Festa della Repubblica
Die aktuellen Verfassungsnews von Max Steinbeis
„Wir wollen das Vertrauen in unsere Demokratie und in die Institutionen des Staates wieder stärken.“
Das ist der erste Satz des Koalitionsvertrags zwischen den Parteichefs von Lega und Movimento Cinque Stelle, der das Programm festlegt, wonach Italien in der nächsten Legislaturperiode regiert werden soll. Klingt doch super für eine Koalition von Parteien, die bisher das Misstrauen in die italienische Demokratie und in die Institutionen des Staates sehr erfolgreich zu bewirtschaften verstanden haben und als erstes mal einen politisch einflusslosen Nobody als Ministerpräsidenten-Marionette installieren, auf dass gleich jede italienische Bürgerin vor Respekt vor den Institutionen des Staates nur so durchrieselt wird.
Dass die beiden Parteien, die künftig die Staatsmacht in Italien kontrollieren, die Europäische Union und die Eurozone in die Luft sprengen könnten, ist hinlänglich bekannt und furchtbar genug. Dass Migranten, Flüchtlinge, Muslime und Roma von ihnen nichts Gutes und viel Böses zu gewärtigen haben, ebenso. Weniger klar ist aber, was Italien selbst als Verfassungsstaat bevorsteht. Populistische Parteien, die den „wahren Willen des Volkes“ zu repräsentieren vorgeben, haben eine Neigung dazu, früher oder später mit den „elitären“ Institutionen des Verfassungsstaates ins Gehege zu geraten. Kann das jetzt auch Italien widerfahren? Und mit welchen Folgen?
Der „Contratto per il Governo del Cambiamento“ mit seinen 57 Seiten ist selbst für Koalitionsvertrags-Standards ein ziemlich unklar formuliertes Dokument. Aber etwas Besseres haben wir nicht, und es enthält doch das eine oder andere Interessante.
Die nächste Verfassungsreform
Zum Beispiel zum Parlament. Eine der Dinge, die die Koalition ändern will, ist der Drang der Abgeordneten zur politischen Mitte, zum Kompromiss und zum Verrat an der reinen radikalen Linie, für die sie mal gewählt worden sind. Dieses Phänomen, uns Deutschen jedenfalls seit der Ära Merkel auch nicht mehr ganz unvertraut, hat in Italien unter dem Stichwort Trasformismo schon seit dem späten 19. Jahrhundert einen schlechten Ruf, und Lega/M5S will ihm mit einem ziemlich massiven Eingriff in die Freiheit des Abgeordnetenmandats ein Ende setzen: „Formen der Bindung des Mandats“ sollen eingeführt werden, auf dass die Mandatsträger nicht mehr ihre Fraktion verlassen und zu einer anderen wechseln dürfen (S. 35).
Den Koalitionären ist es wichtig zu betonen, dass es solche Bindungen woanders auch gibt, etwa in Portugal (Art. 160 der portugiesischen Verfassung, der allerdings, wie MASSIMO FICHERA betont, nicht mit den Plänen der italienischen Koalition vergleichbar ist – Verfassungsvergleichung ist halt immer eine höchst kontextabhängige Sache). Der Effekt wird sein, dass die Macht der Regierungsparteien massiv wächst, wenn die Abgeordneten ihnen nicht mehr von der Fahne gehen können, ohne ihr Mandat zu verlieren. Aber scheint die bisher um keine Kritik an der Machtkonzentration der Regierungsparteien verlegenen Grillini nicht zu stören, im Gegenteil. Sie sind ja die Guten.
Das ist aber alles nicht ohne Verfassungsänderung möglich, und die wiederum bedarf nicht der Mitwirkung der Opposition, wohl aber eines erfolgreichen Verfassungsreferendums. Das letzte liegt ja noch nicht lange zurück und war eine spektakuläre Pleite. Ob Lega und M5S erfolgreicher sind, die Bürgerinnen und Bürger von der Notwendigkeit einer Verfassungsreform zu überzeugen, als Matteo Renzi es war, müssen sie erst noch zeigen. Es macht womöglich einen Unterschied, aus der Position des Regierenden dergleichen vorzuschlagen und sich dann fragen lassen zu müssen, welchen Machtzuwachs man sich selbst davon verspricht.
Hoch die Tricolore
Interessant wird, wie sich der „Vermittlungsausschuss“ entwickelt, den die Koalition installieren will, um Unstimmigkeiten zu klären. Ob daraus eine Art Politbüro entstehen kann, in dem am Ministerrat und am Parlament vorbei informell und intransparent die eigentlichen Entscheidungen fallen, ist nach dem Wenigen, das der Koalitionsvertrag dazu enthält, weder ausgemacht noch ausgeschlossen.
