Liebe Freund_innen des Verfassungsblogs,
Dies war nicht die schlechteste Woche. Zwei Klärungen haben in ihr stattgefunden, zwei Knoten in der Luftröhre der Demokratie in Europa haben sich ein kleines bisschen gelockert, so dass wieder ein kleines bisschen mehr Luft durchkommt und damit auch Kraft, diese und andere Knoten weiter aufzufieseln. Geklärt hat sich zum einen, ob Manfred Weber und viele mehr in der Europäischen Volkspartei im Zweifel für Viktor Orbán oder für Angela Merkel stimmen. Geklärt hat sich aber auch, wie unser oberster Bundesextremistenbeobachter (als jemand, dem die Verfassung und ihr Schutz einigermaßen am Herzen liegt, weigere ich mich, die offizielle Amtsbezeichnung in den Mund zu nehmen) Hans-Georg Maaßen seine Äußerung in der BILD zum Thema Chemnitz und Hetzjagden gemeint hat und um welche Art Vorgang es sich dabei handelt und was wir von ihm und seinem Dienstherrn Horst Seehofer und dem deutschen Sicherheitsapparat generell zu halten und zu erwarten haben. Beides macht zwar nicht gerade froh, aber doch das Atmen leichter. Jetzt wissen wir Bescheid.
Zunächst zu Orbán: Am Mittwoch hat das Europäische Parlament mit Zweidrittelmehrheit beschlossen, gegen Ungarn als Gefahr für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in der EU ein Verfahren nach Artikel 7 EUV zu starten. Das allein schon ist eine Riesensache, ganz egal, was bei dem Verfahren am Ende herauskommt. Zum einen, was das Verhältnis der beiden Partners in Crime Polen und Ungarn zueinander betrifft: Sie stehen jetzt, wie Wojciech Przybylski bemerkt hat, vor einem klassischen Gefangenendilemma: Jetzt sind beide angeklagt. Jetzt müssen beide wechselseitig darauf vertrauen, vom jeweils anderen nicht im Stich gelassen zu werden. Sich dann lieber gleich selbst für ihr Einlenken belohnen zu lassen, ist dann (in der Theorie jedenfalls) keine Frage von Tugend und Treue mehr, sondern von kühl kalkulierender Vernunft.
Zum anderen hat die Abstimmung der Politik in ganz Europa zum ersten Mal abverlangt, sich eindeutig zu erklären. Orbán eine Gefahr für Europa? Dafür oder dagegen? Sieh an: Sebastian Kurz ist am Ende dann doch dafür. Sieh an, Spitzenkandidat-Kandidat Manfred Weber ist auch dafür. Sieh an, Laurent Wauquiez und Silvio Berlusconi sind dagegen. Sieh an, Pablo Casados Leute enthalten sich oder gehen gar nicht erst hin. Sieh an, sieh an, sieh an.
Offengelegt hat die Abstimmung auch, wie tief gespalten in dieser zentralen Zukunftsfrage der EU die EVP in das Wahljahr 2019 geht. Innerparteilichen Streit vor Wahlen, das mögen die Wähler_innen bekanntlich nicht, was kein Ausdruck konfliktscheuer Unvernunft ist, sondern vollkommen logisch: Es ist der Job von Parteien, politische Konflikte auf polarisierte Dafür/Dagegen-Entscheidungen herunterzubrechen. Man will ja schließlich wissen, was man kriegt, wenn man einer Partei seine Stimme gibt. Wenn die EVP nicht klar sagt, ob man Merkel oder Orbán kriegt, dann macht sie ihren Job nicht. Das alles wird jetzt in brillianter Klarheit im Wahlkampf adressierbar. Die europäische Demokratie funktioniert.
