Liebe Freund_innen des Verfassungsblogs,
Man möchte es ja nicht glauben. Aber die PiS scheint tatsächlich einzulenken. Sicher ist viel Taktik im Spiel, sicher ist das nur ein Teilerfolg, sicher ist Polen deswegen noch lange nicht aus dem Gröbsten raus. Aber immerhin: Der polnische Oberste Gerichtshof scheint vorläufig vor dem Zugriff der PiS-Regierung gerettet. Nach einer soeben verabschiedeten Reform der „Reform“ können die zwangspensionierten Richter, Gerichtspräsidentin Malgorzata Gersdorf eingeschlossen, jetzt ganz offiziell in ihrer bisherigen Funktion weitermachen. Mag sein, dass diese ganze Zwangspensionierung von vornherein als Ballast gedacht gewesen ist, den man über Bord schmeißen kann im Streit mit der EU, um wichtigere Dinge durchzukriegen. Aber selbst wenn: das ist ein Grund zum Feiern. Und das ist ein Erfolg des Europarechts. Europarecht wirkt!
Was war passiert? Die EU-Kommission hatte wegen der geplanten Unterwerfung des Obersten Gerichtshofs ein Vertragsverletzungsverfahren gestartet und der EuGH hatte Polen per einstweiliger Anordnung aufgetragen, bis zum endgültigen Urteil den Zustand am Obersten Gerichtshof vor Inkrafttreten des Gesetzes einzufrieren. Diese Anordnung hätte gar kein neuerliches Gesetz erfordert, da die Zwangspensionierung mangels Gegenzeichnung durch den Premierminister nie rechtlich wirksam geworden war. Aber gut, die PiS-Regierung wollte Handlungsfähigkeit demonstrieren und hat ein Gesetz gemacht, wie gewohnt innerhalb von Stunden und ohne jede Rücksicht auf verfahrensrechtliche Feinbeinereien. Na gut, wir wollen nicht pingelig sein. Weniger schön ist, dass der PiS-hörige Nationale Justizrat (dazu gleich mehr) einstweilen offenbar weiterhin neue Richter_innen für den Obersten Gerichtshof einstellt. Mal sehen, was aus denen wird.
Natürlich wäre es naiv zu glauben, dass die PiS jetzt plötzlich ihren Fehler eingesehen hat. Im nächsten Jahr sind Europawahlen, und das EuGH-Urteil wird wahrscheinlich genau in die heiße Phase des Wahlkampfs fallen. Der PiS-Vorsitzende des Rechtsausschusses hat in einem klerikalfaschistischen Radiosender offen zugegeben, dass es sich um ein „taktisches Ausweichmanöver“ handle. Viele in der PiS sind offenbar der Meinung, dass die Kommission jetzt, wo sie doch so brav waren, die Klage zurückziehen soll. Das wird sie, wenn sie als Hüterin der Verträge noch irgendeinen Anspruch darauf erhebt, ernst genommen zu werden, natürlich nicht tun. Die Vertragsverletzung, um die es in dem Verfahren geht, verschwindet ja nicht dadurch, dass Polen plötzlich Wohlverhalten heuchelt.
Es gibt aber noch mehr Neuigkeiten aus Polen in dieser Woche: Der Oberste Verwaltungsgerichtshof hat dem EuGH die Frage vorgelegt, ob der Nationale Justizrat den europäischen Anforderungen an eine unabhängige Justiz genügt. Da steckt richtig Sprengstoff drin. Der Nationale Justizrat war von der PiS-Mehrheit eigens unterworfen worden, um die Neubesetzung der Stellen der zwangspensionierten Richter_innen am Obersten Gerichtshof in ihrem Sinne steuern zu können. Auf diese Stellen hatten sich eigens eine Reihe von verfassungstreuen Jurist_innen mitbeworben, um im Fall ihrer erwartbaren Niederlage klagen zu können. Das haben sie getan, und das hat dem Obersten Verwaltungsgerichtshof die Gelegenheit verschafft, den EuGH in Luxemburg mit dem Problem Nationaler Justizrat zu befassen. Wenn das Gremium, das die Richter auswählt, nicht unabhängig ist, dann sind auch die Richter nicht unabhängig, so die Logik. Und wenn die nationale Justiz, auf deren Umsetzung des Europarechts die ganze Rechtsgemeinschaft gründet, nicht mehr unabhängig ist, dann geht das, wie wir seit Associação Sindical wissen, das Europarecht ganz fundamental etwas an.
