Angriff auf Israel: Zeitenwende im Nahen Osten
Die Angriffe der Hamas auf Israel sind mehr als eine Fortsetzung bisheriger Konfrontationen. Sie markieren eine historische Zäsur. Ein Kommentar.
Wer Israel kennt, kann ermessen, wie unfassbar die Ereignisse dieses Samstags sind. Es gibt – gerade in der Grenzregion zum Gaza-Streifen – keinen Quadratmeter ohne Armee: kein Dorf, keinen Feldweg, kein Bus, kein Café, keine Tankstelle und kein Supermarkt ohne Gruppen bewaffneter Soldaten. Die Streitkräfte sind immer und überall. Dachte man. Am Samstag sei nichts von ihnen zu sehen gewesen, berichten Freunde aus der Grenzregion. „Es ist, als hätte die ganze Armee Urlaub gehabt.“
50 Jahre nach dem Jom-Kippur-Krieg versucht Hamas, die Region erneut in den Krieg gegen den jüdischen Staat zu ziehen
Ausgerechnet Israel, ausgerechnet das stets wachsame, legendär wehrhafte kleine Land im Herzen des Nahost-Konflikts, wurde wieder überrascht. Ausgerechnet am Tag „50 plus 1“, also am Tag nach dem Gedenken an den 50. Jahrestag des Ausbruchs des Jom-Kippur-Krieges. Auch damals, am 6. Oktober 1973, hatten Ägypten und Syrien den Nachbarn am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur überraschend angegriffen. Der Schock über die Beinahe-Vernichtung ist bis heute ein Trauma der israelischen Gesellschaft. Das Datum für den Angriff der islamistischen Hamas ist deshalb kein Zufall. Die im Gazastreifen herrschende Gruppe hat ihn bewusst als Symbol für ihre Kriegserklärung an den jüdischen Staat gewählt. Wie damals Ägypten und Syrien will heute Hamas Israel auslöschen.
Der Überraschungsangriff an Jom Kippur vor 50 Jahren brachte den jüdischen Staat für kurze Zeit tatsächlich an den Rand einer katastrophalen Niederlage. Der nun begonnene Krieg wird dies nicht erreichen. Israel wird mit aller Macht zurückschlagen – und es hat keine andere Wahl. Denn dies ist nicht eine weitere Runde in den endlosen Scharmützeln und kurzen Episoden kriegerischer Auseinandersetzungen entlang des Gaza-Streifens.
Nie zuvor in der an Terror wahrlich nicht armen Geschichte des Landes hat es einen Angriff solchen Ausmaßes gegeben. 5000 Raketen binnen weniger Stunden, mehr als 100 Tote und über 1000 Verletzte: Das ist die Zwischenbilanz 12 Stunden nach Beginn einer Welle beispiellosen Raketenbeschusses und Angriffen von Terror-Kommandos gegen die zivilen Bewohnerinnen und Bewohner Israels – nicht nur der Grenzregion, sondern bis in die Metropole Tel Aviv hinein.
Die Hamas-Argumente stechen nicht
Die Hamas rechtfertigt ihre Eskalation mit dem Kampf gegen die „Besatzung“. Das ist unglaubwürdig, um nicht zu sagen lächerlich. Niemand besetzt Gaza. Im Gegenteil: 2005 hat der damalige israelische Ministerpräsident Ariel Scharon unter erheblichen innenpolitischen Protesten den Küstenstreifen räumen lassen und an die Palästinensische Autonomieverwaltung übergeben. Ohne Bedingungen. Nachdem die Hamas zuerst in einem blutigen Putsch gegen die regierende Fatah von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas tausende Palästinenser tötete, zerstörten die Islamisten obendrein die von den Israelis zurückgelassenen Gewächshäuser und andere Infrastruktur, statt sie zum Aufbau einer eigenen Wirtschaft zu nutzen. Heute ist der Gaza-Streifen nicht „besetzt“, sondern auch auf Seiten des pro-palästinensischen Ägypten gesperrt. Und ob eine Mehrheit der Menschen im tatsächlich besetzten Westjordanland von den Mördern ihrer eigenen Leute „befreit“ werden möchten, ist zu bezweifeln.
