Die Virtuelle Realität ist viel besser als Zoom!
In Zeiten von Social Distancing behelfen wir uns häufig mit Videokonferenzen. Dabei ginge es so viel schöner in der Virtuellen Realität.
Zoom ist auf einmal das Mittel der Wahl, wenn es darum geht, physische Treffen zu ersetzen. Doch das Tool bringt allerlei Probleme mit sich – von der Sicherheit über die Privatsphäre bis hin dazu, dass es die wichtigsten Dinge zwischenmenschlicher Begegnungen außen vorlässt. Aber es gibt eine Lösung.
„Zoom bietet wirklich alle Feature, die wir brauchen“, sagt der Professor, „Sie können sich sogar melden. Bitte klicken Sie dafür auf das Handhebe-Zeichen.“ Gesagt getan. Am MIT und in Harvard so wie in wahrscheinlich ungefähr allen anderen großen Universitäten in den USA finden derzeit alle Vorlesungen und Seminare remote statt. Und zumindest Harvard und MIT haben Zoom zum Tool Nummer 1 erklärt in Zeiten des Corona-Virus. Jeder Kurs im Kurs-Management-System Canvas der Harvard University hat jetzt einen eigenen Zoom-Button, der direkt zum Video-Konferenztool führt.
Und da sitzen wir nun also, 34 Menschen, vor Kurzem noch vereint in einem Seminarraum der Harvard Kennedy School, nun alle über die Welt verteilt. Aber was ist denn nun mit meiner Frage? Das Handhebe-Zeichen leuchtet mich an. „Äh, ich kann jetzt irgendwie gar nicht sehen, wer die Hand gehoben hat“, sagt der Professor hilflos. Wo steht das nur nochmal? Blöd, wenn die studentischen Hilfskräfte nun eben auch remote sind und dem Professor nicht mehr über die Schulter blicken können. „Bitte sprechen Sie einfach los, ich kann das jetzt nicht lösen.“
Natürlich sprechen drei gleichzeitig los.
Schwups, alle drei schalten sich wieder stumm.
Schweigen.
„Kann jetzt einer von Ihnen dreien bitte sprechen?“
Es ist irgendwie wie immer, wenn man remote zusammenarbeitet. Die Technologie steht dazwischen, auch wenn Zoom erstaunlich robust funktioniert angesichts des aktuellen Ansturms. Es gibt ein paar Dinge, die es jedoch zumindest etwas besser machen. Eine davon lautet: Kamera an! (Jeder Teilnehmer solle bitte dementsprechend gekleidet sein, fügen manche Professoren noch hinzu.) Denn dann sind Menschen aufmerksamer. Und in der Galerie-Ansicht in Zoom gibt das zumindest ein bisschen mehr das Gefühl, tatsächlich mit einer echten Gruppe Menschen zusammen zu sein. Das tut gut nach der vergangenen Woche, in der sich Harvard und MIT darin übertroffen haben, ihren Campus im Rekordtempo zu leeren und Studenten von heute auf morgen „nach Hause“ zu schicken (auch wenn viele Cambridge durchaus als ihr Zuhause betrachtet haben) und in der viele angesichts von Gerüchten von Shutdowns und eingestellten Flugverbindungen panikartig abgereist sind. Es ist tatsächlich beruhigend, die anderen heil und gesund wieder zu sehen.
Die Neugier siegt
Auch wenn das Kamerabild interessante Einblicke in das Privatleben der KommilitonInnen gibt – was zumindest bei den ersten Seminaren kräftig ablenkt. In der „Sprecher-Ansicht“ kann man (im Gegenteil zur „Galerie-Ansicht“) die jeweils Sprechenden groß auf dem Bildschirm sehen – mitsamt ihrer Wohnung. Ach interessant: Eine Kollegin hat ihre Bücher der Farbe nach sortiert, ein anderer hat seine Katze auf dem Schoß, und bei einer Dritten ist schon Nacht. Oder noch? Wo sie wohl ist?
Zoom hat da natürlich einen Bedarf entdeckt und bietet an, selbst einen Hintergrund zu gestalten, der dann die unaufgeräumte eigene Wohnung überblendet. Aber nachdem erste Studenten offenbar zu kreativ geworden sind (ich bin neulich in einem Raumschiff durchs Weltall gereist – im Hintergrund eines Gesprächspartners. Nur: was hat der eigentlich gesagt?), raten die Lehrenden allgemein davon ab. „Wenn dann bitte etwas Neutrales.“ Aber das wäre ja langweilig.
