Armut mit System: Neues Buch rechnet mit Bürgergeld ab
Hartz IV ist weg, die Probleme sind geblieben: In ihrem Buch „Es braucht nicht viel“ knöpfen sich die Aktivistinnen Helena Steinhaus und Claudia Cornelsen die deutsche Sozialpolitik vor. Flapsig, faktenreich und mitunter wohlbegründet zynisch legen sie offen, wie politische Debatten über Armut und Sozialleistungen entgleisen.
Es dauert nur 30 Seiten, bis sich der angestaute Frust der Autorinnen über den deutschen Sozialstaat zum ersten Mal Bahn bricht. „Puh. Das musste jetzt mal raus“, schreiben Helena Steinhaus und Claudia Cornelsen, als ihre Analyse besonders pointiert daherkommt.
Es wird nicht das letzte „Puh“ bleiben.
Immer wieder meint man die beiden Sozialaktivistinnen um Luft ringen zu hören, während sie sich auf gut 250 Seiten durch die Wirren der deutschen Armutspolitik kämpfen. Nach und nach dekonstruieren sie die Ungerechtigkeiten des Sozialsystems und das fragwürdige Menschenbild, mit dem Armutsbetroffene immer wieder konfrontiert sind. Auch an Stellen, an denen das Wort fehlt, ertappt sich der Lesende immer wieder bei dem Gedanken, dass das alles ganz schön, ja: puh ist.
„Es braucht nicht viel“ heißt das Buch. In diesen Tagen (30. August) erscheint es im Verlag S. Fischer – und es ist überfällig.
Zur Monatsmitte nur noch Nudeln
Die Kulturwissenschaftlerin Helena Steinhaus weiß aus eigener Erfahrung, was Armut bedeutet. Aufgewachsen bei der alleinerziehenden Mutter, gehörte sie als Jugendliche zur ersten „Hartz IV“-Generation. Sie war angewiesen auf einen Sozialstaat, den Bundeskanzler Gerhard Schröder und seine rot-grüne Koalition mit ihrer Agenda 2010 radikal umgebaut hatten.
Die Erfahrung, dass es „zur Monatsmitte halt nur noch Kartoffeln oder Nudeln“ gab, dürfte Steinhaus dabei helfen, all die Armutserfahrungen zu verstehen, mit denen sie heute tagtäglich zu tun hat. 2015 gründete sie den Verein „Sanktionsfrei“: einerseits ein Solidarfonds, der die finanziellen Sanktionen auszugleichen versucht, mit denen Jobcenter ihre „Kundinnen und Kunden“ bestrafen, wenn diese einen Termin versäumen. Andererseits eine politische Initiative, die genau solche Sanktionen abschaffen möchte. Die Kommunikationsberaterin und Co-Autorin Claudia Cornelsen unterstützt den Verein im Vorstand.
Gemeinsam haben die Frauen ein wichtiges, ein notwendiges Buch geschrieben. Sie tun dies nicht aus einer Betroffenheitsperspektive heraus, sondern als engagierte und fachkundige Bürgerinnen, die ihre Finger in eine klaffende Wunde der Gesellschaft legen. Während gerade die Diskussion über Kinderarmut und die Notwendigkeit einer Kindergrundsicherung dem Parteienzank zum Opfer fällt, kommt das zur rechten Zeit.
Corona-Pandemie: „Krasses Staats- und Medienversagen“
Freilich ist der Titel „Es braucht nicht viel“ denn auch keine Botschaft an Armutsbetroffene, nach dem Motto: Habt euch nicht so, auch mit wenig Geld lässt es sich in Deutschland prima leben.
Es ist ein Appell an uns alle, denn „es braucht nicht viel“, die Armut mitten unter uns zu erkennen. Und an politisch Verantwortliche, weil es ebenfalls gar nicht so viel bräuchte, den Sozialstaat „armutsfest“ zu machen.
