„Wir leben in einer Zeit, in der viele Menschen nicht mehr an eine gestaltbare Zukunft glauben“

Eine Theatergruppe in der Schweiz lässt das Publikum in die Handlung eingreifen und nach Lösungen suchen. So nehmen die Theaterabende des „Proberaum Zukunft“ einen unterschiedlichen Verlauf. In der aktuellen Produktion „Die Jahrhundertflut“ muss das Publikum in Bern abstimmen, wie die Schweiz sich angesichts des Klimawandels verhalten soll. Ein Interview mit Eneas N. Prawdzic, einem der künstlerischen Leiter des Projekts.

vom Recherche-Kollektiv die ZukunftsReporter:
7 Minuten
Publikumsbeteiligung: Beim Theater Die Jahrhundertflut in Bern können die Zuschauer die Handlung beeinflussen.

Wie sind Sie auf die Idee gekommen, ein Theaterstück in einer fiktiven Zukunft und mit Beteiligung des Publikums zu entwickeln?

Eneas N. Prawdzic: Wir von „Proberaum Zukunft“ haben 2017 unser erstes Pre-Enactment inszeniert. Das entstand damals aus Überzeugung. Wir leben in einer Zeit, in der viele Menschen nicht wirklich an eine gestaltbare Zukunft glauben. Wenn liberale demokratische Gesellschaften den Glauben an eine bessere Zukunft verlieren, droht, dass sie sich selbst abschaffen. Also fragten wir uns: Wie können wir als Theaterschaffende dieser Apathie gegenüber der Zukunft etwas entgegensetzen? Unsere Antwort war, einen Raum zu schaffen, in dem sich die Menschen in einem fiktiven Schlüsselereignis der Geschichte als Handelnde begreifen können. Menschen fühlen sich ermächtigt, indem sie das Wort ergreifen können, aber vielleicht auch nur, indem sie spüren, dass sie das Wort ergreifen könnten. Das ist auf sehr viel Anklang gestoßen und deswegen sind wir dran geblieben.

Warum findet das Publikum Gefallen?

Das hat unterschiedliche Gründe. In unseren Formaten verschmelzen Theater, Politik und Publikum und schaffen eine Realität, zu der sich alle im Raum verhalten müssen. Ein Aspekt, der für uns besonders wichtig ist: Die Räume, die wir kreieren, müssen anschlussfähig sein für das Publikum. Es muss die Situation schnell begreifen, damit es sich engagieren kann. Ziel ist es, unsere Inszenierungen so glaubwürdig zu bauen, dass man für einen Moment vergisst, dass es sich bloß um ein Pre-Enactment handelt. Nur so entfaltet das Genre seine volle Wirkung. Andere Theaterschaffende entwickeln vielleicht ein Science Fiction Setting im Jahr 2800, wo man frei träumen und denken kann. Für uns sind immer die realpolitischen Fragen und die Anschlussfähigkeit wichtig.

Wie ist „Die Jahrhundertflut“ entstanden?

Der partizipative Think Tank „Foraus“ hat uns angefragt, ob wir gemeinsam ein Projekt entwickeln wollen. Foraus will den Menschen die Außenpolitik näherbringen und aufzeigen, wie wichtig Außenpolitik auch für die Schweiz ist, die sich manchmal ein bisschen als eine Insel begreift. Gleichzeitig wollten sich die Mitarbeitenden selber auch Tools aneignen, wie man mit künstlerischen Mitteln Erkenntnisse generiert, die weiter gehen als das bloße Imaginieren am Reißbrett. Da war noch nicht klar, dass wir uns mit dem Thema Klima beschäftigen. Zunächst ging es darum, dass wir zusammen mit möglichen Krisen arbeiten, in die die Schweiz in der Zukunft hineinschlittern könnte.

Und wie kam der Klimawandel dazu?

Das Projekt wird begleitet durch einen überparteilichen Beirat aus PolitikerInnen aller großer Parteien, aber auch von ExpertInnen, wie zum Beispiel einem Klimaforscher der ETH Zürich. Der Think Tank ging auf die Suche nach möglichen Themen und so kamen wir zum Klima. Klimapolitik ist ja, immer auch Außen- und Weltpolitik. Mit Hilfe des Beirats entstand ein grobes Szenario realistischer Naturgefahren, die auf die Schweiz zukommen könnten. Wie ging es weiter? Wir haben gefragt: Welches „Ereignis“ müsste stattfinden, damit Menschen in einem Raum zusammenkommen und unter Zeitdruck wegweisende Entscheidungen treffen.

Als Proberaum Zukunft haben wir über die vergangenen Jahre Techniken entwickelt, mit denen wir eine andere, durchaus auch komplexe Realität in einer Kürze zugänglich und erlebbar machen können. Dabei nehmen unsere Projekte eine Scharnierfunktion zwischen Politik, Wissenschaft und Theater ein. Statt mit Schauspielerinnen und Schauspielern, arbeiten wir mehrheitlich mit Politikerinnen und Experten aus unterschiedlichen Feldern. Sehr viele unterschiedliche Gruppen sind in der Kreation eines Pre-Enactment beteiligt. Sie tragen dazu bei, nehmen aber auch etwas in ihre eigenen Felder mit. Im Laufe des Prozesses können sie durch die Linse der Fiktion und der Publikumspartizipation selber einen anderen Blick auf ein Thema erhalten, das sie glauben zu kennen.

Wo setzt das Stück an?

Die Ausgangslage sind massive Extremwetterereignisse im Alpenland Schweiz. Einige Gebiete könnten sehr stark von Erdrutschen betroffen sein, andere Gebiete von Hochwasser. Das haben wir ja gerade in Österreich erlebt. Kurz davor gab es das in Spanien, vor einiger Zeit in Deutschland. Man muss eigentlich gar nicht ins Jahr 2037 reisen, wie wir es im Pre-Enactment tun. Erst Ende April ist es in einem Teil der Schweiz und auch in Norditalien zu einer Extremwetterlage gekommen, wo Täler von der Außenwelt abgeschnitten wurden und teilweise die Telekommunikation zusammengebrochen ist. Leider sind diese Themen, die wir in kondensierter und extremer Form aufeinandertreffen lassen, schon aktuell genug.

Portrait von Eneas N. Prawdzic, Dramaturg am Theater Neumarkt in Zürich.
Eneas N. Prawdzic ist Mitgründer und Co-Regisseur des Kollektivs Proberaum Zukunft. Der 36-Jährige arbeitet seit der Spielzeit 2019/20 als Hausdramaturg am Theater Neumarkt in Zürich. Bevor Prawdzic sich dem Theater zuwendete, engagierte er sich im Feld der Politik und war unter anderem als Mediensprecher und Kampagnenleiter tätig.
Sie haben Feedback? Schreiben Sie uns an info@riffreporter.de!