Stellen wir uns einmal vor, im Talkessel der Stuttgarter Innenstadt steigen die Temperaturen wieder einmal ins Unerträgliche. Das geschieht inzwischen so häufig, dass die Schulen kein Hitzefrei mehr geben. Begehren die Schüler gegen die Folgen des Klimawandels auf? In diesem Szenario beschreibt eine Lehrerin, was sie von ihrer Klasse lernt. Ein Zukunftsszenario der ZukunftsReporter.
Das Klassenzimmer der 7b ist schon seit Tagen abgedunkelt, trotzdem ist die Temperatur auf 31 Grad gestiegen. Die Straßen und Gebäude Stuttgarts kühlen nachts nicht genügend ab, so dass sich die Hitzewelle von Tag zu Tag aufschaukelt. An der Decke des Klassenzimmers summen leise zwei Ventilatoren, ein Luftentfeuchter an der hinteren Wand brummt hingegen vernehmbar. Hitzefrei gibt es in solchen Fällen schon seit einigen Jahren nicht mehr, denn sonst würde der Unterricht zu häufig ausfallen. Als Entschädigung wurden die Sommerferien auf zehn Wochen verlängert.
Emilia Millenberg hat einen Text verteilt, den ihre Schüler in verteilten Rollen lesen sollen. Das Thema im Fach Sozialkunde ist heute der legendäre Klimagipfel von Suzhou, auf dem einst die Grundlagen der Klimadiplomatie neu justiert wurden. Auf dem Konferenzgelände zwischen den Kanälen und Gärten der hübschen chinesischen Stadt westlich von Schanghai beschloss die Staatengemeinschaft damals die Politik der tastenden Schritte: Jede Maßnahme wird erst im kleinen Rahmen ausprobiert und dann noch einmal in größerem Stil, bevor sie als Beitrag zum Klimaschutz anerkannt und gefördert wird.
Der europäische Unterhändler erläuterte in Suzhou das Prinzip mit einer Analogie: „Stellen Sie sich vor, Sie hätten sich in einem dunklen Wald verlaufen. Wie kommen Sie wieder heraus?“, fragte er. „Sie gehen in die Richtung, in der der Wald lichter zu werden scheint. Doch vielleicht war der erste Eindruck falsch und dieser Weg führt Sie nur tiefer ins Dickicht. Also ändern Sie Ihre Strategie und probieren es erneut. Von den vielen Wegen, die Sie ausprobieren, wird Sie einer aus dem dunklen Wald führen. Und falls nicht, können Sie auf Ihre Partner hoffen, die in einer ähnlichen Situation stecken. Auch wenn wir sie im Wald nicht sehen, können wir uns doch mit ihnen verständigen. Wir sind nicht allein: Wir alle suchen nach einem Weg aus der Krise.“
Kein Reden mehr vom radikalen Umsteuern
Der Delegierte Ecuadors stand verärgert auf und unterbrach den Europäer. „Jeder sieht den richtigen Weg, er ist seit vielen Jahren ausgeschildert“, empörte er sich. Nicht wenige der rund 500 Delegierten im Saal klopften zustimmend auf den Tisch. „Die reichen Staaten haben den Klimawandel verursacht und müssen nun in klimafreundliche Technologien investieren“, erklärte der Ecuadorianer. Er fügte hinzu, dass er es wissen müsse, schließlich lebe er in einem Land, in dem es noch Wälder gebe, in denen man sich verlaufen könne. Doch der chinesische Verhandlungsleiter wies den Ecuadorianer zurecht: „Die Geschichte lehrt uns, dass jede Technologie auch unerwünschte Nebenwirkungen haben kann. Wir dürfen den Klimaschutz nicht gegen andere wichtige Ziele wie zum Beispiel die gesellschaftliche Stabilität ausspielen. Neue Technologien sind nur sinnvoll, wenn sie für alle Menschen einen Nutzen haben.“
Alle hatten damals ein Beispiel vor Augen: Kurz vor dem Klimagipfel hatte es in Arizona einen gewaltsamen Aufstand gegeben, der sich wochenlang nicht eindämmen ließ. Farmer hatten sich nach einer erneuten Missernte mit arbeitslosen Fabrikarbeitern zusammengetan, Straßen blockiert und Stromleitungen heruntergerissen. „Frag, was der Staat für Dich tun kann“, lautete die Parole der Aufständischen. Als sie ein Aufwindkraftwerk in der Wüste sprengten, ein Prestigeprojekt der liberalen Regierung, erschlug der 1000 Meter hohe Turm drei Arbeiter. Am Ende verabschiedeten die Delegierten des Klimagipfels einstimmig die Suzhou-Leitlinie, die allen Staaten von einem radikalen Umsteuern in der Klima- und Wirtschaftspolitik abriet und stattdessen ein ständiges Experimentieren im Kleinen empfahl.
