Wie will ich leben und sterben?

Zehn Jahre Patientenverfügung – eine große Chance und eine enorme Herausforderung

vom Recherche-Kollektiv die ZukunftsReporter:
8 Minuten
Ein Patient liegt im Krankenhaus im Bett. Mit einer Patientenverfügung kann er festlegen, wie die weitere Behandlung bei schwerer Krankheit aussehen soll.

Seit zehn Jahren sind Patientenverfügungen rechtlich bindend. Sie bieten die Möglichkeit, Entscheidungen für eine Zukunft zu treffen, die man nicht kennt. Ein Selbstversuch.

 „Ich bin 44 Jahre alt, verheiratet, habe zwei Kinder, Freunde, einen fordernden Job. Ich stehe – wie man so schön sagt – mitten im Leben. Tod und Sterben sind für mich weit weg. Das dachte ich, bis eine Bekannte plötzlich innere Blutungen bekam. Künstliches Koma, tagelanges Bangen. Auch sie ist Mitte 40, hat zwei Kinder, einen Job. Ich könnte sie sein, wurde mir klar, und das Thema Tod und Sterben war plötzlich ganz nah. Ich beschloss, endlich eine Patientenverfügung aufzusetzen.“

Mit einer Patientenverfügung können Menschen bestimmen, wie sie medizinisch behandelt werden möchten, wenn sie sich nicht mehr selbst äußern können. Ärzte müssen sich an diese Wünsche halten. So schreibt es das Patientenverfügungsgesetz aus dem Jahr 2009 vor. Es steht für einen grundlegenden Wandel in der Medizin. Lange Zeit war das Arzt-Patienten-Verhältnis von der Vorstellung geprägt, dass Ärzte aufgrund ihres Fachwissens viel besser entscheiden können, was gut für ihre Patienten ist als diese selbst. Eine Haltung, die man als Fürsorge oder Bevormundung bezeichnen kann. Dieses Verhältnis hat sich in den vergangenen Jahrzehnten grundlegend verändert. Heute steht der Wunsch der Patienten an erster Stelle, und die Patientenverfügung ist das rechtliche Mittel, diesem Wunsch Ausdruck zu verleihen. 

Weiß der Patient was er tut?

Die Idee der Patientenverfügung ist schon älter. Das erste deutsche Formular stammt aus dem Jahr 1978. In den Folgejahren erarbeiteten Selbsthilfegruppen, Seniorenverbände, Hospizvereine, die Kirchen und andere Gruppen weitere Vorlagen. Doch viele Ärzte sahen den Nutzen von Patientenverfügungen kritisch. Der Haupteinwand: Gesunde Menschen könnten kaum einschätzen, was es heißt, mit einer schweren Krankheit zu leben. Es bestehe die Gefahr, dass sie Maßnahmen ablehnen, denen sie in der konkreten Situation vielleicht doch zustimmen würden. Eine berechtigter Einwand und ein Problem, das bis heute besteht. Aber darf man deshalb Menschen das Recht aberkennen, selbst zu bestimmen, wie sie medizinisch behandelt werden möchten? 

Die grundsätzliche Kritik hatte keinen Bestand. Im Jahr 1998 positionierte sich die Bundesärztekammer klar und bezeichnete Patientenverfügungen als „wesentliche Hilfe für das Handeln des Arztes“. Die Selbstbestimmung des Patienten bekam Vorrang vor dem, was Ärzte als Richtig für ihre Patienten ansehen. Die grundsätzliche Frage, ob Patientenverfügungen anerkannt werden sollen, war damit von ärztlicher Seite endgültig bejaht. 

Wie weit darf der Patientenwille reichen?

Trotzdem wurde weiter heftig diskutiert. Im Mittelpunkt stand die Frage, ob Patientenverfügungen nur in sterbensnahen Situationen gelten sollen oder auch unabhängig davon. „Die Hauptsorge war, dass Menschen unkonkrete Patientenverfügungen aufsetzen könnten, die ihnen schaden, und dadurch Menschen sterben, die das eigentlich nicht wollen“, sagt Heiner Fangerau, Professor am Institut für Geschichte, Theorie und Ethik in der Medizin an der Universitätsklinik Düsseldorf.

„Ich muss mir klar werden, was die Formulierungen in der Patientenverfügung konkret bedeuten. Wenn ich schreibe: „Ich möchte keine lebensverlängernden Maßnahmen“, heißt das ja auch: Ich verzichte nach einem Autounfall darauf, künstlich beatmet zu werden, obwohl ich vielleicht nur vorübergehend außer Gefecht gesetzt bin. Dann sterbe ich, obwohl ich noch ein gutes Leben führen könnte. Das möchte ich auf keinen Fall.“

Am Ende setzten sich die Verfechter einer weitreichenden Patientenverfügung durch. Im Gesetz, das am 1. September 2009 in Kraft trat, steht explizit, dass Patientenverfügungen, die auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation zutreffen, berücksichtigt werden müssen, „unabhängig von Art und Stadium einer Erkrankung“. Patientenverfügungen gelten also nicht nur am Lebensende. Wenn ein Mensch keine Bluttransfusionen möchte und das explizit schreibt, bekommt er sie nicht – auch wenn sie ihm das Leben retten würde und er danach noch viele Jahre weiterleben könnte. „Ich hätte es fatal gefunden, wenn Patientenverfügungen nur in sterbensnahen Situationen gegolten hätten. Patienten müssen das Recht haben, für alle Lebenssituationen Behandlungswünsche äußern zu können“, sagt Alfred Simon, Professor an der Akademie für Ethik in der Medizin der Universität Göttingen. 

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