Damit aber noch nicht genug. Der Nationale Justizrat war unterdessen auch nicht untätig und hat seinerseits das polnische Verfassungsgericht angerufen: Das soll ihm jetzt bescheinigen, dass seine aktuelle PiS-hörige Besetzung verfassungsrechtlich vollkommen korrekt ist. Ein PiS-höriges Organ ruft ein anderes PiS-höriges Organ an, um seine Nicht-PiS-Hörigkeit bestätigt zu kriegen? Das wird nicht funktionieren. Solange am Verfassungsgericht drei Richter miturteilen, die auf Posten sitzen, die schon von anderen besetzt sind, haben seine Urteile ohnehin keine rechtliche Wirkung. Zu hoffen bleibt, dass der Vorgang die EU-Kommission nur bestärkt, sich nach dem Obersten Gerichtshof nun auch den Nationalen Justizrat und das Verfassungsgericht auf dem Weg des Vertragsverletzungsverfahrens vorzuknöpfen. So oder so: die Art, wie die PiS das Rechts- und Justizsystem Polens in Schutt und Trümmer legt, hat etwas von einem Bud-Spencer-Film, das muss man sagen.
Dank an Patryk Wachowiec für wertvolle Hintergrundinformationen!
Herrschaft des Unrechts
Apropos EuGH, und apropos Missachtung der Justiz: Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat kürzlich ebenfalls einen Vorlagebeschluss nach Luxemburg geschickt, der es wahrhaftig in sich hat. Es geht um das Dieselfahrverbot in München, das sich Bayern beharrlich zu verhängen weigert – trotz rechtskräftigen Urteils, das ein solches Fahrverbot als europarechtlich unausweichliche Konsequenz einfordert.
Was macht ein Verwaltungsgericht, wenn das verurteilte Bundesland über eineinhalb Jahre einfach nur breit grinst und sagt: Ihr könnt uns mal? Es kann ein Zwangsgeld verhängen, aber das zahlt sich im Endeffekt das Bundesland selber, das bringt also nichts. Kann es auch Zwangshaft anordnen? Kann es die verantwortlichen Amtsträger des Freistaats Bayern so lange hinter Gitter sperren, bis sie spuren?
Diese Frage hat der 22. Senat des Bayerischen VGH mit Beschluss vom 9.11.2018 (Az.: 22 C 18.1718) dem Europäischen Gerichtshof vorgelegt. Wenn der Freistaat die Fahrverbote unverhältnismäßig findet, so die obersten Verwaltungsrichter Bayerns, dann „steht es ihm zwar unbenommen, diese Meinung zum Ausdruck zu bringen; seine Pflicht, rechtskräftige gerichtliche Entscheidungen zu befolgen, (…) bleibt hiervon jedoch unberührt. (…) Eine Vorgehensweise, die von vornherein darauf angelegt ist, die Aufnahme von Verkehrsverboten für Dieselfahrzeuge in eine Fortschreibung des Luftreinhalteplans für München auszuschließen, stellt keine Erfüllung der zu vollstreckenden gerichtlichen Entscheidungen dar“ (RNr. 67, 70).
Was die bayerische Landesregierung da treibt, ist nicht nur eine Frechheit, sondern Verfassungsbruch. Es geht um das Rechtsstaatsprinzip. Da ist der VGH sehr deutlich. „Die (…) gezielte Missachtung rechtskräftiger gerichtlicher Entscheidungen durch die vollziehende Gewalt kann nicht hingenommen werden“ (RNr. 119).
Die Möglichkeit zur Zwangshaft, die der VGH in Luxemburg bestätigt haben will, ist deshalb heikel, weil nach deutschem Verfassungrecht Freiheitsentziehung an einen strengen Gesetzesvorbehalt geknüpft ist. Und auch europarechtlich geht das nicht einfach so. Der VGH hält aber „diese Bedenken (für) nicht unüberwindlich“ (RNr. 153). Die Zwangshaft käme ja nicht aus heiterem Himmel, muss angedroht werden und kann durch Erfüllung der Rechtspflicht vermieden werden.
Und wen will der VGH verhaften? Zunächst die unmittelbar für den Luftreinhalteplan zuständigen Beamten in der Bezirksregierung Oberbayern bis hinauf zum Regierungspräsidenten (RNr. 162), die aber auch nur Weisung von oben gehorchen, so dass auch Beamte des bayerischen Umweltministeriums bis hinauf zum Minister einrücken müssten (RNr. 163ff.). Soweit er seine Richtlinienkompetenz ausgeübt hat, umfasst der Kreis der vom VGH ins Visier genommenen Amtsträger auch den Ministerpräsidenten Markus Söder (RNr. 172ff.).
Woran man zwei Dinge sieht. Erstens: wir Deutschen, oder zumindest: wir Bayern sollten über die Polen nicht allzu selbstgefällig mit den Augen rollen. Und zweitens: um dem Recht zur Geltung zu verhelfen, braucht man in diesen Zeiten populistisch versuchter Regierungsgewalt dringender denn je den EuGH. An ihm hängt die Herrschaft des Rechts. An ihm hängt alles.