Der Furor hat gute Argumente. Die Autorinnen arbeiten auf, wie unser Sozialstaat wurde, wie er ist. Sie legen offen, mit welchen Tricks das „Existenzminimum“ kleingerechnet – und von Ämtern dennoch potenziell heruntersanktioniert – wird. Und sie erinnern daran, wie Armutsbetroffene in der Corona-Pandemie trotz aller Rettungsschirme im Regen übersehen wurden – und in dieser Zeit nicht nur Politiker:innen blind waren für die Bedürfnisse der Bedürftigsten: „Wir erlebten ein krasses Staatsversagen. Aber auch ein Medienversagen.“
Allzu oft, so ist die Kritik zu verstehen, haben Redaktionen weniger unbequeme, politische Fragen an Verantwortliche gestellt, sondern stattessen vermeintlich wohlwollende Ratschläge an Armutsbetroffene verteilt, die suggerierten, dass sich mithilfe von ein paar Tipps auch mit wenig Geld alles irgendwie regeln ließe. Vor allem „Menschen in Hartz IV haben keine Lobby“, bilanzieren Steinhaus und Cornelsen.
Hartz IV heißt jetzt Bürgergeld – sonst ändert sich (fast) nichts
Inzwischen heißt Hartz IV „Bürgergeld“, und den Autorinnen gelingt es eindrucksvoll nachzuweisen, warum die von der Ampelkoalition als größte Sozialreform der vergangenen Jahrzehnte gefeierten Neuerung Armut kein bisschen abschaffen konnte – im Gegenteil. Selbst die vermeintlich großzügige Anhebung der Regelsätze: nicht mehr als ein verspäteter Inflationsausgleich. „Etikettenschwindel“, lautet das Fazit zu der Reform, die Ampel habe nicht mehr als „Puderzucker über die weiterhin brutale Wirklichkeit gestreut“. Oder Puhderzucker?
Den Begriff „Bürgergeld“ wollen sich die beiden Aktivistinnen nicht zu eigen machen. Lieber schreiben sie von „Bürgerhartz“, weil sie einen echten Bruch mit dem viel kritisierten Hartz-IV-Regime nicht erkennen. Insbesondere jene Sanktionen, die selbst Familien mit Kindern bei vergleichsweise lässlichen Versäumnissen unter das staatlich definierte „Existenzminimum“ drücken, blieben – wenn auch abgeschwächt – erhalten.
Beispiele von Menschen, die sich an „Sanktionsfrei“ gewandt haben, helfen zu veranschaulichen, mit welchen Härten der manchen als überfinanziert geltende Sozialstaat denjenigen begegnet, die auf ihn angewiesen sind. Dabei tappen die Kritikerinnen nicht in die Falle, Einzelschicksale auszuschlachten. Sie analysieren das Systemische und lassen Armutsbetroffene dabei meist unkommentiert selbst zu Wort kommen, mit Zitaten aus E-Mails oder Briefen an den Verein.
Vorurteile und Zerrbilder in der politischen Debatte
Was der Sozialstaat leisten kann und leisten muss, darüber muss und wird weiter gestritten werden. Das Verdienst des Buches ist, gebündelt und kompetent mit einigen Schieflagen und Zerrbildern des öffentlichen Diskurses aufzuräumen. Wie dem Typus des grundsätzlich arbeitsfähigen „Hartzers“, den manche nur für zu „faul“ halten, um arbeiten zu gehen.
Der aber – ob „faul“ oder nicht – nur eine Minderheit unter den rund fünfeinhalb Millionen Bürgergeld-Beziehenden darstellt. Unter ihnen befinde sich nur gut eine Million erwerbsfähiger Menschen, rechnen Steinhaus und Cornelsen vor. Das Gros bilden „Aufstocker“, deren Arbeitslohn nicht zum Leben reicht, Kinder und Jugendliche sowie Menschen, die Angehörige pflegen oder aufgrund einer eigenen Erkrankung nicht arbeiten können. Ein Fakt, der vielen Talk-Shows und Bundestagsdebatten gut zu Gesicht stünde.
Gleiches gilt für die aktuelle Diskussion über die finanzielle Ausstattung der geplanten Kindergrundsicherung. Mehr Geld ist für die einen schlichtweg notwendig, wenn Kinderarmut wirksam bekämpft werden soll. Andere lehnen das ab – gern mit dem Hinweis, dass die schon heute angebotenen Leistungen für Kinder von vielen Anspruchsberechtigten gar nicht abgerufen (mithin also gar nicht benötigt?) werden.
