Inklusion: Künstler und Künstlerinnen mit Handicap erobern die Kunstszene

Besuch im Atelier Goldstein in Frankfurt, wo allein Begabung, Gestaltungswille und Kritikfähigkeit zählt

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Junge Frau mit Kopfhörer vor einer Leinwand von hinten fotografiert.

Das Frankfurter Atelier Goldstein ist zum Synonym für gelungene Inklusion auf dem Gebiet der Bildenden Kunst geworden. 2022 nahm die Gruppe sogar an der documenta fifteen teil. Die Erfahrungen des Atelier Goldstein haben gezeigt, dass sie etwas bewegen können. Ein künstlerisches Umfeld ist Voraussetzung, um einen individuellen Ansatz weiterentwickeln zu können.

Wer das Goldstein Atelier in Frankfurt am Main finden will, muss ein wenig suchen. Es liegt in einem gepflasterten Hinterhof, geschützt vor dem Lärm der Welt, ein feines, kleines Haus aus dem 19. Jahrhundert. Es erweist sich als labyrinthischer Bau mit zur Grünanlage hin ausgebauten, lichtdurchfluteten Atelierräumen. „Das war die Remise der Ölfabrik nebenan, die heute ein Kulturzentrum ist“, erzählt die Filmemacherin und Kunstpädagogin Sophie Edschmid, während wir die schmale Treppe zum Büro hochsteigen. Sie leitet das Atelier Goldstein zusammen mit dem Künstler Sven Fritz.

Das Atelier Goldstein ist ein alternatives Vehikel, um als Künstler – ohne selbstverständlichen Zugang zu den Institutionen der Kunst –, trotzdem zu einer Sichtbarkeit zu kommen und sich zu entwickeln.

Sophia Edschmid

Wir wollen darüber reden, was das Besondere an diesem Ort ist, wofür er steht, wie er sich seit der Gründung vor mehr als zwanzig Jahren verändert hat. Wir bleiben schnell hängen an dem Begriff Behinderung, Künstler:innen mit geistiger Behinderung. Edschmid und Fritz sprechen von einer „zugeschriebenen Behinderung“ oder lassen diesen – im Kunstkontext diskriminierenden – Hinweis einfach weg. „Wir verstehen uns als ein künstlerisches Haus, als einen Ort, an dem Künstler und Künstlerinnen arbeiten“, sagt Sven Fritz. „Wir schauen zuerst auf die Werke, die hier entstehen, und die Autor:innen dieser Werke, nicht vorrangig auf ihre Biografie.“

Ausschlaggebend für die Aufnahme in das Atelier sei die künstlerische Qualität, ergänzt Sophia Edschmid. Alle Mitarbeiter kämen aus der Kunst und nicht aus dem sozialen Kontext. Die Werkgespräche, die kritische Revision der entstandenen Arbeiten, seien von großer Offenheit geprägt. Jeder oder jede hier lernt damit umzugehen."

Dinosaurier aus Folie und Kabelbindern

Die Mitarbeiter des Ateliers, damit sind die sogenannten Assistenzen gemeint. Lutz Pillong etwa, ein großer, schmaler Mann mit melancholischen Augen. Sein Name fällt bei unserem Rundgang mehrfach, er scheint mit seiner zurückhaltenden Art ein beliebter Ratgeber zu sein. Julia Krause-Harder verdankt ihm beispielsweise einen Hinweis, wie sie ihre Skulpturen größer realisieren kann. Es ging also um so etwas wie eine Armierung, eine simple Stützkonstruktion, wie sie auch für Tonskulpturen verwendet wird, keine große Sache. Alle Künstler und Künstlerinnen arbeiten mit solchen Hinweisen von Lehrpersonal oder Kolleg:innen.

Die Bildhauerin ist für ihre als Skelett oder schuppiger Haut gestalteten Dinosaurier-Skulpturen bekannt, die sie aus grellfarbigem Plastik-Trash, billigem Gebrauchsmaterial baut. Einmal hat Julia Krause-Harder für eine Auftragsarbeit für das Frankfurter Max-Planck-Institut für Biophysik sogar Reagenzgläser und andere Labor-Gegenstände verarbeitet. Über 1500 Saurierarten gebe es, und es würden immer mehr entdeckt. „Ich komme da gar nicht nach“, seufzt sie. Die ausgestorbenen, in ihrer Vielfalt verblüffenden Tiere haben es ihr angetan. Sie holt sie in die Jetztzeit und erinnert damit an unsere eigene Sterblichkeit. Besser als Experten hat sie die Merkmale und Eigenschaften der Urtiere parat. Ihre Recherchen sind Grundlage und Inspiration für ihre jeweils individuellen, aus Folie, Kabelbindern, Essstäbchen oder Wolle gestalteten Figuren.

