Careful what you wish for
Verfassungsnews der Woche von Max Steinbeis
Liebe Freunde des Verfassungsblogs,
Während die Welt da draußen diese Woche voll Grausen auf Deutschland schaute und auf seine ungewohnt und beunruhigend instabilen Regierungsverhältnisse, herrschte hierzulande teilweise fast so etwas wie festliche Gespanntheit. Die Möglichkeit einer Minderheitsregierung, die sich für jedes Gesetz im Parlament einzeln eine Mehrheit sucht, schien manche regelrecht zu elektrisieren. Wie aufregend! Wie belebend, wie befreiend! Endlich geht es wieder richtig um was im Parlament! Endlich wieder Debatte! Endlich wieder Polarisierung! Endlich wieder Politik! Nach zwölf langen, staubgrauen Merkel-Jahren des pragmatischen Auf-Sicht-Fahrens und Durchwurstelns reißt endlich der Himmel auf, der erstickende Nebel lichtet sich, die verwelkten und verdorrten Institutionen der politischen Meinungs- und Willensbildung straffen sich und gewinnen neue Farbe und neue Kraft.
FLORIAN MEINEL hat Anfang der Woche auf dem Verfassungsblog mit Verve den Gegenstandpunkt eingenommen: Der Schritt zur Minderheitsregierung wäre ein Bruch mit der Funktionsweise des parlamentarischen Regierungssystems, die sich in 60 Jahren deutscher Politikpraxis herausgebildet hat und auf dem Gegenüber von Regierungsmehrheit und Oppositions-Minderheit beruht und nicht auf dem Gegenüber von Regierung und Parlament, auch wenn der Topos der Gewaltenteilung das nahelegt. Kann man natürlich machen, diesen Bruch. Die Zeiten ändern sich, und die Zahl der im Bundestag vertretenen Parteien und die Schwierigkeit der Koalitionsbildung mit ihnen. Aber man sollte sich klar machen, womit man alles bräche: „Man denke nur an die Planung und routinierte Erledigung des größten Teils der Gesetzgebungsagenda im Zusammenspiel von Ältestenrat, Bundeskanzleramt und Ressorts, die sich, schon wegen der extensiven Karlsruher Rechtsprechung zum Vorbehalt des Gesetzes, gar nicht substantiell reduzieren ließe. Auch diese Rechtsprechung hat ja wesentlich zur Herausbildung des parlamentarischen Regierungssystems beigetragen, stünde im Falle einer Minderheitsregierung aber fundamental in Frage. Man denke an parlamentarische Informationsrechte, Ausschussverfahren und Redeordnung. Und man denke schließlich an das gesamte Verfahren der europapolitischen Kommunikation von Bundestag und Bundesregierung nach Art. 23 Abs. 2 und 3 GG, dessen Ausgestaltung durch die Lissabon-Folgegesetze klar auf die Situation einer Mehrheitsregierung zugeschnitten ist. In der Europäischen Union steht ja manches an, vorsichtig gesagt.“
Gut möglich, dass das Ganze ohnehin (wie schon 2013) hypothetisch bleibt, weil die SPD am Ende mit Hilfe des Sozialdemokraten in Schloss Bellevue doch irgendwie wieder auf den Pfad der staatspolitischen Verantwortung zurückfindet. Dafür gibt es ja einige Anzeichen (Stand Freitag abend). Aber bis zu einer Verlängerung der Großen Koalition ist der Weg noch lang. Und bis dahin bleibt das Minderheits-Szenario eines, mit dem man zu rechnen hat.
Mir scheint dieses Szenario kein Weltuntergang zu sein, schon gar nicht im Kontrast zu dem Alternativ-Szenario Neuwahlen. Es gibt genügend Praxisbeispiele im In- und Ausland, die belegen, dass Minderheitsregierungen funktionieren können. Aber was die Erlösungsfantasien betrifft, die manche mit ihm zu verknüpfen scheinen, so habe ich doch große Zweifel.
Als Minderheitskanzlerin besäße Merkel, sobald sie sich von der Demütigung der drei Wahlgänge nach Art. 63 Grundgesetz mal erholt hat, ein politisches Tool, das sie bisher nicht hatte. Sie könnte jederzeit über die Vertrauensfrage Neuwahlen herbeiführen. Und zwar nur sie. Und wann immer es ihr günstig erscheint. Mit diesem Tool kann sie jedes interessenpolitische Ringen um Kompromiss und common ground in eine plebiszitäre Alles-oder-nichts-Frage verwandeln. Ob das die Debattenkultur im Parlament fördert?
Die SPD wiederum, die ihre Minderheitsregierung duldet und ihr punktuell zur Mehrheit verhilft, wäre halb drin, halb draußen, nicht richtig Regierung, aber auch nicht richtig Opposition: Sie würde für alles gebraucht, hätte in allem ihre Finger drin, was passiert, müsste aber nie die Verantwortung für das übernehmen, was nicht passiert. Sie schreibt ihren Namen auf alles mit drauf, was gelingt, aber was unterbleibt oder misslingt, das lässt sie schön die Sorge der Regierung sein.
