RiffReporter Weihnachtskalender 2024 – Ljudmila Ulitzkaja und ihr Buch „Das grüne Zelt“
Ljudmila Ulitzkajas Roman „Das grüne Zelt“ erzählt von verbotenen Büchern und Freundschaft, vom Erwachsenwerden und moralischen Überleben in der Sowjetgesellschaft
Liebe Freundinnen und Freunde von RiffReporter! Mein Geschenktipp handelt von verbotenen Büchern, Freundschaft und vom moralischen Überleben in der Sowjetgesellschaft. Es geht um die Liebe der Menschen zur Literatur in einem Land, in dem die Partei bestimmt, was das Volk lesen und denken sollt. Der Roman erzählt von Menschen, die ihre Zukunft aufs Spiel setzten, um die geheime Rede Chruschtschows nach dem Tod Stalins zu lesen oder später das Gulag-Manuskript von Sacharow oder die Werke von Marina Zwetajewa, Anna Achmatowa oder Ossip Mandelstam und Boris Pasternak.
Der 2014 in deutscher Übersetzung erschienene Roman „Das grüne Zelt“ von Ljudmila Ulitzkaja zeichnet ein eindrucksvolles Bild der kommunistischen Gesellschaft, in der das Leben keineswegs so konform war, wie es sich die Führung wohl gewünscht hätte. Als Klammer der vielen Schicksale, die Ulitzkaja ausbreitet, dient die lebenslange Freundschaft von drei sehr unterschiedlichen Schülern. Der aus einer bürgerlichen, jüdisch geprägten Familie stammende Sanja lebt für die Musik. Der Waisenjunge Micha, entdeckt dank seines Lehrers die Literatur und ergreift selbst einen ähnlichen Beruf.
Der schlaksige Ilya dagegen versucht mit dem Blick durch die Linse seines Fotoapparats den verwirrenden Ereignissen der Gegenwart Herr zu werden und betreibt nach einer gescheiterten Fotografenkarriere einen Samistat-Handel. Samistat steht für im Selbstverlag in Russland vervielfältigte Schriften, die unter der Hand kursierten; Ilya organisiert Bücher oder Abschriften von Werken, die nicht mehr verlegt werden, nicht mehr in den Bibliotheken zu finden sind, und von solchen, die verboten sind.
Die Autorin verarbeitet persönliche Erfahrungen mit einem Samistat-Kreis
Kurioserweise befanden sich solche nicht-staatskonformen Schriften auch in den Schränken hoher Beamter. Im Roman ist es ein General, der bei den Säuberungen der Bibliotheken Gedichtbände und Romane - wahrscheinlich nicht uneigennützig - persönlich in Gewahrsam nahm. Nach seinem Tod bringt eine seiner Töchter diese seltenen Bücher an der Universität in Umlauf, worauf der zuständige Dozent verhaftet wird. In dieser Episode spiegelt Ulitzkaja ihre eigene Geschichte: Sie gehörte als junge Genetikerin einem Samistat-Kreis an, der aufflog, worauf sie ihre Stelle an der Universität verlor und damit die Möglichkeit zu promovieren. Das veränderte ihr Leben: Sie arbeitete für das Theater und begann zu schreiben.
Es gibt viele Passagen in diesem Roman, die zu denken geben. „Der Umfang verarbeiteten Wissens garantiert(e) keine moralische Reife“, sinniert Viktor, der Lehrer, der seinen Schüler die Liebe zur Literatur einpflanzt. Bildung, so ist der Tenor, muss umfassender gedacht werden. Der Roman stellt die Frage nach innerer Freiheit und moralischer Integrität. „Das grüne Zelt“ bietet eine Heimstatt für all jene, die sich fragen, was im Leben wichtig ist, und wie unter widrigen Umständen, persönliche Freiheit erkämpft werden kann.
Ljudmila Ulitzkaja, Das grüne Zelt, dtv München, 2014,592 Seiten, 15 Euro
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