Eine Frau mit halblangem braunem Haar auf einem Stuhl vor einer Skulptur aus Kabelbindern und bunter mit gehäkelten Formen.
Jede der von Julia Krause-Harder geschaffenen Dinosaurier-Skulpturen verfügen über Merkmale, die eine Zuordnung zu einem wissenschaftlich nachgewiesenen Vorbild zulassen.

Das Atelier Goldstein ist Krause-Harders persönliche Meisterklasse, in der sie ihre künstlerische Perspektive weiterentwickeln kann. „Wir unterrichten hier aber keine Techniken, wir bilden niemanden in diesem Sinne aus“, sagt Sophia Edschmid. „Vielmehr kommen die Personen mit ihrer Begabung, mit ihren Themen zu uns und arbeiten hier weiter.“ Kunsthochschulen seien aber dabei ein wichtiges Vehikel zum Erfolg. „Man lernt dort viel über Kunst, man lernt sich selbst kennen, es ergeben sich Kontakte, man hat einen Professor, lernt Ausstellungen zu realisieren. Aber wie will man es ohne einen solchen Rahmen schaffen, in der Kunst eine Rolle zu spielen? Das Atelier Goldstein ist ein alternatives Vehikel, um als Künstler – ohne selbstverständlichen Zugang zu den Institutionen der Kunst –, trotzdem zu einer Sichtbarkeit zu kommen und sich zu entwickeln.“

Atelier Goldstein im Centre Pompidou

Auch die Rolle des Künstler-Agenten haben Edschmid und Fritz übernommen. „Die Agentur-Arbeit macht mittlerweile einen großen Teil unserer Arbeit aus, also das Nachaußentragen der hier entstandenen Werke, die Initiierung von Projekten und Kooperationen“, sagt Sven Fritz. Das Wichtigste sei aber das Atelier, in dem alle voneinander lernen. Alle Künstler:innen profitieren von den Assistenzen, aber auch umgekehrt. Wenn etwa ein aus Karton gebautes, sechsstöckiges Flugzeug von Hans Jörg Georgi im Centre Pompidou gezeigt werde, dann profitierten alle davon, weil sein Name eben mit dem Atelier Goldstein verbunden sei.

Der über 70-Jährige sitzt an einem Arbeitstisch, an dem er grauen Karton zu großen Flugzeugmodellen verarbeitet. Hinter ihm steht ein raumgreifendes Modell, eine Mischung aus Kreuzfahrtschiff und Propellermaschine, für das „der Lutz“ einen stabilen Unterbau konstruiert hat. Es wurde von dem Sammler Bruno Decharme erworben. Georgi sagt nichts zum Hintergrund seiner Arbeit. „Mach Du, Sven.“ Für den Künstler haben all die Flugapparate mehr als den heimlichen Zweck, sich selbst – zumindest im Geiste – in die Lüfte zu erheben. Sie sollen nach der großen Katastrophe die überlebenden Menschen aufnehmen und auf einen sicheren Planeten befördern. Das klingt nach einem düsteren Weltbild, das angesichts der Krisen unserer Zeit aber nicht abwegig erscheint.

Wir schauen noch bei Tina Herchenröther vorbei, einer selbstbewussten jungen Malerin, die aber in diesem Moment nicht gestört werden will. Sie arbeitet mit Musik auf den Ohren, neben ihr steht eine ganze Batterie starkleuchtender Farben. Sie malt figurativ und plakativ das Unsichtbare – nämlich ambivalente Anziehungen oder Abstoßungen zwischen Personen. Mit ihren energetischen Bildern, in denen Farbe, Form, Linie und Fläche eine psychedelische Melange erzeugen, ist die 25-Jährige ungemein erfolgreich.

Während des Mittagessens trudelt verspätet Juewen Zhang ein, ein sich lässig gebender junger Mann, der an der Hochschule für Gestaltung Offenbach studiert. Manche bürokratische Hürde musste genommen werden, um seinen Status als Gastkünstler in den des regulären Studenten zu überführen. Doch überzeugten seine großformatigen, materiell wirkenden Kreidezeichnungen die Aufnahme-Jury sofort. Bekannt ist seine Serie stark vergrößerter, individueller Scheitel. Ein Blick auf den Kopf einer Person zeigt, wie unterschiedlich die Haare fallen. Bei Juewen Zhang wird die Frisur zu einem Vorwand für ein bewegtes, sinnliches Linienspiel.

Atelier Goldstein Künstler als Lehrkräfte in der Schule

Wir ziehen uns mit einem Kaffee ins Büro zurück, um über die Projekte des Ateliers zu sprechen. Die Idee der „Goldstein Akademie“ etwa kann nicht anders als bahnbrechend bezeichnet werden. „Angefangen hat es damit, dass eine Frankfurter Schule auf uns zu kam, weil sie Künstler für ein Kunstprojekt suchten“, erzählt Sophia Edschmid. Konkret hätten sie gefragt, ob Julia Krause-Harder Interesse hätte. Sie sagte zu und fand Gefallen daran. „Aus diesem ersten Projekt entwickelte sich eine für das Atelier Goldstein neue Praxis mit ungeheurer Sprengkraft“, sagt Edschmid.