Nein – es geht bei den palästinensischen Angriffen nicht um Widerstand gegen nach internationalem Recht illegale Siedlungen im besetzten Westjordanland oder irgendwelche Außenposten, die extremistische jüdische Siedler auf palästinensischem Gebiet errichtet haben: Hamas-Kommandos dringen in unbestreitbar israelische Städte und Dörfer ein und bringen Menschen wahllos und bestialisch um. Polizei und Armee sprechen von mehr als zwanzig verschiedenen Schauplätzen. Die nach Israel eingedrungene mehrere hundert Hamas-Terroristen kapern Krankenwagen und Armeejeeps, töten deren Besatzungen und gehen auf Amokfahrt. Selbst hochgesicherte Militärbasen im Inneren Kernisraels werden offenbar angegriffen. Israel muss sich erstmals im großen Stil im Herzen des eigenen Landes gegen einen Feind verteidigen.
Hamas versucht, die ganze Region in den Krieg zu ziehen, weil ihr die Felle davonschwimmen
Die stets auf Symbolik bedachten Hamas-Extremisten machen mit der Inszenierung ihrer Attacke deutlich: Der 7. Oktober soll nach ihrem Willen der Auftakt zum entscheidenden Vernichtungskrieg gegen den verhassten demokratischen Staat Israel werden. Nur so lässt sich auch der Aufruf an palästinensische Israelis und an die Schiiten-Miliz Hisbollah im Libanon deuten, in die Angriffe einzugreifen und Israel von innen und aus dem Norden zu attackieren.
Hamas versucht, eine ganze Region mit in den Krieg zu ziehen, in einer Situation, da ihr die Felle davon zu schwimmen drohen. Denn nach teilweise historischen Annäherungen zwischen Israel, Ägypten, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Bahrain, Marokko und dem Sudan versucht US-Präsident Joe Biden gerade, auch die Beziehungen zwischen Israel und Saudi-Arabien zu normalisieren, der wichtigsten Regionalmacht neben Ägypten.
Wie geht es weiter? Israel wird mit großer Härte handeln. Es kann nicht anders auf den ihm aufgezwungenen Krieg reagieren.
„Der Feind wird einen beispiellos hohen Preis zahlen“, kündigte Premier Benjamin Netanjahu an. Wie lange Israel sich bei seinem militärischen Gegenschlag auf die Rückendeckung seiner Alliierten – auch nach den erwartbaren Bildern von Zerstörung und Leid im Gaza-Streifen – verlassen kann, ist angesichts früherer Erfahrungen offen. Solidarität und praktische Unterstützung für Israel müssen aber ebenso unverbrüchlich und dauerhaft ausfallen, wie sie es für die Ukraine sind. Gerade für die Bundesregierung und die deutsche Zivilgesellschaft ist jetzt die Zeit, dem Versprechen gerecht zu werden, nach dem die Sicherheit Israels Teil der deutschen Staatsräson ist.
Aber nicht nur wegen der deutschen Vergangenheit ist die Solidarität mit Israel nun wichtig. Der 7. Oktober 2023 reiht sich ein in historische Versuche, gewaltsam demokratische Länder zu zerstören. Der Angriff auf die einzige Demokratie im Nahen Osten steht in nicht nur in einer Linie mit dem Jom-Kippur-Krieg am 6. Oktober 1973, sondern ebenso mit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 und mit dem 24. Februar 2022, als Russland seinen Angriffskrieg auf die Ukraine begann. In Israel fallen gerade Jom Kippur und 9/11 auf einen Tag. Eine weitere Zeitenwende, diesmal im Nahen Osten.
Anders als die Ukraine ist das angegriffene Israel von der ersten Minute des aufgezwungenen Krieges an wehrhaft. Das wird die Hamas-Führung, das wird leider auch erneut die Zivilbevölkerung in Gaza zu spüren bekommen. Und je nachdem, wie entschieden die israelische Regierung bei der angekündigten Bestrafung der Verantwortlichen für den Angriff vorgeht, wird sich die Reaktion auch auf die Hintermänner von Hamas und Hisbollah im Iran richten. Eine Ausweitung des Konflikts ist wahrscheinlich.
