It’s a man’s world: Das Design von Auto, Bus und Bahn passt gut zum Mann und schlecht zur Frau
Dr. Laura Gebhardt Studie „Please mind the Gap“ zeigt, dass das Fahrzeugdesign eher zum Alltag und Körper von Männern passt. Für Frauen kann das schnell gefährlich und unbequem werden. Im Interview erklärt sie, warum eine geschlechtergerechte Mobilität allen hilft.
Der Verkehr wird seit Jahrzehnten von Männern für Männer geplant. Die sozialen Bedürfnisse und Mobilitätsmuster von Frauen haben die Planer dabei übersehen. Die Folgen beschreibt die Wissenschaftlerin Dr. Laura Gebhardt im Interview.
Busy Streets: Warum spielt Gender in der Mobilität eine Rolle?
Laura Gebhardt: Viele Produkte und Dienstleistungen, die wir im Alltag nutzen, sind an die Bedürfnisse und Anforderungen eines durchschnittlichen Mannes angepasst. Das betrifft auch Verkehrsmittel wie Auto, Bus und Bahn, Roller, usw. Welche Folgen das haben kann, sehen wir beispielsweise in Unfallstudien. Sie belegen, dass für Frauen, aber auch für ältere Menschen oder Kinder die Wahrscheinlichkeit, sich bei einem Aufprall schwer zu verletzen viel höher ist als bei Männern. Mit unserer Studie „Please Mind the Gap“ zeigen wir, dass der Gender–Gap auch in der Gestaltung der Verkehrsmittel existiert und Folgen hat.
Eine aktuelle Studie der Unfallforscher der Versicherer (UDV) bestätigt das höhere Verletzungsrisiko von Frauen bei Unfällen. Warum ist das so, obwohl Automobilhersteller ihre Fahrzeuge ständig sicherer machen?
Die EU-Zulassungsverfahren verlangen Crashtests mit männlichen Dummys, die einem Durchschnittsmann von 1,75 Meter und 78 Kilogramm entsprechen. Fahrzeuge werden auf diese Maße optimiert, etwa bei der Position von Pedalen, Lenkrad, Kopfstützen und Airbags.
Eine durchschnittliche Frau ist mit 1,64 Meter deutlich kleiner. Sie muss den Fahrersitz nach vorn schieben, um die Pedale zu erreichen. Der geringere Abstand zum Lenkrad und Armaturenbrett kann dazu führen, dass der Airbag bei einem Unfall nicht optimal auslöst.
Die UDV-Analyse zeigt, dass Frauen bei einem Aufprall wegen des geringen Abstands zum Armaturenbrett schwere Verletzungen an Füßen, Knien, Oberschenkeln und Becken erleiden. Diese Unfallursache ist seit Jahren bekannt. Gibt es wirklich keine Lösungen?
Technisch lässt sich das Problem lösen. Pedale und Lenkrad könnten über Konfigurationen und Einstellungen so konstruiert werden, dass Personen zwischen 1,60 und 1,90 Meter das Fahrzeug sicher und komfortabel nutzen können.
Über die Hälfte der Bevölkerung entspricht nicht dem „Durchschnittsmann“. Warum werden keine weiblichen Crashtest-Dummys verwendet?
Weibliche Dummys gibt es erst seit Kurzem. 2022 stellte die schwedische Professorin Astrid Linder mit „Eva“ den ersten weiblichen Dummy vor. „Eva“ bildet den weiblichen Körper präzise ab – sowohl das Gewebe und die Muskulatur als auch das Knochengerüst. Ob sie in Europa für Sicherheitstests genutzt werden wird, ist jedoch ungewiss. Einige Autohersteller wie Volvo setzen weibliche Crashtest-Dummys nach eigenen Angaben bereits freiwillig ein. Aktuell prüfen die Vereinten Nationen, ob sie weibliche Dummys standardmäßig ins Testprogramm aufnehmen. Das wäre wichtig, denn Autoherstellern fehlen zurzeit Anreize, weibliche Dummys zu nutzen. Die menschlichen Attrappen sind teuer. Sie kosten zwischen 150.000 und 1,5 Millionen Euro und sind Jahrzehnte im Einsatz. Ohne neue Verordnungen bleiben Tests mit weiblichen Dummys wohl weiterhin die Ausnahme.
Sind Computersimulationen eine Lösung?
