tier- und Pflanzenarten sind, sondern gleichzeitig als hocheffiziente Kohlenstoffspeicher eine wichtige Rolle im Klimaschutz spielen.
Moore schützen vor Klimawandel und sichern Tieren und Pflanzen Lebensraum
Es gibt, immerhin, auch einige positive Trends zu vermelden. Am stärksten hat sich der Zustand der Wälder verbessert. Das könnte daran liegen, dass einige Länder eine Wende hin zu einer nachhaltigeren Forstwirtschaft eingeleitet haben; womöglich schlägt aber auch zu Buche, dass der Altersdurchschnitt der Waldbäume gestiegen ist – ein Ergebnis der großflächigen Wiederaufforstungen nach dem Zweiten Weltkrieg. Doch noch sind die meisten Wälder Europas weit davon entfernt, wirklich naturnah zu sein. Das zeigt etwa die Tatsache, dass eine nicht nachhaltige forstwirtschaftliche Nutzung nach wie vor zu den zehn wichtigsten Faktoren zählt, die Natur in Europa insgesamt bedrohen.
80 Prozent aller Lebensräume sind in einem schlechten Zustand
Insgesamt hat der Anteil der Lebensräume, die sich in einem schlechten Erhaltungszustand befinden, seit Anfang des Jahrtausends um sechs Prozent zugenommen. Und für Tiere und Lebensräume gleichermaßen gilt: Selbst in den Schutzgebieten, die immerhin ein Fünftel der Fläche der EU ausmachen, konnte der Verlust von Arten- und Landschaftsvielfalt überwiegend nicht gestoppt werden.
Europaweite Rückgänge werden mittlerweile sogar für weitverbreitete Arten wie den Mauersegler verzeichnet. Bei anderen Tiergruppen sieht es nicht besser aus. Nur gut einem Viertel jener Arten, die laut EU-Naturschutzgesetzen besonders geschützt sind, geht es gut; der große Mehrheit von 63 Prozent dagegen attestierten die Fachleute einen schlechten oder sehr schlechten Zustand.
Unter all den Faktoren, die Natur und Artenvielfalt in Bedrängnis bringen, gibt es einen, der laut Bericht der EU-Kommission die stärkste Wirkung ausübt: Das ist die Landwirtschaft. Die zunehmend intensivere Nutzung der Böden, das Zerstören von Hecken und „wilden Ecken“, der Einsatz von Pestiziden: Diese und andere Eingriffe werden europaweit als stärkste Bedrohung für Vögel, Lebensräume und andere Tiere identifiziert. Nur bei acht Prozent der Agrar-Lebensräume stellen die Ökologen einen Trend zur Verbesserung fest; fünf Mal so viele verschlechtern sich weiter. Auf der Liste der Bedrohungsursachen folgen, mit weitem Abstand,
Klimawandel spielt bisher erst eine geringe Rolle als Bedrohungsfaktor für die Natur
Faktoren wie der Flächenverbrauch für neue Gebäude und Infrastruktur, zunehmender Freizeit- und Tourismusdruck und, fast gleichauf damit, eine Forstwirtschaft, die sich immer noch über ökologische Erkenntnisse hinwegsetzt. Die Folgen des Klimawandels dagegen machen sich bislang noch kaum bemerkbar, sie haben unter den zehn wichtigsten Treibern der Naturzerstörung die geringsten messbaren Auswirkungen. Dies werde sich aber in naher Zukunft ändern, vermuten die Experten.
Die Einschätzungen in den europaweiten „State of Nature Reports“ basieren auf detaillierten Rechenschaftsberichten zur Umsetzung der beiden wichtigsten Naturschutzgesetze in der Union, der Vogelschutz- und der FFH-Richtlinie. Diese müssen aller EU-Mitgliedsstaaten im Sechsjahresturnus an die Europäische Kommission erstatten.
„Die Berichte zum Zustand der Natur zeigen, dass wir weiterhin unser überlebenswichtiges natürliches Netzwerk verlieren" EU-Umweltkommissar Virginijus Sinkevičius
„Um die Funktionsfähigkeit der Natur in Europa zu erhalten und damit auch die Gesundheit und das Wohlbefinden der Menschen sicherzustellen, müssen wir fundamentale Änderungen vornehmen – an der Art und Weise, wie wir Lebensmittel herstellen und konsumieren, wie wir mit Wäldern umgehen und wie wir Städte bauen.“ So die Bilanz, die Hans Bruyninckx, Chef der Europäischen Umweltagentur, aus den Berichten zieht. Gleichzeitig, so fordert er, müssten die bislang eingeleiteten Naturschutzmaßnahmen viel besser umgesetzt und kontrolliert werden.
Auch EU-Umweltkommissar Virginijus Sinkevičius äußerte sich besorgt über die Befunde. Sie zeigten, „dass wir unser überlebenswichtiges natürliches Netzwerk verlieren“, sagte er. „Wir müssen bei der Umsetzung der EU-Biodiversitätsstrategie jetzt liefern.“
Woche der Entscheidungen für oder gegen die Natur in Europa
Die Vorentscheidung darüber, ob das gelingen kann, wird in dieser Woche fallen. Am Freitag wollen die Umweltminister der EU in Luxemburg darüber abstimmen, ob sie den Plan mittragen wollen, den die EU-Kommission im Mai als Teil ihres „Green Deal“ zum ökologischen Umbau der Staatengemeinschaft vorgelegt hat.