Ein Hauch von Trump
Auf dem Verfassungsblog war dies eine ungewöhnlich flaue Woche, vor allem angesichts der Vielzahl interessanter Dinge, die sich in ihr zugetragen haben. Manchmal hat man eben einfach Pech. In der nächsten Woche kommen dann hoffentlich all die Beiträge, um die wir uns in dieser vergebens bemüht haben.
Die Vorgänge in Polen und eine oberflächlich gleichfalls zu Hoffnung Anlass gebende Verfassungsgerichtsentscheidung aus Ungarn kommentiert uns RÉNATA UITZ, die allerdings die nunmehr geopferte Zwangsverrentung für eine von vornherein geplante Finte hält, daher wenig Anlass zum Enthusiasmus sieht und jedenfalls eins (m.E. richtigerweise) für offensichtlich gescheitert hält: den „Rechtsstaatsdialog“.
In Deutschland hat der CDU-Wiedergänger Friedrich Merz für Aufregung gesorgt, als er plötzlich die aktuelle Flüchtligsdebatte mit einem Stück Asylrhetorik der 90er Jahre bereicherte und die Streichung bzw. Relativierung des Asyl-Grundrechts in Art. 16a Grundgesetz forderte. KLAUS FERDINAND GÄRDITZ hat nicht viel Mühe mit der Beweisführung, dass Merz im günstigsten Fall nicht weiß, welchen Unsinn er redet, und im ungünstigsten Fall es durchaus weiß, es aber trotzdem tut. So oder so: dies war eine Woche, in der ein vernehmlicher Hauch von Trump durch Deutschland wehte.
Ebenfalls in Deutschland gab es einen Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zu der Frage, was die Verwaltungsgerichtsbarkeit tun soll, wenn die Wissenschaft beim Ermitteln des Sachverhalts einfach nicht weiterhilft. Es geht um Naturschutz und Epistemologie, und meinen Versuch, mir einen Reim auf diese riskante Entscheidung zu machen, finden Sie hier.
Dass Russland tatsächlich aus der Europäischen Menschenrechtskonvention austritt, hält DMITRY KURNOSOV aus innenpolitischen Gründen noch lange nicht für ausgemacht.
Auf den Malediven hat der Oberste Gerichtshof dem Versuch von Präsident Abdullah Yameen, seine Abwahl für ungültig zu erklären, widerstanden, aber auf Basis von höchst fragwürdigen Gründen, beklagt AHMED NAZEER.
Anderswo
JOHN MORIJN listet vier weitere „weniger schlechte“ Entwicklungen in punkto Rechtstaatlichkeit in Europa auf
EVELYN MERCKX kritisiert aus Anlass des deutschen Falls Fröhlich die Inkonsistenz, mit der der EGMR über die Frage des Rechts, seine biologische Abstammung zu kennen, urteilt.
VINCENT DELHOMME und LUCIE LARRIPA analysieren das Urteil des EuGH zur Vertragsverletzung Frankreichs wegen europarechtswidriger Rechtsprechung des Conseil d’État.
THIBAUT GUILLY hat sich das Brexit-Übereinkommen zwischen der EU und Großbritannien näher angeschaut.
IGNACIO MOLINA hält es für möglich, dass angesichts des spanischen Last-Minute-Widerstands Theresa May mit ihrem Brexit-Plan noch am Felsen von Gibraltar Schiffbruch erleiden könnte.
GERRIE LODDER berichtet von neuen Urteilen des EuGH zu Integrationstests in den Niederlanden.
KEVIN JON HELLER entsetzt sich über die Verurteilung des britischen Wissenschaftlers Matthew Hedges als angeblicher Spion in den Vereinigten Arabischen Emiraten als beispiellosen Angriff auf die Wissenschaftsfreiheit.
ANNE PETERS sieht im Streit um den UN-Migrationspakt eine Mitschuld in der Intransparenz seines Zustandekommens.
So viel zur vergangenen Woche. An diesem Sonntag richten sich alle Augen auf die Schweiz, wo die „Selbstbestimmungsinitiative“ zur Abstimmung steht – der jüngste Versuch der rechten SVP, unter dem Schlagwort „Schweizer Recht statt fremde Richter“ nationale Selbstbestimmung gegen die Europäische Menschenrechtskonvention in Position zu bringen. Im Moment scheinen die Umfragen eher nicht darauf hinzudeuten, dass die SVP damit durchkommt. Am Sonntag Abend wissen wir mehr.
Ihnen eine gute Woche und bis bald,
Ihr Max Steinbeis