„Warum hat ein Staat wie Deutschland die Treibhausgase nicht einfach verbieten können?“, fragt Millenberg, nachdem die Schüler den Text vorgelesen haben. „Weil keiner Lust dazu hatte“, ruft ein Schüler in die Klasse. „Die wollten es sich gut gehen lassen“, stimmt ein anderer zu. Millenberg nickt und nimmt eine Schülerin dran, die still aufgezeigt hat. „Meine Eltern haben mir gesagt, dass Deutschland keine Partner hatte. Wir hätten alles selbst bezahlen müssen, weil die anderen nicht mitgemacht haben.“ Diese Entschuldigungen bekommt man oft zu hören. Millenberg will gerade antworten, als die Rektorin in den Unterricht platzt und nach den drei Schülerinnen fragt, die heute fehlen. Josephine, Melanie und Shanti seien nicht entschuldigt und über ihre Phones auch nicht zu orten.
„Weiß jemand von Euch etwas darüber?“, fragt Millenberg. Die Klasse schweigt. Sie schweigt auffällig lange, so dass Millenberg, wie sie später berichten wird, Verdacht schöpft. Sie bittet die Rektorin, für eine Vertretung zu sorgen, und macht sich selbst auf die Suche. Vom Kretschmann-Gymnasium sind es nur gut zehn Minuten zum Rathausplatz, also nimmt sie das Rad. Um kurz vor elf Uhr sind die Straßen noch belebt und es gibt noch etwas Schatten. An einer Ampel spürt Millenberg die Wärmestrahlung, die von den Hausfassaden ausgeht. „Die Südseiten müssen wir verschatten“, hatte ihr Vater früher bei Spaziergängen oft gesagt. Doch auf den Sachverständigen des Umweltamts haben die Bauherren selten gehört. Sie wünschten sich helle Wohnungen. Dann biegt Millenberg in die Rotebühlstraße ein und fährt bergab. Der Fahrtwind tut ihr gut.
In der stickigen Fußgängerzone hört sie schon bald den Lärm vom Rathausplatz. Die Luft flimmert über den Pflastersteinen. Der Rathausplatz, unter dem ein Weltkriegsbunker liegt, ist üblicherweise eine leere Fläche ohne Cafés. Jetzt drängen sich dort die Menschen in der Sonne, nur am gegenüberliegenden Ende bietet eine Baumgruppe Schatten. Von dort bahnen sich zwei Rettungswagen mit Blaulicht ihren Weg durch die Menge. Ein Sprecher auf dem Podium vor dem Eingang des Rathauses bittet darum, ihnen Platz zu machen. Zu diesem Zeitpunkt streiten sich hinter dem Podium die Verantwortlichen lautstark, ob sie die Demonstration abbrechen sollen: gerade jetzt, wo die internationale Bewegung endlich stark genug geworden ist, um öffentliche Aufmerksamkeit zu gewinnen. Noch im vergangenen Jahr waren in Stuttgart nur einige hundert Demonstranten zusammengekommen.