Der Krieg platzt mitten in die innenpolitische Zerreißprobe in Israel. Seit Monaten gehen Hunderttausende Menschen auf die Straße, um gegen den Versuch der in Teilen rechtsradikalen Koalition von Regierungschef Benjamin Netanjahu zu protestieren, die Befugnisse des Obersten Gerichts bei der Kontrolle von Regierungsentscheidungen zu beschneiden. So aus dem Inneren gefährdet wie heute war Israels Demokratie noch nie seit ihrer Gründung.
Die innenpolitische Krise wird eine machtvolle Antwort nicht behindern: Reservisten eilen zu ihren Einheiten, Opposition und Regierung zeigen sich geeint
Auch das Versagen von Politik, Armee und Geheimdiensten in der jetzigen Krise ist Folge von Regierungshandeln. Denn die mangelnde Präsenz von Soldaten und die fehlende Aufklärung an der Gaza-Grenze haben damit zu tun, dass die ultrarechte Koalition Netanjahus auf Druck der Religiösen große Teile der Streitkräfte und anderer Sicherheitsressourcen im Westjordanland einsetzt, um die Besatzung zu zementieren und auszuweiten.
Seit Wochen warnen Kommentatoren in Israel auch, dass der innenpolitische Streit die militärische Abschreckung des Landes gefährde. Denn auch Tausende Reservistinnen und Reservisten der israelischen Streitkräfte verweigern aus Protest den freiwilligen Teil ihres Dienstes. Darunter sind auch viele Piloten der Luftwaffe, dem Rückgrat der israelischen Verteidigung.
Sollten die Hamas-Strategen darauf gesetzt haben, von der Demokratie-Krise in Israel zu profitieren, dürften sie sich trotzdem geirrt haben. „In diesem Moment gibt es keine Regierung und keine Opposition, sondern nur eine gemeinsame eiserne israelische Faust“, sagte auch der führende Oppositionspolitiker Benny Gantz.
Netanjahu muss sich jetzt als Oberbefehlshaber bewähren
Und Ex-Regierungschef Yair Lapid bot Netanjahu die Bildung einer Regierung der nationalen Einheit an. Auch die Soldaten und Soldatinnen der Reserve, die gegen den Angriff auf die Demokratie in den Streik getreten sind, werden nun wieder zu ihren Panzern und Flugzeugen eilen. Sie haben auch – anders als häufig dargestellt – nie erklärt, ihr Land im Falle einer Krise nicht zu verteidigen. Der couragierte Pro-Demokratie-Streik Zehntausender Staatsbürgerinnen und Staatsbürger in Uniform bezog sich stets nur auf freiwilligen Dienst, nicht auf die Einberufung im Ernstfall.
Auch wenn sich Netanjahu nun zunächst als Oberbefehlshaber bewähren muss: Sein politisches Überleben ist damit noch lange nicht gesichert.
Auch das zeigt ein Blick in die Geschichte. Nach dem Ende des schließlich für Israel erfolgreichen Jom-Kippur-Krieges setzte die Regierung unter dem Druck der geschockten israelischen Gesellschaft eine Kommission ein, die das Versagen bei der Vorhersage des Angriffs aufklären sollte. Die Kommission wies damals der Armeeführung einen großen Teil der Schuld zu. Dies wohl auch, um die politische Führung unbeschädigt zu lassen.
Es dauerte eine Weile, aber vier Jahre später wählten die Israelis unter dem nachwirkenden Schock der existenziellen Bedrohung die Regierung ab. Die Wahl setze einer 30-jährigen Vorherrschaft der damals regierenden Arbeitspartei ein Ende. Es wäre keine Überraschung, wenn es dem umstrittenen Benjamin Netanjahu, der mit bisher insgesamt 12 Jahren eine längere Amtszeit als jeder andere Premier in der Geschichte des Landes vorweisen kann, in nicht allzu ferner Zukunft ähnlich erginge. Vorerst aber ist es seine Aufgabe, den Angriff auf sein Land abzuwehren. Und dafür könnte er genau der richtige sein.