Autohersteller nutzen Simulationen in der Entwicklungsphase, um etwa die Unfallfolgen für ältere Menschen, Frauen oder auch Kinder zu berechnen. Doch sie liefern nicht genau die gleichen Daten wie Crashtests mit Dummys. Deshalb sollten die Erkenntnisse aus der Simulation stets in die analogen Crashtests mit weiblichen Dummys oder auch Dummys von Kindern etc. einfließen.
Warum reagieren die Entscheider in der Automobilbranche nicht, obwohl die Unfallfolgen stark von Größe und Gewicht der einzelnen Verkehrsteilnehmerïnnen abhängen?
Der Verkehrssektor ist traditionell sehr männlich geprägt. Europaweit liegt der Frauenanteil in der Branche gerade mal bei 22 Prozent. In Führungspositionen sind wir im einstelligen Bereich. In den Automobilkonzernen sind die Personen, die die Entscheidungen treffen, unseren Erkenntnissen zufolge sogar zu 95 Prozent männlich. Die weibliche Perspektive ist unterrepräsentiert. Wir schlagen in unserer Studie vor, dieses Decision Making Gap zu schließen und deutlich mehr Frauen an den Entscheidungsprozessen zu beteiligen. Unsere Hoffnung ist: Wenn Frauen für Frauen entscheiden, rücken Themen wie die Verletzungsproblematik stärker in den Fokus und es wird gezielt nach Lösungen gesucht.
Wie könnte eine Lösung aussehen?
Wie bereits erwähnt, könnte die Sicherheit für Frauen durch die technischen Lösungen am Fahrzeug verbessert werden. Man könnte das System auch so auslegen, dass es für beide Geschlechter gleichermaßen gut funktioniert. Gegenwärtig funktioniert der Airbag überspitzt gesagt sehr gut für die meisten Männer und schlecht für viele Frauen. Der Mittelweg wäre gerechter.
Europäische Studien zeigen, dass Frauen deutlich häufiger mit Bussen und Bahnen unterwegs sind als Männer. Passen die Entwickler und Designer diese Verkehrsmittel gezielt an die Bedürfnisse dieser Nutzerïnnen an?
Bisher kaum. In Bussen und Bahnen fehlt Frauen häufig der Platz für Kinderwagen und Rollstühle sowie für Einkaufstaschen, Schulranzen und weiteres Gepäck. Frauen haben oft mehr Gepäck bei sich, weil sie weiterhin den Großteil an Care-Arbeit übernehmen. Wenn es Stauraum gibt, wie beispielsweise in Zügen über Kopf, ist er eher zu hoch angebracht, weil die Fahrzeugdesigner sich ebenfalls an der Größe des Durchschnittsmannes orientieren. Alternative Gepäckkonzepte existieren zwar, aber haben sich meist nicht durchgesetzt, weil sie nicht für notwendig erachtet werden. Ein Vollzeit arbeitender Mann, der morgens zur Arbeit pendelt und abends zurück, benötigt selten viel Stauraum. Die aktuelle Gestaltung der öffentlichen Verkehrsmittel passt also ganz gut zu seinen Bedürfnissen.
Ist diese Rollenverteilung nicht längst überholt? Viele Männer kümmern sich doch ebenfalls um die Kinder und bringen sie zur Kita oder Schule.
Das höre ich oft. Doch Frauen bewegen sich aufgrund ihrer sozialen Rollen anders als Männer. Berufstätige Mütter bewältigen im Alltag viele kurze Strecken: Sie bringen häufig morgens auf dem Weg zur Arbeit das Kind zur Kita oder Schule und holen es nach der Arbeit ab, kaufen ein, kümmern sich um ältere Familienmitglieder und tätigen weitere Erledigungen. Diese Aufgaben gehören zur Care-Arbeit, die Frauen weiterhin deutlich häufiger übernehmen als Männer. Laut dem Sozialbericht 2024 leisten Frauen 44,3 Prozent mehr unbezahlte Arbeit als Männer. Damit erbringen sie im Schnitt neun Stunden mehr Care-Arbeit in der Woche als Männer. Das entspricht einem Mehraufwand von einer Stunde und 19 Minuten pro Tag.
Ist das Verletzungsrisiko für Frauen in Bus und Bahn ebenfalls höher?
Haltegriffe sind in U-Bahnen und Bussen oft auf einen durchschnittlich großen Mann ausgerichtet. Männer erreichen die Schlaufe also bequem, können sich gut festhalten und haben einen stabilen Stand. Bei kleineren Personen, älteren Menschen oder Kindern ist das anders. Sie bekommen die Schlaufen nur schwer oder gar nicht zu fassen und stehen dann instabil. Zudem haben sie weniger Kraft in den Armen und Händen. Sie halten sich oft an Sitzlehnen fest, die dafür nicht gedacht sind, was das Verletzungsrisiko bei Brems- oder Beschleunigungsmanövern erhöht.