Auch rechtlich öffnet die Abstimmung eine Tür, den Druck auf die EVP zu erhöhen: Auch die europäischen Parteien sind an die Grundwerte aus Art. 2 EUV gebunden, und wenn die EVP Orbáns Fidesz-Partei in ihrer Mitte duldet, dann wirft das die Frage auf, ob sie diesen Status mitsamt dem damit verknüpften Zugang zur Parteienfinanzierung behalten kann. Alberto Alemanno und Laurent Pech, beides profunde Kenner des Europarechts, haben flugs das Parlament aufgefordert, dazu Stellung zu beziehen. Mal sehen, was das an Klärung bringt.
Plantschen im Lügenpool
Und damit zur Causa Maaßen. Die Klärung, die hier stattgefunden hat, ist anderer Natur. Der Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz hatte bekanntlich in der Vorwoche in einem Interview mit der BILD angezweifelt, dass ein Antifa-Video von Nazi-Übergriffen aus Chemnitz „authentisch“ sei, und behauptet, „gute Gründe“ für die Annahme zu haben, dass es sich um eine „gezielte Falschinformation“ handelt. Aufgefordert, sich zu erklären, ließ Maaßen seinen Chef Horst Seehofer wissen, dass er damit mitnichten etwa habe sagen wollen, das Video sei inszeniert oder gefälscht. Nein, er habe lediglich die Qualifikation als „Menschenjagd“ in Frage gestellt, unter der in dem Video Gezeigte ins Netz gestellt worden war. Weil nämlich das, was da zu sehen war, überhaupt gar keine Menschenjagd gewesen sei.
Nun braucht weder mich noch Horst Seehofer noch sonst irgendjemanden Herrn Maaßens Privatmeinung zu interessieren, ob das, was man in dem Video sieht, mit dem Wort „Menschenjagd“ semantisch korrekt bezeichnet ist oder nicht. Der Mann ist Chef eines Nachrichtendiensts. Wenn er von „Falschinformationen“ spricht, dann wird er wohl etwas wissen, was jemand, der hier von „Menschenjagd“ spricht, nicht weiß.
Aber… nein. Offenbar nicht der Fall.
Was sich damit klärt, betrifft weniger den Inhalt von Maaßens Äußerung als die Methode: Da wird eine Äußerung rausgehauen, die erst einmal alle auf die Barrikaden treibt, aber gleichzeitig so kunstvoll zweideutig gehalten ist, dass man sich hinterher auf eine vermeintlich unverfängliche Deutungsvariante zurückziehen und dann die verfolgte Unschuld mimen kann. Kennen wir das nicht irgendwoher? Oh doch, das kennen wir sehr gut. Das kennen wir von der AfD, die diese Kunst längst zur Perfektion zu treiben gelernt hat: Bernd Höckes „Denkmal der Schande“. Beatrix von Storchs Mausrutscher. Alexander Gaulands Vogelschiss. Die eigene Behauptung wird mit einem Schleimkokon aus „Wird man doch noch sagen dürfen“ und „Man dreht mir die Worte im Mund um“ überzogen und damit gegen jede Kritik immunisiert, die im Gegenteil an ihre Äußerer zurückgespiegelt wird, um sie als Haarspalter, Untersteller, Hysteriker und Verbreiter von Fake News hinstellen zu können. Einstweilen ist die Botschaft „Nazigewalt ist Antifa-Erfindung“ aber in der Welt, und wer Ohren hat, sie zu vernehmen, soll sie gerne hören, denn dafür kann man ja jede Verantwortung weit von sich weisen. War ja nicht so gemeint.
Ich muss gar nicht notwendig wissen, wie weit nun Maaßen inhaltlich mit den AfD-Politikern sympathisiert, mit denen er sich trifft, oder mit den Chemnitz-Demonstranten, die er qua Interview in Schutz nimmt. Den Inhalt brauche ich gar nicht, es reicht schon die Methode. Maaßen, und mit und hinter ihm der Bundesinnenminister und der größte Teil des bundesdeutschen Sicherheitsapparats, hat die Rutschbahn betreten, die in jenem schwarz blubbernden Lügenpool mündet, in dem sich jede Verständigung darüber auflöst, was ist und was gilt, und alles zu einer politischen Bekenntnissache wird. Der konservative Herr Dr. Maaßen mit seinem Dreiteiler, seinem Juristengesicht und seiner Goldrandbrille – in diesem Pool plantscht er jetzt, und zwar in der Gesellschaft von Leuten, die aus gutem Grund eigentlich seiner professionellen Beobachtung anzuempfehlen wären. Das hat sich also geklärt in dieser Woche, und ich bin sehr froh, dass die SPD in all ihrer Gottverlassenheit einstweilen noch genügend Kraft zu haben scheint, das nicht einfach auf sich beruhen zu lassen. Möge sich die Lage nur weiter klären!
