Historiker zu Massengräbern in Kanada: „Es ist ein kultureller Genozid“

Nach den Funden von Kinderleichen in der Nähe früherer katholischer Schulen fordert der Historiker Manuel Menrath von der Kirche ein umfassendes Schuldeingeständnis

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In der Dämmerung leuchten zahlreiche Solarlämpchen auf der Wiese vor einer Kirche, sie markieren die aufgefundenen Kindergräber.

Die kanadische Öffentlichkeit zeigt sich von den Funden von bislang unbekannten Massengräbern an früheren katholischen Schulen für indigene Kinder erschüttert. Die unmarkierten Gräber von bereits mehr als tausend Kindern erinnern die indigenen Gemeinschaft an die Zeit, in denen Kinder ihren Familien entrissen und zur Missionierung in katholische Schulen eingewiesen wurden. Die Funde haben zu Protesten in kanadischen Städten geführt, auch Anschläge gegen katholische Kirchen werden mit den Ereignissen in Verbindung gebracht.

Der Historiker Manuel Menrath arbeitet seit 2009 am Historischen Seminar der Universität Luzern. Die Forschung über die Missionierung der Indigenen Nordamerikas gehört zu seinen Schwerpunkten. 2016 erhielt er den Opus-Primum-Förderpreis der Volkswagen-Stiftung für sein Buch „Mission Sitting Bull“, in dem er die Geschichte der Bekehrung von Sioux durch Benediktiner erzählt. 2020 erschien von ihm das Buch „Unter dem Nordlicht“ über indigene Kulturen Kanadas.

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Herr Menrath, wie sehr waren Sie von den Funden überrascht?

Überrascht war ich vom großen Ausmaß in ganz Kanada. Erstaunt wiederum aber nicht, da mir Indigene im Norden Ontarios immer wieder von Verwandten berichtet haben, die Beamte in eine hunderte Kilometer weit entfernte Residential School verschleppt hatten, und die spurlos verschwunden seien. Jetzt ist klar, es handelte sich nicht um Einzelfälle, sondern zahlreiche Kinder, die in den Schulen starben, wurden nicht zu ihren Eltern in den Reservaten zurücküberführt.

Sie erforschen seit längerem die katholische Missionierung Indigener in Nordamerika. Dass an Schulen so viele Kinder vorzeitig gestorben sind – ist das aus Ihrer Sicht Ausnahme oder System?

Es sind Tausende Kinder in diesen Schulen gestorben. Gewiss gab es auch viele Todesfälle in euro-kanadischen Internaten, also in Bildungseinrichtungen für weiße Kinder. Dennoch zeigt der Vergleich, dass die Sterberate in den Schulen für indigene Kinder um ein Vielfaches höher lag.

Indigene Kultur und Spiritualität galten den Missionaren als „primitiv“ und „Teufelswerk“.

Woran lag das?

Das hat mehrere Gründe. Erstens waren die Kinder aufgrund unzureichendem Essen oft unterernährt und daher geschwächt. Viele waren auch gegenüber europäischen Viren nicht sonderlich immun, die sich dann in den engen Schlafsälen rasch ausbreiten konnten. Ein großes Problem war die unter indigenen Kindern epidemisch wütende Tuberkulose. Einige Schülerinnen und Schüler hatten Unfälle oder kamen bei der Flucht aus dem Internat ums Leben, weil sie bei Temperaturen bis minus 40 Grad Celsius versuchten, in ihre weit entfernten Dörfer zu gelangen.

Wie war es möglich, dass es an den katholischen Schulen so brutal zugegangen ist? Welche Haltung gegenüber Indigenen steckte dahinter?

Kinderschuhe stehen zum Protest auf den Stufen des Museums
Protest mit Schuhen und Spielzeug: In Vancouver gedachten Menschen Ende Mai der 215 Kinder, die vor Jahrzehnten in einer katholischen Schule der Provinz ums Leben gekommen sind und anonym begraben wurden.
Menrath trägt ein Basecap und steht zwischen den beiden Männern, Chief Meekis trägt traditionelle Kleidung.
Chief Bart Meekis, Manuel Menrath (Mitte) und Deputy-Chief Robert Kakegamic im Reservat der Sandy Lake First Nation im Norden Ontarios, 2018. Das Reservat ist nur per Kleinflugzeug erreichbar, da keine Strasse hinführt. Auch von hier wurden Kinder in Hunderte Kilometer entfernte Internatsschulen verschleppt.
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