Ein noch junger Mann sitzt mit dem Rücken zum Betrachter vor einer Arbeitsplatte und hält ein Blatt mit einer Zeichnung in die Kamera.
Julius Bockelt ist fasziniert von physikalischen Phänomenen, seien es Wolkenformationen oder akustische Strukturen. Er setzt die Ergebnisse seiner Untersuchungen in Zeichnungen um.

Julius Bockelt, ein Künstler des Ateliers, arbeite mittlerweile seit fünf Jahren als Lehrer an einer Frankfurter Schule. Wenn er seine Schulklasse betritt, dauere es keine drei Minuten, bis die Kinder ins Arbeiten kommen, weil er sie mit Seifenblasen und physikalischen Phänomenen sofort für seine Sache gewinne. „Sobald er beginnt, über seine Kunst zu sprechen, von seinen Fragen an die Welt berichtet und die Schüler:innen da hinein holt, beginnt auch schon die praktische Arbeit.“ Julia Krause-Harder, Julius Bockelt, Markus Schmitz und Franz von Saalfeld seien authentische Künstlerpersönlichkeiten, die keine vorgegebenen Lehrpläne abhandelten, sondern an einer Gesamtschule in Frankfurt mit gleicher Intensität von ihrer Arbeit sprechen wie etwa im Frankfurter Museum für angewandte Kunst, sagt Sophia Edschmid: „Alles ist gleich relevant. Es ist ernst und das spüren die Schüler. Mit dieser neuen Form von Kunstunterricht werden ohne pädagogischen Zeigefinger Vorurteile abgebaut.“

Für die Künstler:innen sei das Lehren zudem eine berufliche Perspektive und eine spannende Herausforderung, ergänzt Sven Fritz. Julius Bockelt ist an diesem Tag nicht im Atelier. Sein Platz ist aufgeräumt, seine Holzschnitzereien, seine Bücher, seine konzeptuellen Papierarbeiten zeugen von einem Künstler, der seinen künstlerischen Kosmos gefunden hat. Er möchte das Vergängliche festzuhalten, kleinste Verlagerungen zu erkennen, Schwingungen von Tönen auf das Papier zu bringen. Der sich für naturwissenschaftliche Phänomene interessierende Bildhauer, schuf aber auch eine riesige Christusfigur aus Holz für die Marien Kirche von Aulhausen bei Rüdesheim, mit deren Neuausstattung das Goldstein-Atelier um 2013 beauftragt worden war. Sein stehender Christus mit ausgestreckten Armen ist ein nahbarer Gottessohn. Er ist sein eigenes Kreuz.

Auf dem Weg zum Ausgang kommt man durch die Küche. Dort liegt auf dem großen Gemeinschaftstisch eine der Cut-out-Arbeiten von Markus Schmitz, deren wahre Größe man auf Abbildungen leicht unterschätzt. Lutz Pillong packt den fragilen, einen Meter breiten, weißen Karton für den Transport in die Galerie Goldstein ein, wo sie ausgestellt werden soll. Die Rückseite, auf der Markus Schmitz das Motiv gezeichnet hat, ist zusätzlich mit Farbe besprüht. Das Blatt, das Grafik, Zeichnung und Relief in einem darstellt, wird mit einem kleinen Abstand zur Wand installiert, sodass sich ein Spiel von Licht und Dunkel ergibt.

Ein hagerer älterer Mann sitzt am Zeichentisch vor einem großen vollgestellten Regal.
Franz von Saalfeld wuchs in einer Kleinstadt auf. In seinen Erinnerungen vermischen sich reale und surreale Bilder zu einem neuen Kosmos.

Die Eindrücke dieses Besuchs wirken nach. Etwa wie die schmale, etwas steife Gestalt von Franz von Saalfeld in einem angebauten Erker aus Glas sitzt, konzentriert arbeitend an Miniaturen, feinen Detailzeichnungen. Auf diese Weise hält er Jahrzehnte zurückliegende Erinnerungen fest, kostbare Momente hellwachen Tagtraums. In dem wandfüllenden Regal neben seinem Arbeitsplatz lagern bis unter die Decke Raummodelle, Szenarien, die Ansichten seiner Heimatstadt zeigen. Die gezeichneten Wirklichkeiten und Unwirklichkeiten sind eigentlich Vorarbeiten für einen Film. Wie der aber zu realisieren wäre, da hatte noch kein Mitarbeiter des Atelier Goldstein eine zündende Idee. Und vielleicht ist Franz von Saalfelds Lebenswerk auch nur als Fragment, als Annäherung an eine Vision bedeutsam. Klar aber wird, die Arbeit an diesem Ort hört nie auf und bleibt auf allen Ebenen eine Herausforderung.

Erstveröffentlichung im Geschäftsbericht 2023 der Hessischen Kulturstiftung.

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