Der Plan enthält die Verpflichtung, den Niedergang der Natur bis 2030 zu stoppen. Dazu sollen je 30 Prozent der Land- und Meeresfläche unter Schutz gestellt, großangelegte Renaturierungsprojekte für Flüsse und Wälder auf den Weg gebracht werden und zehn Prozent der landwirtschaftlichen Fläche für die Natur reserviert werden. Für den Naturschutz sollen überdies 20 Milliarden Euro pro Jahr zur Verfügung stehen.
Kommt grünes Licht für die EU-Biodiversitätsstrategie?
Bislang ist die Strategie aber nur ein Entwurf der Kommission. In Kreisen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft herrschte zuletzt Zuversicht, dass am Freitag ein Durchbruch gelingen wird. Widerstand habe es zuletzt vor allem gegen den geplanten Schutz alter und naturnahen Wälder gegeben – durch Länder mit einer starken Forstwirtschaft, war von Insidern zu erfahren. Es sehe aber danach aus, als werde die Kommission kräftigen Rückenwind für ihr Vorhaben bekommen.
Billigen die EU-Staaten die Strategie, wäre das auch ein erster großer Erfolg der deutschen EU-Ratspräsidentschaft und für Umweltministerin Svenja Schulze (SPD). Allerdings könnte der Quantensprung zu mehr Naturschutz umgehend wieder zunichte gemacht werden – und das sogar mit Hilfe von Schulzes eigenen Parteifreunden.
Denn ebenfalls in dieser Woche will das Europaparlament die Weichen für die gemeinsame Agrarpolitik in den kommenden sieben Jahren stellen. Es geht dabei um nicht weniger als die Vorentscheidung der Frage, welche Art von Landwirtschaft künftig in der EU profitabel betrieben werden kann und wie die gigantischen Mittel von 365 Milliarden Euro, die die Kommission für die kommenden sieben Jahre für die Landwirtschaft in der EU vorsieht, letztlich verteilt werden.
Große Koalition im Europaparlament gegen mehr Naturschutz
Hier zeichnet sich ein echtes Debakel ab, wie ein gemeinsames Positionspapier der drei größten Fraktionen – Sozialdemokraten, Konservative und Liberale – im Europaparlament zeigt, das von BirdLife International veröffentlicht wurde. In dem Papier werden Kernelemente der Biodiversitätsstrategie wie die Reservierung von mindestens zehn Prozent der Flächen in der Agrarlandschaft für die Natur massiv unterlaufen. Kommen die Pläne durch, kann der Eikettenschwindel mit einem erwiesenermaßen nutzlosen Greening fortgesetzt werden, dürfen Torfmoore weiter entwässert und kann der Grünlandumbruch selbst in Natura-2000-Schutzgebieten fortgesetzt werden.
Ausgaben dagegen, die dem Umweltschutz im Agrarland dienen, sollen gedeckelt werden und ein spezifisches Budget für den Biodiversitätsschutz im Agrarland – benötigt werden nach einhelliger Meinung von Experten mindestens 15 Milliarden Euro pro Jahr aus der GAP – soll es nicht geben.
„Werden diese Pläne Realität, könnte der Green Deal ein paar Monate nach seiner Verkündung schon wieder Geschichte sein“, sagt BirdLife-Agrarexpertin Harriet Bradley den RiffReportern. „Es wäre ein Schlag ins Gesicht aller Europäer, wenn Hunderte von Milliarden öffentlicher Gelder zur Finanzierung des Niedergangs der Natur verwendet würden.“
Sendet Europa komplett widersprüchliche Signale?
Es zeichnen sich also zwei komplett widersprüchliche Signale aus Europa in dieser Woche ab: ein „Wir haben verstanden“ der Umweltminister und ein „Weiter so“ von Agrarministern und den großen Fraktionen des Europaparlaments.
Kommt es so, muss EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in den kommenden Monaten zeigen, wie sie ihr sehr selbstbewusst und gewohnt pathetisch gegebenes Versprechen einer Öko-Wende in der Agrarpolitik dennoch durchsetzen will. Dass es ihr damit ernst sei, hat sie jedenfalls vor zwei Wochen beim UN-Biodiversitätsgipfel abermals beteuert. „Wir müssen den Teufelskreis des Untergangs stoppen“, hatte sie mit Blick auf das Artensterben erklärt.
Im Projekt „Countdown Natur“ berichten wir mit Blick auf den UN-Naturschutzgipfel über die Gefahren für die biologische Vielfalt und Lösungen zu ihrem Schutz. Die Recherchen zu diesem Beitrag wurden von der Hering Stiftung Natur und Mensch gefördert. Sie können weitere Recherchen mit einem Abonnement unterstützen.