Die Perspektive der Astronauten und was wir von ihnen lernen können
Bei der Veranstaltung des Journalisten Christoph Otto werden die Teilnehmer zur Besatzung eines Raumschiffs und zu Grenzgängern, die ihre eigenen Ziele, Missionen und Motivationen entdecken.
Ein paar wenige Lichtstrahlen dringen durch Oberlichter in den verdunkelten großen leeren Saal. In der Mitte steht ein weißer Kubus. Die Wände sind mit einem weißen lichtdurchlässigen Stoff bespannt, die an Sonnensegel erinnern. Wie ein Chamäleon kann der Raum seine Farbe verändern. Ins Innere des Kubus werden Fotos von Astronauten projiziert. Acht Teilnehmer sitzen mittendrin, auf weißen Stühlen, in der schwarzen Finsternis. Scheinwerfer werden hochgefahren und hüllen den weißen Raum jetzt in ein magisches Blau. Über vier Audioboxen hört man die Stimme einer Frau: „Bereit zum Start: fünf, vier, drei, zwei, eins.“
Die imaginäre Reise ins All beginnt mit einer Reise ins Selbst anhand von Tönen. Ganz vorne steht der Weltraumexperte, Workshopleiter und Initiator des Projekts, Christoph Otto. „Ich habe für Sie zehn für das Leben auf unseren Planeten charakteristische Töne in einer Audiokomposition zusammengestellt. Wenn Sie die Töne hören, dann achten Sie bitte darauf, welche Bilder sie in Ihnen hervorrufen. Sie werden vielleicht sich selbst sehen. An nichts können wir uns besser erinnern als an Töne und Gerüche.“
Im eigens für den Workshop konzipierten Audiostück hören die Teilnehmer den Gesang eines Wals, einen Bach im Wald, das Zirpen von Grillen, ein Gewitter, einen Herzschlag, Babygeschrei. Vor ihren Augen entstehen Bilder, die sich mit jedem neuen Ton verändern. Manchmal sehen sie sich selbst. Sie sind bewegt und schreiben ihre Eindrücke in Bücher, die Christoph Otto zuvor ausgeteilt hat. Ein weißer Leinenband mit dem Aufdruck „Logbuch – Die Perspektive der Astronauten“. Die weißen Blätter sind noch leer. Im Laufe des Workshops werden sie mit Worten befüllt, so wie Übungen es hin und wieder vorsehen.
Astronauten als Grenzgänger
Die von Christoph Otto geschaffene imaginäre Reise fand im Sommer in Bibliotheken der Stadt Konstanz statt. Der kreative Kopf des Projekts hat über ein Jahr hinweg Filme und Audiobeiträge geschnitten, er hat experimentiert, Übungen und Abenteuer konzipiert und an seiner Vision eines imaginären Raumschiffs gebaut. Vier Jahre zuvor hat er mit seiner Werkserie begonnen, die er „die Perspektive der Astronauten“ nennt. Dafür ist er über 50.000 Kilometer gereist, um mit Raumfahrern aus aller Welt zu sprechen. Dabei geht es ihm weniger um die gewaltige technische Leistung der Raumfahrt. Er hat vor allem nach ihren Empfindungen geforscht. In teils sehr persönlichen Gesprächen haben die Astronauten über ihre Gefühle, Gedanken und Eindrücke geredet. Sie berichten, wie sie den Planeten plötzlich als Heimat erlebten, wenn er im Blickfeld der Raumkapsel schwebte. Und sie berichten über seine Zerbrechlichkeit, die sich ihnen aus der Sicht von außen offenbarte.
„Es war diese Nähe, die mich gepackt hat“, erzählt Christoph Otto. „Plötzlich wollte ich nicht mehr nur die üblichen Wege der Veröffentlichung gehen: Beiträge in Magazinen, mein geplantes Buch. Ich wollte etwas ganz Neues finden, etwas Unmittelbares, das die Erfahrungen der Astronauten auf ganz direkte Weise für Menschen erlebbar macht. Mir war wichtig, dass auch andere spüren können, was die Astronauten zu Grenzgängern macht. Warum sie sagen, dass sie als anderer Mensch zurückkommen, nachdem sie die Erde aus dem Fenster eines Raumschiffs gesehen haben. So war die Idee für dieses neue Workshopformat geboren. Aber der Workshop ist nur Teil einer ganzen Veranstaltungsreihe, mit Ausstellung, Multimediabeitrag. Der Workshop am Ende dient als Höhepunkt.“
„Ziel meines Innovationsprojekts ist es, Wissenschaftsjournalismus eine Bühne zu geben, auf der die Zuschauer aktiv werden und neben der Wissensvermittlung über ihr eigenes Leben und das Leben auf der Erde reflektieren“, sagt Christoph Otto. „Während des Workshops werden die Teilnehmer wie die Astronautenbesatzung eines Raumschiffs zu Grenzgängern, die ihre eigenen Ziele, Missionen und Motivationen aufspüren und artikulieren. Dabei helfen die von mir gesammelten Visionen, Erfahrungen und Erlebnisse der Astronauten.“
Eine große Zielgruppe und neue Unterstützer
Die Teilnehmer jedenfalls sind begeistert. Jennifer erzählt: „So etwas wurde uns im Studium bisher nicht vermittelt. Dank des Workshops habe ich ein Stück weit gelernt, wie ich mich und andere besser führe. Wenn der Workshop ein weiteres Mal angeboten wird, bin ich sofort dabei und nehme auch eine weitere Anreise in Kauf.“
Christoph Otto sieht seine Veranstaltungsreihe in Konstanz als einen Startpunkt. „Mein Workshop ist für jeden geeignet, der mehr über sich erfahren und lernen will, was Astronauten besonders gut können: sich selbst und andere gut zu führen, schneller und einfacher Ziele zu erreichen und besser im Team zu arbeiten. Dabei hilft auch der Perspektivwechsel, also Probleme mit emotionalem Abstand und aus der nötigen professionellen Distanz zu betrachten, um gute Lösungen für sich selbst und den Planeten zu finden.“
Das Angebot soll zukünftig auch zu einem Fortbildungsangebot weiterentwickelt werden, kann doch der im Workshop vermittelte besondere kosmische Blickwinkel vielen Menschen, wie zum Beispiel Managerinnen und Managern, im Alltag helfen, schneller die eigenen Ziele zu erreichen, besser im Team zu agieren und bessere Entscheidungen zu treffen. „Die Masterclass hat mir die nötige erste Anschubfinanzierung ermöglicht“, sagt Christoph Otto. „Ich konnte mein Projekt schneller verwirklichen, als wenn ich den von mir gewählten Weg hätte allein gehen müssen.“
Die Masterclass Wissenschaftsjournalismus 2020–2022 wird gefördert von der Robert-Bosch-Stiftung.