Kinderarmut in Deutschland: Geredet wird viel, doch gehandelt nur wenig
Die Koalition streitet über die Kindergrundsicherung. Der Machtkampf wird auf dem Rücken von armen Kindern ausgetragen, die mit schlechteren Chancen ins Leben starten. Ein Kommentar.
In Sachen Kinderarmut führt Deutschland eine sehr seltsame, unwürdige Diskussion. Sie ist ein Schlag ins Gesicht der Menschen, die jeden Tag unter Armut leiden. Deren Kinder nicht die Dinge machen können, die andere Kinder tun, weil den Familien das Geld dafür fehlt. Die Armutskinder spüren, dass sie in dieser Beziehung anders sind. Der Schulstart nach dem Ende der Sommerferien ist übrigens eine Zeit, in der Kinder das knappe Geld am stärksten bemerken. Ein Teil der Klasse zeigt Bilder vom wundervollen Urlaub, arme Kinder schweigen verschämt oder flüchten sich in Ausreden.
Dieses Alltagserlebnis ist nur ein Beispiel und sicher nicht das Hauptproblem der Kinder. Welche Chancen verpasst werden, wenn Kinder wegen prekärer Bedingungen nicht gefördert werden, sich nicht angemessen entwickeln können, ist ausreichend bekannt. Im deutschen Schulalltag bestimmt die soziale Herkunft noch immer sehr stark den Bildungserfolg. Seit vielen, vielen Jahren belegen die Ergebnisse der Sozialforschung, dass aus armen Kindern häufig auch arme Erwachsene werden. Die Gründe dafür sind so oft wiederholt worden, dass sie hier nicht erneut aufgeführt werden müssen.
Wie man das eigene Gewissen beruhigt
Die Gruppe der reicheren Menschen reagiert darauf gern mit einem Reflex. Sie holen einen Mann oder eine Frau in den Vordergrund, verpassen ihm oder ihr den Titel sozialer Aufsteiger und freuen sich daran, dass es eben doch möglich ist, die Armut hinter sich zu lassen. Seht her, es geht doch. Damit ist nicht nur die Schuldzuweisung für die bestehenden Zustände klar geregelt, sondern auch das eigene Gewissen beruhigt.
Dabei ist längst gesichert, dass arme Kinder keine Chancengleichheit erleben. Wenn Familien mit vielen Menschen in engen Wohnungen leben, die Infrastruktur schlecht ausgebaut ist, Parks, Gärten, Computer und Lernmittel fehlen, Abgase und Lärm zum Alltag gehören, der Mangel an Geld ständig für Stress und Frust sorgt, Kleidung, Sport und Musikschule zu teuer sind, dann wachsen Kinder mit schweren Nachteilen auf, die Eltern oft nicht kompensieren können. Die Kinder müssen das ausbaden, manche ein Leben lang.
Fast zwei Millionen Kinder sind arm
Bundesfinanzminister Christian Lindner bezeichnet die Kinderarmut „als indiskutabel hoch“. Ein beliebter Satz von PolitikerInnen. Trotzdem ist es ihm gelungen, die Kinderarmut in Deutschland klein zu rechnen – und er hat dabei die bekannten Zahlen nicht einmal verfälscht. 2015 erhielten rund 1, 57 Millionen deutsche Kinder mit ihren Eltern eine Grundsicherung. Im März 2023 sank diese Zahl auf 1, 03 Millionen. Demgegenüber stieg die Zahl ausländischer Kinder von 365.000 auf 935.000 an (darunter 275.000 Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine). Lindner liest daraus, dass von Kinderarmut vor allem die Familien betroffen seien, die „seit 2015 nach Deutschland eingewandert seien, als Geflüchtete oder aus anderen Gründen“.
Lindner stellt die von ihm wohl rhetorisch gemeinte Frage, ob man den Geflüchteten Geld aufs Konto überweisen solle oder nicht besser in Sprachkurse und Integrationsmaßnahmen für den Start ins Arbeitsleben investiere. Damit ist für ihn die Erhöhung der Kindergrundsicherung vom Tisch. Der sprichwörtliche Elefant im Raum ist nicht zu übersehen: Lindner will verhindern, dass die fremdenfeindliche AfD mit der Parole „ausländische Kinder verprassen deutsche Steuergelder“ Wahlkampf machen kann.
Sein Vorstoß ist in vielerlei Hinsicht missraten. Sprachkurse und Kindergrundsicherung schließen sich nämlich nicht aus. Im reichen Deutschland sollten alle Kinder unabhängig von der Herkunft frei von Armut leben können. DIW-Präsident Marcel Fratzscher hat bereits vorgerechnet, dass die Kindergrundsicherung eine sinnvolle Investition und ein effektives Instrument ist, weil Kinder ohne Chancen und Ausbildung dem Staat als Erwachsene noch sehr viel teurer zu stehen kommen.
Diese Selbstverständlichkeiten zeigen, dass Lindner falsch liegt.
Doch selbst wenn man Lindner folgen mag: Sollen die eine Millionen Kinder mit deutschem Pass, die übrigens die Mehrheit bilden, nun keine erhöhte Grundsicherung bekommen, weil es besser erscheint, das Geld in Sprachkurse zu investieren?
Hilfen für arme Kinder verringern Arbeitskräftemangel
Viele Firmen in Deutschland klagen gerade darüber, dass sie Ausbildungsplätze nicht besetzen können. Unternehmen finden kein Personal. Wenn man es Kindern erleichtert, den Armutskreislauf zu verlassen, könnten diese Lücken leicht gefüllt werden. Denn derzeit erlaubt sich Deutschland den Luxus, dass jedes Jahr knapp 50.000 junge Menschen die Schule ohne Abschluss verlassen. Das entspricht einem Anteil von etwas mehr als sechs Prozent an allen gleichaltrigen Jugendlichen. Die Bertelsmann-Stiftung hat einen Zehn-Jahres-Vergleich aufgestellt, demnach stagniert bundesweit die Quote der Jugendlichen ohne Schulabschluss seit 2011 auf diesem Niveau, nur wenige Bundesländer können den Trend brechen. Jungen (60 Prozent) sind häufiger betroffen als Mädchen, drei Viertel haben keine deutsche Staatsangehörigkeit.
Und auch vielen Kindern, deren Eltern es aus der Grundsicherung hinaus geschafft haben, geht es nicht gut. Die Rheinische Post berichtet aus einer Kleinen Anfrage der Linken-Fraktion. Demnach steigt die Zahl der Kinder, die einen staatlichen Kinderzuschlag erhalten, damit sie nicht wieder von der Grundsicherung abhängig werden. Seit Jahresbeginn kletterten die Antragszahlen deutlich von 765.000 auf 975.000 im Juni. Mehr als ein Fünftel der Minderjährigen (22, 7 Prozent) lebte im Juni mit einem alleinerziehenden Elternteil.
Die Misere der Kinder in Familien mit geringen Einkommen ist seit Jahrzehnten bekannt. Das ist ein Skandal. Jedes Jahr wiederholen sich die gleichen Nachrichten und Absichtserklärungen. Doch klare Erfolge fehlen. Die Bundesregierung will ihren Streit über die Kindergrundsicherung am Dienstag bei einer Kabinettsklausur beilegen. Bleibt zu hoffen, dass sie endlich eine Lösung findet, die den Kindern hilft und ausreichend Geld zur Verfügung stellt. Von Politikerphrasen können Kinder nicht leben.