Zoom bietet zudem einige weitere auf den ersten Blick attraktive Privacy Features an: Treffen könne nicht heimlich aufgezeichnet werden, und die Teilnahme ohne Kamera ist ebenso möglich wie die mittels eines Pseudonyms. Harvard erlaubt beides ausdrücklich aus Gründen der Privatsphäre – und verbietet es im gleichen Zuge, dass Studierende die Seminare aufzeichnen. Professoren zeichnen sie auf, und das Tool zeigt das jedem der Teilnehmenden an. Später schicken sie den Link an den ganzen Kurs. Doch damit steht dieser Kurs halb öffentlich im Internet: jeder, der den Link hat, kann ihn ansehen. Inklusive des privaten Vorgesprächs zwischen der ersten anwesenden Studentin und dem Professor, wie ich heute bei meinem Cybersecurity-Seminar festgestellt habe. Und mitsamt der ganzen Gesichter der Klasse und des Chats. Privatsphäre schonend geht irgendwie anders.
Wer hört zu?
Wie sicher unsere Privatsphäre bei Zoom ist, ist unklar. Verkauft Zoom personenbezogene Daten? „Das hängt von Ihrer Definition von „verkaufen“ ab“, antwortet Zoom auf diese Frage auf seiner Hilfeseite. Bruce Schneier, Cybersecurity Experte und Fellow am Berkman Center for Internet and Society der Harvard University, machen solche Sätze misstrauisch: „Wenn jemand seine Antwort auf Ihre Frage nach dem Verkauf von Daten mit „das kommt darauf an“ beginnt, dann sollten Sie alarmiert sein.“ (bei Zoom folgt eine lange Definition von dem, was mit den persönlichen Daten geschieht, in der untere anderem die „Verbesserung Ihres Werbeerlebnisses“ vorkommt – noch ein Grund, skeptisch zu sein…)
Schneier ist noch etwas aufgefallen, was er für fragwürdig hält: Zoom bietet ein Tool an, mit dem überwacht werden kann, ob die Teilnehmer einer Video-Konferenz nebenbei etwas anderes machen als zuzuhören: „Attendee attention tracking.“ Dabei werde demjenigen, der das Meeting einberufen hat (also der Vorgesetzte etwa) mitgeteilt, wenn der Teilnehmer eine andere App öffne während des Meetings. (also tut das besser auf einem anderen Gerät, wenn euer Chef mal wieder zu lange redet und ihr noch ein paar andere Dinge im Auge behalten müsst!). Er habe die Harvard University gefragt, ob es zu dieser Art Überwachung eine Ansage gäbe, ob die Lehrenden das nutzen sollten. „Es gibt keine Regelung, es kann also durchaus sein, dass manche Professoren das nutzen.“
Um die Cybersicherheit sei es derzeit aber wahrscheinlich ohnehin nicht besonders gut bestellt, fürchtet Schneier, jetzt wo alle von Zuhause arbeiten. Private Computer seien in der Regel schlechter geschützt, und wenn Menschen verunsichert sind und alles anders ist als gewohnt, fallen sie schneller auf Phishing-E-Mails und andere Angriffe herein. Und dann würden die Menschen noch genötigt, von einem auf den anderen Tag neue und ungewohnte Hilfsmittel wie Zoom zu verwenden, um persönliche Treffen zu ersetzen. „Auf diese Weise hastig eingerichtete Systeme sind ziemlich sicher unsicher.“
Und dann kann man zu allem Überfluss Zoom natürlich auch so nutzen, dass es jeden Vorteil zunichtemacht, den das Tool eigentlich hat. Zu Zeiten, in denen man sich noch physisch treffen durfte (was sich anfühlt wie eine Ewigkeit her!), habe ich gerne eine Lunchtalk-Serie des Belfer-Center der Harvard Kennedy School besucht, die sich mit Cyber-Sicherheit beschäftigt und immer recht interessante Redner hatte. Heute war das erste Treffen in Zoom.
Wenn schon nicht physisch, dann wenigstens virtuell
Doch anstatt den Teilnehmenden zumindest ein wenig das Gefühl zu lassen, hier mit echten Menschen gemeinsam zu diskutieren, haben die Veranstalter das Video bei Zoom nicht zugelassen. Es war auch nicht erkennbar, wie viele oder welche anderen Teilnehmer dabei sind, und auch die Rednerin war nicht zu sehen, lediglich ihre Vortragsfolien. Alle anderen waren zudem vom Veranstalter auf stumm geschaltet, Fragen wurden per Chat entgegengenommen, es konnte keine Diskussion aufkommen wie bei den vorherigen Lunch-Meetings. So kann man sich auch einen aufgezeichneten Vortrag ansehen – und angesichts der Fülle frei verfügbarer Talks im Netz könnten wir damit sicherlich fünf Jahre Social Distancing gut überstehen. Wir müssten nie wieder das Haus verlassen (solange Amazon zuverlässig das Essen liefert).