Weitreichende Pläne hat die Koalition in punkto direkte Demokratie: Bislang sind Referenda, um Gesetze für ungültig zu erklären, an ein Quorum von 50 Prozent der Wahlbeteiligten gebunden (Art. 175 der Verfassung). Dieses Quorum will die Koalition abschaffen und dafür auch positive Volksinitiativen einführen (S. 36).
Zur Unabhängigkeit der Justiz enthält der Vertrag ebenfalls eine Passage, die eine Reform der Wahlen der Mitglieder des Obersten Justizrats in Aussicht stellt (S. 22) – aber Polen-Alarm ist hier wohl erst mal nicht angezeigt, zumal sich mit der ohnehin aufs Hitzigste auf ihre Unabhängigkeit bedachten italienischen Justiz, die bereits Berlusconi erfolgreich zu Fall gebracht hat, auch weiterhin niemand anlegen wollen wird. Vielmehr geht es hier um eine alte, fast gemeinplatzartige Forderung, etwas gegen die Parteigebundenheit der Mitglieder dieses Gremiums zu tun. Ob die Regierung, sollte sie dieses Thema eines Tages anpacken, dann doch die Versuchung verspüren wird, auf diesem Weg den Justizrat mit ihren Minions zu füllen, kann man heute noch nicht sagen, aber der Koalitionsvertrag enthält, soweit ich sehe, kein Indiz dafür.
Einstweilen scheint es mir am heutigen Tag der italienischen Republik gute Gründe zu geben, die Bandiera Tricolore mit Trotz und Stolz hochzuhalten. Italien hat weiterhin eine robuste Verfassung, eine starke Justiz und vor allem ein Verfassungsgericht, das vor nichts und niemand Angst hat und das auch gegenüber der wirklich zutiefst abscheulichen Salvini-Partei, die in manchen norditalienischen Regionen ja schon länger regiert, wiederholt bewiesen hat. Aber es gibt auch gute Gründe, alarmiert zu bleiben. Wenn Di Maios „Dritte Republik“ Wirklichkeit werden soll, dann wird sie auf Dauer kaum mit dem Verfassungssystem der Zweiten Republik weitermachen wollen, zumal sie dem maroden Zustand, in dem sich deren intermediären Institutionen vom Parteiensystem bis zur Medienöffentlichkeit befinden, ja zu einem Gutteil ihren Aufstieg verdankt.
Was es dagegen nicht gibt, sind Gründe, in Berlin und Brüssel und anderenorts indigniert die Köpfe zu schütteln über diese unmöglichen Italiener und ihre Unfähigkeit, ihre eigenen Probleme zu lösen. Was in Italien gerade passiert, ist eine Variante eines Phänomens, das ganz Europa heimsucht in diesen Zeiten, und kein Produkt irgendeiner italienischen Eigenart. Dass die seit Jahr und Tag bis zum Überdruss beschriebenen Strukturprobleme der Eurozone bis heute nicht vernünftig gelöst wurden, ist nicht in erster Linie Italiens Schuld. Und dass Europa Italien jahrelang mit geradezu hämischer Arroganz in der Flüchtlingsfrage allein gelassen hat, ebensowenig. Ein Europa, dem in dieser Situation nichts einfällt als kulturalistische Hochnäsigkeit und klammheimliche Freude über die blinde Logik der Finanzmärkte, ein solches Europa kann mir ehrlich gesagt gestohlen bleiben.
Pactum ad Excludendum
Italiens Präsident Mattarella hatte einen ersten Anlauf zur Regierungsbildung durch Lega und M5S daran scheitern lassen, dass der Euroskeptiker Paolo Savona dann Wirtschafts- und Finanzminister geworden wäre. Verfassungsrechtlich hat Mattarella damit seine Kompetenzen wohl nicht überschritten. MASSIMO FICHERA belegt, dass der Präsident durchaus die Kompetenz hat, einzelne Minister abzulehnen, und DILETTA TEGA und MICHELE MASSA erklären, mit welchen Argumenten er dies zur Bewahrung von Italiens Mitgliedschaft im Euro tun durfte. Für MARCO DANI und AGUSTÍN JOSÉ MENENDEZ ist es hingegen ein massives Problem, wenn sich europarechtlich die Ansicht durchsetzte, dass Kritiker der Europäischen Union qua „pactum ad excludendum“ in einem Mitgliedsstaat nicht Wirtschafts- und Finanzminister werden können.
