RiffReporter Weihnachtskalender 2024 – Die Geschichte der „Picture Brides“

Ein Roman ganz ohne Charaktere: bei Julie Otsuka funktioniert das überraschend gut

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Das Foto zeigt zwei Bücher. Auf beiden steht der Name der Autorin Julie Otsuka. Der Titel des einen Buches lautet „The Buddha in the Attic“, der Titel des anderen „Wovon wir träumten“

Liebe Freundinnen und Freunde von RiffReporter!

Mein Geschenktipp handelt von einem Stück Weltgeschichte, von dem man bei uns nur selten hört, und von einer ungewöhnlichen Erzählperspektive, die erstaunlich gut funktioniert. Er handelt von dem Roman „The Buddha in the Attic“ von Julie Otsuka (auf Deutsch erschienen unter dem Titel „Wovon wir träumten“).

Otsuka, eine US-Autorin mit japanischen Wurzeln, schildert in dem Roman die Geschichte der picture brides. So nannte man die Japanerinnen, die im frühen 20. Jahrhundert fremde, in den USA arbeitende Japaner heirateten, um dorthin auswandern zu können. Die Ehen wurden über Heiratsvermittler geschlossen, die Eheleute trafen sich in den USA zum ersten Mal.

Das ungewöhnliche an Otsukas Roman: Er hat keine Figuren, keine Charaktere im klassischen Sinn. Er erzählt die kollektive Erfahrung der picture brides aus der Perspektive eines Kollektivs.

Ein Roman in der Wir-Form

„Auf dem Schiff waren die meisten von uns Jungfrauen. Wir hatten langes schwarzes Haar und flache, breite Füße, und wir waren nicht sehr groß. Einige von uns hatten als junge Mädchen nichts als Reisbrei gegessen und hatten leicht krumme Beine, und einige von uns waren erst vierzehn Jahre alt und selbst noch junge Mädchen.“ So beginnt der Roman – und Otsuka hält dieses Erzählen in der ersten Person Plural über 150 Seiten durch, ohne dass es je langweilig, gezwungen oder anstrengend wird.

Sie beschreibt die Überfahrt, das Zusammentreffen mit den Ehemännern, die harte Arbeit auf den Feldern, das Verhältnis zu den Einheimischen, die Hoffnungen und Ängste der Frauen. Sie erzählt, wie sie Kinder bekommen und großziehen und wie es diesen Kindern ergeht: „Eine nannte sich Doris. Eine nannte sich Peggy. Viele nannten sich George. Saburo wurde von allen anderen Chinky genannt, weil er exakt wie ein Chinese aussah.“

Der Roman endet im Zweiten Weltkrieg, als die US-Regierung nach dem Angriff auf Pearl Harbor alle aus Japan stammenden Menschen als „feindliche Ausländer“ einstuft und in Internierungscamps deportieren lässt.

„Was genau wussten wir über die Liste? Die Liste war eilig zusammengestellt worden, am Morgen des Angriffs. Die Liste war vor über einem Jahr zusammengestellt worden. Die Liste existierte seit fast zehn Jahren. (…) Es war nahezu unmöglich, auf die Liste zu kommen. Es war extrem leicht, auf die Liste zu kommen.“

Ich habe das Buch selbst geschenkt bekommen und weiß noch, dass ich nach den ersten Seiten dachte: „Spannende Idee, wird aber sicher bald mühsam“. Das Gegenteil ist passiert: Selten hat ein Roman so einen Sog auf mich entwickelt, selten hat ein Roman mich so berührt.

Julie Otsuka, The Buddha in The Attic, Taschenbuch, 144 Seiten, Penguin, ca. 10 Euro.

Julie Otsuka, Wovon wir träumten, Hardcover, 160 Seiten, übersetzt von Katja Scholtz, Mareverlag, 18 Euro.

Den kompletten RiffReporter-Weihnachtskalender finden Sie hier!

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