Warum tun wir das nicht? Weil wir soziale Wesen sind! Weil wir eben nicht passiv Reden anschauen wollen, sondern weil wir miteinander interagieren wollen und uns austauschen! Doch glücklicherweise heißt Social Distancing ja nicht, dass wir unsozial sein sollen, sondern lediglich, dass physische Treffen gerade nicht so ideal sind.
Eine wunderbare Alternative zur materiellen Realität mit ihren Viren ist die virtuelle Realität. Hier können wir zusammen sein im gleichen Raum, beinahe so wie in der materiellen Welt. Ich habe viel darüber recherchiert und geschrieben, dass und wieso sich Begegnungen in der virtuellen Welt so echt anfühlen, und ich arbeite gerade als Knight Science Journalism Fellow am MIT an einem journalistischen Projekt in der sozialen virtuellen Realität, das diese Vorteile ausnutzt. Denn wie Lernforscher schon lange wissen: wenn wir gemeinsam und interaktiv Zusammenhänge erforschen, lernen wir am besten. Wenn wir nur passiv zuhören hingegen am schlechtesten.
Den Kontrast zu Zoom Seminaren können dieser Tage die Teilnehmer einer wissenschaftlichen Konferenz zur virtuellen Realität erleben, die legendäre IEEE VR Konferenz, die es bereits seit 1993 gibt. Und es ist fast ein Wunder, dass eine VR Konferenz erst nach mehr als 25 Jahren zum ersten Mal in die virtuelle Realität geht. Eigentlich hätte sie auch in diesem Jahr in der physischen Welt stattfinden sollen, in Atlanta, USA. Doch die Corona-Krise hat den Organisatoren einen Strich durch die Rechnung gemacht.
Also reiste ich heute in die Virtuelle Realität anstatt nach Atlanta – und seit ich wieder aufgetaucht bin, fühle ich mich wie neu geboren nach einigen Wochen Konferenz-Fasten via Zoom. Die Interaktion war so echt! Ich habe den Eindruck, ich bin endlich mal wieder raus gekommen aus der Quarantäne! Ich habe echte Menschen in echten Räumen getroffen, spannende Dinge diskutiert und gescherzt und gelacht!
Während die Vorträge sicherlich auch als Video-Konferenz funktioniert hätten, machen die Zeiten zwischen den Vorträgen und vor allem die Postersessions einen Unterschied wie Tag und Nacht. In der virtuellen Realität konnten wir in verschiedenen Räumen von Poster zu Poster laufen, die Autoren standen – wie bei Postersessions auf Konferenzen in der physischen Welt – neben ihrem Poster (in Form eines Avatars) und beantworteten Fragen zu ihrer Forschung.
Und auf den Wegen zwischen den Postern, in der Mitte der Räume und in den Türrahmen, auf den Treppen – da geschah das, was Konferenzen so wertvoll macht im Vergleich zu Telefonaten oder Video-Besprechungen: zufällige, inspirierende Gespräche mit allen möglichen Menschen. Zu zweit, zu dritt, in kleinen Gruppen – wie es der Zufall wollte. Wie im echten Leben kann man sich zu Menschen gesellen in der Pause, aus deren Ecke man spannende Gesprächsfetzen aufgeschnappt hat, oder mit Zufallsbekannten einfach mal sprechen über das, was einen so interessiert. Meistens endet das mit „Ich muss dich unbedingt mit XY verknüpfen – he, da ist er ja, warte, XY, ich will dir Eva vorstellen!“ – und so spaziert man sich vom Hundertsten ins Tausendste und kommt abends mit lauter tollen neuen Ideen nach Hause.
Es ist diese besondere Qualität zwischenmenschlicher Begegnungen, die fehlt in der funktionalen Zoom-Welt. Und wenn derzeit einige Menschen sagen, dass wir nach dieser Krise womöglich freiwillig viel mehr Video-konferieren, dann hoffe ich nur, dass sie unrecht haben. Lasst uns besser in VR treffen. Sonst geht uns viel verloren.