In der Menschenmenge erkennt Millenberg zunächst niemanden. Sie läuft in einen Modeladen mit einer großen Fensterfläche zum Rathausplatz und dort in den ersten Stock. Sie scannt den Platz zusätzlich mit ihrem Phone, obwohl sie bekannte Menschen normalerweise schneller entdeckt als die elektronische Hilfe. Vielleicht ist es die Aufregung, aber dieses Mal summt das Phone zuerst und markiert einen Bereich am Rand des Platzes. Dann erkennt sie Shanti, die auf dem Boden liegt. Im Laufen weist sie ihr Phone an, Schule und die Eltern zu verständigen und einen zusätzlichen Notarzt anzufordern. Als sie bei den drei Schülerinnen ankommt, ist Shanti wieder bei Bewusstsein. Ein Demonstrant hat ihr eine Flasche Wasser über den Kopf gegossen.
Das Motto der Demo: „Siesta für alle“
Millenberg hilft, sie unter die Markise eines Geschäfts zu tragen. Auf dem Weg übergibt sich das Mädchen. Melanie ist rot im Gesicht und spricht kaum. Josephine läuft hingegen zurück und kehrt mit drei Schildern zurück, die sie an das Schaufenster lehnt. „Wer kühlt, heizt ein“, steht auf einem Schild mit dem Symbol einer durchgestrichenen Klimaanlage und „Don’t make things worse“ auf einem anderen. Auf dem dritten das Motto der internationalen Bewegung: „Siesta für alle“. „Wie lange seid ihr schon hier?“, will Millenberg wissen. „Seit heute Morgen schon“, antwortet Josephine. „Wir haben vor der Demo Flugblätter verteilt. Wir haben nicht einfach so die Schule geschwänzt, die Demo ist doch wichtig.“
Eine Verkäuferin eilt herbei und gibt den Mädchen Kältepacks, die sie sich dankbar an die Stirn pressen. In den Eingängen der Nachbargeschäfte liegen ebenfalls Demonstranten und werden versorgt. Weitere Rettungswagen sind zu hören und übertönen mit ihren Sirenen den Redner auf dem Podium. Am Nachmittag wird man 16 Kollabierte zählen, zwei mehr als beim Sommerfest der Stadt im vergangenen Jahr. Shanti muss eine halbe Stunde auf ihre Ambulanz warten, kurz darauf wird Melanie von ihrem Vater abgeholt.
Der Vater wendet sich an die Lehrerin und fragt, ob sie die Schülerinnen angestachelt habe. „Sie schienen ja zu wissen, wo Sie die Kinder finden.“ Millenberg erzählt, dass ihre 7b in der vergangenen Woche schon zwei Stunden zum Klimawandel hatte. „Die drei Mädchen waren immer gut vorbereitet, sie hatten sich offenbar in das Thema eingelesen“, sagt sie. „Und sie haben als einzige etwas Konstruktives beigetragen.“ „Die Schule schwänzen nennen Sie konstruktiv?“, fragt der Vater scharf. „Nein, Sie haben vorgeschlagen, früher mit dem Unterricht zu beginnen, um den Stoff vormittags durchzubekommen.“
„Andere Schulzeiten würden meinen Arbeitsalltag auf den Kopf stellen“, beklagt sich der Vater. „Ich arbeite doch auch durch.“ „In einem klimatisierten Büro?“, fragt Millenberg. Der Vater antwortet nicht, sondern bedankt sich knapp und verabschiedet sich. „Irgendjemand muss doch etwas tun“, hört Millenberg noch, wie sich Melanie gegen die ersten Anschuldigungen ihres Vaters verteidigt. In diesem Moment, schreibt Millenberg später in ihrem Feed, sei sie auf ihre Schülerinnen auch ein wenig stolz gewesen.
Inzwischen hat sich die Menschenmenge aufgelöst. Als Millenberg wieder bei ihrem Fahrrad ist, blickt sie hoch auf eine Anzeigentafel. Dort wird als neueste Nachricht der Innenminister Baden-Württembergs zu den Vorfällen des Vormittags zitiert: „Wenn schon Siesta, dann sollte man als Erstes Demonstrationen in der Mittagshitze verbieten.“
Im zweiten Teil dieses Beitrags erläutern wir Ihnen die wissenschaftliche Basis für dieses Szenario. Die Reaktionen unserer Leserinnen und Leser zu diesem Szenario fassen wir hier zusammen.
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