Steinhaus und Cornelsen präsentieren eine andere Perspektive auf diesen Umstand: Dass die monatlich aus dem Bildungs- und Teilhabe-Gesetz abrufbaren 15 Euro pro Kind auch deshalb ungenutzt bleiben, weil sie für die Mitgliedschaft in manchem Fußballverein schlichtweg nicht reichen, in jedem Falle aber die Fußballschuhe nicht bezahlen, und weil mitunter auch die bürokratischen Beharrungskräfte groß sein können:
Desinformationskampagne der Union zum Bürgergeld
Nur einmal müssen die Autorinnen das Bürgergeld verteidigen: Als sie darin erinnern, mit welch grotesker Desinformationskampagne die Unionsparteien die Ampel-Reform bekämpften und den Eindruck erweckten, Bürgergeld sei die lohnendere Alternative zur Arbeit. Und sie rütteln am Weltbild manches Sofa-Kommentatoren, dessen Antworten nur deshalb so einfach klingen, weil er sich der Zwänge gar nicht erst gewahr macht, in denen sich Armutsbetroffene bewegen. Die – aus durchaus nachvollziehbaren Gründen – von Amtswegen dazu verdammt sind, auf günstige Mieten und gebrauchte Waschmaschinen zurückzugreifen. Die sich vor Energiespar-Tipps kaum retten können. Denen aber niemand verrät, wie beides zusammengeht, wie sie die horrenden Energiekosten der unsanierten Altbauwohnung und der wenig effizienten, alten Waschmaschine drücken sollen, die entgegen vorherrschender Meinungen eben nicht einfach der Staat übernimmt.
Und dann ist da noch die Geschichte von Björn und Christian.
Björn, der nach Schicksalsschlägen auf dem Strich und auf der Straße landet, sich mit Gelegenheitsjobs ins Berufsleben kämpft und der sich seinem unternehmerischen Traum von der Gründung eines Pflegeheims für Wohnungslose mit dem Versuch nähert, ein Pflege-Praktikum zu ergattern – der aber daran scheitert, vom Amt ein Darlehen für eine private Mietkaution bewilligt zu bekommen.
Anders Christian, der Beamtensohn, der mit Freunden ein Internet-Start-Up gründet und zwei Millionen Euro Risikokapital organisiert, von dem er sich die privat eingebrachten 10.000 Euro Startkapital schnell als Geschäftsführergehalt wieder ausbezahlt – bevor er nach weniger als zwei Jahren Insolvenz anmelden muss.
Mancher Appell gerät zu einfach
So berichten es Steinhaus und Cornelsen und zeigen, wie sehr die soziale Herkunft über den weiteren Lebensweg entscheidet. Denn während der eine, Björn, der von Risikokapital nicht einmal träumen durfte, an einem Herzinfarkt verstarb, bevor er sein Pflege-Praktikum antreten konnte, stimmt der andere, Christian, weiterhin Loblieder auf all jene an, die unternehmerische Risiken eingehen.
Risiken, die er selbst der Darstellung der Autorinnen zufolge nie ernsthaft habe tragen müssen: Zum Zeitpunkt der Insolvenz bezog er bereits Diäten als Landtagsabgeordneter. Und auch heute ist er als Bundesfinanzminister bestens versorgt.
Die Gründerin Steinhaus müsste ihm eigentlich gefallen. Ihr und Co-Autorin Cornelsen ist nur eines vorzuhalten: Dass sie es sich – nach starker Analyse – zum Schluss etwas zu einfach machen. Mit dem Appell an besser Situierte etwa, „freiwillig mehr zu zahlen“. Mit der Vermutung, dass die Menschen ihr Geld nicht mehr zum Discounter tragen würden, wenn sie nur genügend auf der hohen Kante haben. Vor allem mit der Suggestion, dass solche Handlungen das System verändern könnten.
Das nimmt dem Buch nichts von seiner Relevanz. Steinhaus und Cornelsen schreiben flapsig und faktenreich, immer wieder auch – wohlbegründet! – zynisch. Das alles macht das Buch nicht nur erkenntnisreich, sondern äußerst lesenswert. Es ist eine Anklage. Nur eines kann die Lektüre nicht sein: frustfrei. Puheben.
- Helena Steinhaus, Claudia Cornelsen: Es braucht nicht viel. Wie wir unseren Sozialstaat demokratisch, fair & armutsfest machen. 256 Seiten, Verlag S. Fischer. Erscheinungstermin: 30. August 2023.