Eine Minderheitsregierung kann durchaus stabil sein – gestürzt werden könnte die Kanzlerin ja nur mit einer konstruktiven Mehrheit für jemand anderes als Regierungschef. Ihre Stabilität ist ins Belieben der Kanzlerin gestellt, und ihre Effektivität ins Belieben der Opposition. Ob das hilft, das Parlament als Mitte der Demokratie wiederzubeleben? Je nachdem, wie sich die SPD entscheidet, werden wir es herausfinden.
Im Urwald
Die Republik Polen wird ihrerseits herausfinden, was passiert, wenn sie auf ihrem Willen beharrt, im geschützten Urwald von Białowieska Bäume zu fällen. Dann nämlich, so der EuGH in einem spektakulären Beschluss, werden 100.000 Euro für jeden Tag fällig, den Polen fortfährt, die einstweilige Anordnung des Gerichts zum Stopp der Pläne zu missachten. Wie das Gericht diesen Schritt begründet, und wie er mit dem Kampf um die Rechtsstaatlichkeit in Polen generell zusammenhängt, analysiert DANIEL SARMIENTO. Wir erwarten zu diesem elementar wichtigen Thema noch eine Analyse aus polnischer Sicht von ROBERT GRZESZCZAK und IRENEUSZ KAROLEWSKI in den nächsten Tagen.
Ein oft übersehener Aspekt der Krise in Polen ist die Geschichtspolitik der PiS-Regierung und ihr Umgang mit der weißrussischen Minderheit, worauf ULADISZLAU BELAVUSAU aufmerksam macht.
In Venezuela versucht Präsident Nicolás Maduro, seine wankende Macht mit einer neuen Verfassung zu festigen, und hat zu diesem Zweck eine „verfassunggebende Versammlung“ einberufen. Ob dieselbe diesen Namen verdient und was dahinter steckt, untersuchen in einer dreiteiligen Artikelserie LAURA JUNG, HANNA BUCK und MARIA HAIMERL.
Das Landgericht Frankfurt hat keinen Fehler in der Weigerung der Fluglinie Kuwait Air finden können, einen Israeli zu transportieren, da Kuwait das Schließen von Verträgen mit israelischen Staatsbürgern verbietet – eine Entscheidung, die für viel Entsetzen gesorgt hat. MARIA LEE und AMALIE FRESE haben das Urteil unter die Lupe genommen.
Der EuGH will nicht zulassen, dass Unionsbürger von ihrer Freizügigkeit keinen Gebrauch machen können, weil ihr Ehepartner als Drittstaatsangehöriger im Zielland keinen Aufenthaltstitel bekommt. Dass er zu diesem Zweck auch schon mal so weit geht, eingebürgerte Doppelpass-Besitzer als EU-Ausländer zu behandeln, zeigt ein aktuelles Urteil, über das ROMAN LEHNER berichtet.
Anderswo
OLIVIER BEAUD erklärt seinen französischen Lesern, welch ungeahnte Macht das deutsche Grundgesetz dem Bundespräsidenten in der aktuellen Situation zugesteht.
ROSELINE LETTERON fragt, wie der Präsident des französischen Verfassungsrats Laurent Fabius seine judizielle Funktion mit seinem obendrein übernommenen Amt als umweltpolitischer Funktionär der Vereinten Nationen in Einklang bringt.
MIGUEL ANGEL PRESNO LINERA untersucht, ob die Weigerung der Stadtverwaltung von Barcelona, rechtsextreme Demos zu genehmigen, mit der Meinungs- und Versammlungsfreiheit vereinbar ist.
CHRISTOPHER MCCRUDDEN und DANIEL HALBERSTAM kritisieren den britischen Supreme Court dafür, in seinem Miller-Urteil zum Recht des Parlaments, an der Brexit-Entscheidung mitzuwirken, die Situation Nordirlands vernachlässigt zu haben.
Am 5. Dezember kommt das mit banger Spannung erwartete Urteil des EuGH in Sachen Taricco II – jener epischen Schlacht mit dem italienischen Verfassungsgericht um die Frage, ob die nationale Verfassungsidentität den Anwendungsvorrang des Europarechts stechen kann. MICHAL KRAJEWSKI wagt schon mal einen Ausblick.
NUNO FERREIRA und DENISE VENTURI berichten von einem vor dem EuGH anhängigen Verfahren gegen das auch anderweitig auffällige Ungarn und dessen Praxis, Asylbewerbern, die wegen ihrer Homosexualität verfolgt werden, mit allerhand Testmethoden zur Überprüfung ihrer sexuellen Orientierung zu Leibe zu rücken.
Das war’s für diese Woche. Ihnen alles Gute!
Max Steinbeis