Apropos italienischer Verfassungsgerichtshof: dessen legendäre Auseinandersetzung mit dem Europäischen Gerichtshof in der "Taricco"-Saga ist mit einem Urteil zu einem Abschluss gekommen, das uns CHIARA AMALFITANA und ORESTE POLLICINO analysieren. Ich erwarte den Beitrag jeden Moment und kann daher noch nicht darauf verlinken.
Vor lauter Italien sollten wir aber Polen nicht vergessen: Dessen Verfassungszustand war in dieser Woche Gegenstand der mündlichen Verhandlung vor dem Europäischen Gerichtshof in dem epochalen Celmer-Verfahren. Kann man von den EU-Mitgliedsstaaten noch genügend Vertrauen in die Unabhängigkeit der polnischen Justiz erwarten, um von Polen Gesuchte dorthin auszuliefern? Wir hoffen auf einen Verhandlungsbericht in den nächsten Tagen. LAURENT PECH hat der polnischen Website OKO Press in einem Interview Auskunft gegeben, was in dem Konflikt von der Kommission, vom Rat und vom Gerichtshof zu erwarten ist; die englische Version des von ANNA WÓJCIK geführten Interviews ist hier.
Nachrichten ganz anderer Art kommen in dieser Woche vom deutschen Bundesverwaltungsgericht, das über die Frage zu entscheiden hatte, ob die Betreiber von Internet-Infrastruktur als Hüter von Datenschutz und Menschenrechten gegen die Wissbegier des Bundesnachrichtendienstes ins Feld ziehen können. Können sie nicht, so das BVerwG. BJÖRN SCHIFFBAUER erzählt die märchenhafte Geschichte.
Anderswo
CHRISTOPHER GIOGIOS untersucht, ob die deutsche Polizei anlässlich der Fußball-WM Daten über deutsche Hooligans nach Russland liefern darf. Auf dem JUWISS-Blog gibt es eine Schwerpunktwoche zum Datenschutzrecht mit einer Menge interessanter Beiträge.
JUAN RODRÍGUEZ TERUEL beschreibt, wie Pedro Sánchez das Unwahrscheinliche gelang, nämlich den spanischen Ministerpräsidenten Mariano Rajoy zu stürzen, und MIGUEL ÁNGEL PRESNO LINERA stellt das Misstrauensvotum in Spanien in den verfassungsvergleichenden Kontext.
Die Verfassung der USA kennt nach wie vor kein explizites Gebot, Männer und Frauen gleichzubehandeln. Fast 100 Jahre nach dem ersten Versuch, das zu ändern, und fast 50 Jahre nach dem Beschluss des US-Senats, den Weg für die Ratifikation der Bundesstaaten freizumachen, hat jetzt Illinois dafür gestimmt, womit theoretisch nur noch ein Staat (und eine Verlängerung der Ratifikationsfrist im Kongress) fehlt, und das Gleichbehandlungsgebot steht endlich in der Verfassung. SANDY LEVINSON glaubt indessen nicht an den Erfolg der Sache.
ILYA SOMIN erklärt aus libertärer Sicht, warum es falsch ist, Kriminelle abzuschieben statt sie zu bestrafen.
BRUNO DAUGERON untersucht die Pläne, das Wahlrecht zur französischen Assemblée Nationale zu reformieren.
JAMES FOWKES lenkt unsere Aufmerksamkeit auf das Thema Klimaschutz durch Gerichtsverfahren, aus aktuellem Anlass eines niederländischen Falles.
IDDO PORAT setzt sich kritisch mit einem aktuellen Vorstoß in Island, medizinisch nicht notwendige Beschneidung zu verbieten, auseinander.
So viel für diese Woche. Großen Dank schulde ich DILETTA TEGA und MICHELE MASSA, die sich die Zeit genommen haben, mit mir die aktuelle Situation in Italien und den Inhalt des Koalitionsvertrags zu diskutieren.
Und noch eine Neuigkeit in eigener Sache: ANNA VON NOTZ, bisher Associate Editor für Parteien, Wahlrecht und Parlamentarismus, wird künftig als Redakteurin beim Verfassungsblog fest mitarbeiten und sich schwerpunktmäßig darum kümmern, dass wir bei den deutschen Verfassungsthemen wieder stärker werden. Damit tritt der Verfassungsblog aus seinem Stadium als Max Steinbeis’ Wohnzimmerprojekt endgültig heraus und fängt an, so etwas wie eine Redaktionsstruktur zu entwickeln – ein großes Abenteuer, auf das ich mich sehr freue und von dem Sie hoffentlich auch etwas haben werden.
Ihnen einstweilen alles Gute!
Ihr Max Steinbeis