Nicht die erste Entgleisung
Zur Causa Maaßen hat uns CLAUS LEGGEWIE schon Anfang der Woche den Kontext geliefert, vor dem die aktuelle Klärung erst so richtig schön ins Relief tritt: Maaßens „letzte Entgleisung ist noch harmlos im Verhältnis zu den Verfehlungen, die seine Amtszeit von Beginn an begleiten. Und auch die sind weniger bedeutsam als die gesamte Veranstaltung namens Verfassungsschutz, die seit 1950 aus strukturellen Gründen die Republik weniger schützt als belastet.“
Was Ungarn, aber auch Polen betrifft: KIM SCHEPPELE und DAN KELEMEN haben mein letztes Editorial zum Anlass genommen, die Notwendigkeit und rechtlichen Gründe für Transferleistungskürzungen gegenüber diesen beiden Ländern mit allem gebotenen Schmackes auszubuchstabieren. Das Problem sei nicht der Mangel an rechtlichen Instrumenten, sondern der Mangel an Willen der Kommission, von den vorhandenen Instrumenten auch Gebrauch zu machen.
Apropos EU-Kommission: Auf dem Verfassungsblog war ansonsten sicher der Höhepunkt der Woche das gemeinsam mit dem Leviathan-Forschungsprojekt an der Hertie School of Governance veranstaltete Online-Symposium über Jean-Claude Junckers „politische Kommission“ und die Frage, ob sie ein Erfolg war, und wenn nein, wie groß der Schaden. MARK DAWSON nahm Juncker selbst unter die Lupe, ALBERTO ALEMANNO Martin Selmayr und das „Better-Regulation“-Programm, KENNETH ARMSTRONG das Brexit-Verhandlungsmandat von Michel Barnier, MARCO GOLDONI die Leistungen der Kommission in punkto Wirtschaft und Eurozone. JORIS LARIK richtet den Blick auf die Außen-, Sicherheits- und Handelspolitik, CATHRYN COSTELLO und ELSPETH GUILD auf die Bewältigung der Flüchtlingskrise. Und DIMITRY KOCHENOV kommt in Sachen Rechtsstaatlichkeit zu dem niederschmetternden Schluss, dass die Politisierung der Kommission die Union „in einem Gebiet von fundamentalster Wichtigkeit grundlegend unterhöhlt hat: ihre rechtsstaatliche und demokratische Natur. Die, politische Kommission’ wird in Erinnerung bleiben als Beobachter des Verblassens der Idee der EU als starke Union von Demokratien.“
In den USA untersucht der Sonderermittler Robert Mueller Präsident Trumps Russland-Connection und ihre potenziell kriminellen Aspekte. SAMUEL BUELL geht der Frage nach, was verfassungsrechtlich eigentlich passiert, wenn das gewählte Staatsoberhaupt in der Tat eines Verbrechens überführt wird.
In Lettland wird im Oktober gewählt, was MADARA MELNIKA und JULIAN SENDERS zum Anlass nehmen, die komplizierte Frage nach dem Recht früherer Sowjetrepubliken, Postkommunisten den Zugang zum Parlament zu erschweren, anhand des Falls der Abgeordneten Tatjana Ždanoka zu untersuchen.
Bulgarien hat ein gigantisches Problem mit dem Europäischen Gerichtshof wegen der menschenunwürdigen Zustände in seinen Gefängnissen – ein viel zu selten wahrgenommener Skandal, den RADOSVETA VASSILEVA beleuchtet.