In Regional- und Fernzügen sitzt man meist. Ist der Komfort dort für Frauen besser?
Auch hier sehen war, dass die Gestaltung an einem durchschnittlichen Mann ausgerichtet ist und die Bedürfnisse von Frauen nicht adäquat erfüllt sind. Das beginnt bereits bei der Temperatur. Männer und Frauen empfinden Temperaturen unterschiedlich. In Zügen, aber auch anderen öffentlichen Verkehrsmitteln oder Warteräumen wird die Temperatur aber ebenfalls eher an das Temperaturempfinden der Männer angepasst. Das führt dazu, dass Frauen im Zug oft kalt ist und das kann auch gesundheitliche Folgen haben.
Sie haben in ihrer Studie außerdem festgestellt, dass saubere Zugtoiletten für Frauen besonders wichtig sind. Warum?
Der Anspruch an Hygiene ist bei Frauen höher als bei Männern, allein aufgrund von Menstruation, Wechseljahren oder auch während der Stillzeit. In Befragungen berichten Frauen immer wieder, dass sie sich bessere Hygienestandards auf der Zugtoilette wünschen, aber auch mehr Ablageflächen für Taschen oder für einen Waschbeutel in den Toiletten. Darüber sollte man diskutieren. Frauen haben offensichtlich konkrete Bedürfnisse, die aktuell nicht erfüllt werden.
Im Jahr 2023 war jede achte Toilette (12,5 Prozent) in der DB Regio und 3,7 Prozent der WCs in Fernverkehrszügen verschmutzt oder gesperrt. Wie reagieren Männer und Frauen darauf?
Laut einer wissenschaftlichen Untersuchung aus den Niederlanden 2011 vermeiden insgesamt 80 Prozent der Fahrgäste, im Zug die Toilette zu benutzen. Das gilt für Männer und für Frauen. Allerdings gaben 41 Prozent der befragten Frauen außerdem an, dass sie vor und während der Fahrt nur eingeschränkt trinken, um die Zugtoilette nicht benutzen zu müssen. Frauen entwickeln demnach eine ungesunde Trinkstrategie, speziell fürs Zugfahren. Als Dienstleister würde mich das hellhörig machen und ich würde versuchen, das Problem zu lösen.
Ist eine mitfahrende Reinigungskraft für Zugtoiletten eine Lösung?
Das müsste man ausprobieren und im Idealfall diesen Test wissenschaftlich begleiten. In unserer Studie möchten wir blinde Flecken aufzeigen und Impulse setzen, um neue Ansätze zu diskutieren. Bei der Zugtoilette ist der erste Schritt anzuerkennen, dass Frauen komplexere Bedürfnisse haben. Die Hälfte der Zugreisenden ist weiblich, vielleicht schwanger oder in der Menopause, sie sollten saubere Toiletten vorfinden. Die niederländische Studie schlägt Urinale für Männer in Zügen vor und größere Familientoiletten. Das lohnt sich zu diskutieren, ebenso wie eine regelmäßige automatische Toilettenreinigung.
Was sind für Sie wichtige Erkenntnisse Ihrer Studie?
Wenn wir die Verkehrswende wollen, sollten wir dafür sorgen, dass die Menschen gern und sicher mit Bus und Bahn unterwegs sind. Frauen sind eine wichtige Zielgruppe, da sie häufig kein eigenes Auto haben und auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen sind. Um den Gender-Gap in der Gestaltung von Bus, Bahn und Auto zu beheben, braucht es einerseits umfassendere, geschlechterspezifische Datenerhebungen und andererseits konkrete Anpassungen. Es ist entscheidend, die Bedürfnisse der verschiedenen Verkehrsteilnehmerïnnen zu verstehen und sie in die Gestaltung einzubeziehen, um ein sicheres und komfortables Verkehrssystem für alle zu schaffen.
Das Gute ist: Wenn wir Mobilität für Frauen verbessern, wird sie automatisch auch für andere Gruppen besser! Geschlechtergerechte Mobilität ist nicht nur ein Schritt in Richtung Gleichberechtigung, sondern auch ein Schritt hin zu einer besseren, inklusiveren Mobilität für alle.