In Indien hat der Oberste Gerichtshof der Strafbarkeit von „unnatural carnal intercourse“ ein Ende bereitet und damit der LGBTQ-Community zu ihrem Menschenrecht verholfen. KANAD BAGCHI stellt das Urteil in den Kontext des transnational constitutionalism.
In Deutschland hat das Kabinett den Gesetzentwurf zur Einführung eines dritten Geschlechts verabschiedet, der ANJA SCHMIDT überhaupt nicht zufrieden stellt.
Die aktuelle Verfassungsbeschwerde gegen den so genannten Staatstrojaner stellen ULF BUERMEYER und BIJAN MOINI vor.
EMANUEL TOWFIGH und JACOB ULRICH gehen der Frage nach, was der neuen linken Sammlungsbewegung #Aufstehen in punkto Revitalisierung des deutschen Parteiensystems zuzutrauen ist.
Was die Kirchen in Deutschland betrifft und ihr Recht, ihre Arbeitskräfte auf Kosten von deren Grundrechten ihren Glaubenssätzen zu unterwerfen, hat der Europäische Gerichtshof ein folgenschweres Urteil gefällt. HANS MICHAEL HEINIGs erste Gedanken in unserem neuen Format „VB vom Blatt“ sind hier zu finden. ALEXANDER TISCHBIREK sieht das Urteil als Begründung eines europäischen Staatskirchenrechts ex negativo und fragt sich, wie diese muskulöse Ansage aus Luxemburg wohl in Karlsruhe ankommt.
Eine andere Ansage des EuGH, die in Richtung der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit im Urteil Achmea nämlich, wird im jüngsten Schiedsgerichtsentscheid in Sachen Vattenfall gegen Deutschland herausgefordert – ein Aspekt, den ANDREJ LANG herausarbeitet.
Was Großbritannien und seiner Wirtschaft im Fall eines No-Deal-Brexit unter dem Regime der WTO bevorsteht, untersuchen KAHRAMAN ALTUN und JOHANNES MÜLLER.
Völkerrechtlich schicken sich Serbien und der Kosovo mit ihrem geplanten Territorientausch an, neues und nicht unbedenkliches Gebiet zu betreten. ALEKSANDAR PAVKOVIĆ schildert drei mögliche Szenarien, wie die Staatengemeinschaft auf diesen Tausch reagieren könnte.
Anderswo
ÁLVARO OLEART glaubt, dass die EU mit der Abstimmung zu Ungarn eine Schlacht gegen die „nationalistische Internationale“ gewonnen hat, der Gewinner des Krieges am Ende aber Manfred Weber heißen könnte.
BERND PARUSEL beschreibt, wie Schweden den in Deutschland heiß diskutierten „Spurwechsel“ abgelehnter Asylbewerber ins Regime des Einwanderungsrechts regelt.
MARK VARSZEGI hält die Pläne in Ungarn, Gender Studies aus den Lehrplänen der Universitäten zu tilgen, für einen weiteren Wirbelbruch der Demokratie und für rechtswidrig obendrein.
STEVE PEERS nimmt die geplante Verschärfung der EU-Rückführungsrichtlinie und der Vorschriften zur Abschiebehaft kritisch unter die Lupe.
PHILIP ALLOTT hält die Zweijahresfrist für den Brexit für unrealistisch kurz und fordert, sie zu verlängern, um UK einen geordneten Austritt zu ermöglichen.
GAURI PILLAI untersucht, wie sich das Urteil des indischen Supreme Court zu den Rechten von LGBTQ auf intersektionale Diskriminierung auswirkt.
TERESA FREIXES fragt, wie die auf Integration angelegte spanische Verfassung Raum für bilaterale Verhandlungen zwischen Staat einerseits und Provinz Katalonien andererseits lassen kann.
So viel für diese Woche. Ihnen einstweilen alles Gute!
Ihr Max Steinbeis
In einer früheren Version dieses Artikels war Pablo Casados Vorname falsch angegeben; der Fehler wurde korrigiert.