Wir müssen reden – über pflegende Angehörige

Die Debatte über die Pflegereform läuft falsch. Pflegende Angehörige kommen kaum zu Wort. Und die Strukturen entsprechen nicht den Wünschen der Menschen.

vom Recherche-Kollektiv die ZukunftsReporter:
4 Minuten
Die Grafik zeigt die Gesichter von drei Menschen mit Fragen zu einem aktuellen Thema. Sie erhalten Antworten.

Wir müssen redenist eine Kolumne der ZukunftsReporter. Sie erscheint alle 14 Tage als Newsletter und im Riff und liefert Denkanstöße zu den aktuellen Themen unserer Zeit. Denn unsere Zukunft beginnt nicht irgendwann, sondern schon heute. Wenn wir sie gestalten wollen, müssen wir unsere Optionen diskutieren.

Die meisten von uns beschäftigen sich lieber mit der Gegenwart als mit der Zukunft. Vor allem, wenn es um das eigene Leben geht. Hand aufs Herz: Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, wie das Leben im Alteraussehen soll, wenn der Körper nicht mehr so mitmacht wie früher? Viele Menschen blenden das Thema aus, weil sie sich noch fit fühlen oder andere Dinge gerade wichtiger sind. Außerdem: Wie soll man für etwas vorplanen, das man so wenig greifen kann? Jeder altert anders, jede Pflegesituation ist individuell. Über Pflege denkt man meistens erst nach, wenn die Eltern oder Freunde Unterstützung brauchen.

Warum das Problem für uns wichtig ist

Die ZukunftsReporterin Carina Frey hat mit dem Sozialrechtsexperten Thomas Klie gesprochen, der einige Unstimmigkeiten zwischen den Erwartungen der Menschen und der aktuellen Situation entdeckt hat. Nur drei Prozent von ihnen möchten im Alter in ein Heim ziehen, aber wir haben Angebote für 30 Prozent. Auf der anderen Seite wünschen sich 30 Prozent der Menschen eine wohnortnahe Versorgung, etwa in einer Wohngruppe, aber wir haben nur für ein Prozent entsprechende Angebote. „Das passt nicht zusammen“, sagt Klie.

Und er spricht eine brutale Wahrheit offen aus, die gern verschwiegen wird: Angehörige pflegen nicht immer freiwillig, sondern oftmals aus Alternativlosigkeit. Die Pflege verändert ihr Leben grundlegend, oft über Jahre. „Das ist unverantwortlich“, sagt Klie. Betroffen sind fast immer Frauen, die nicht selten ihre Arbeitszeit reduzieren oder den Job ganz aufgeben müssen. Dadurch werden sie finanziell abhängig von anderen und tragen ein hohes Risiko, selbst zu verarmen.

Natürlich gibt es Ausnahmen. Und natürlich hoffen wir alle, dass unser Leben im Alter noch voller Aktivität sein kann oder zumindest die Familie und die Nachbarn uns helfen oder versorgen können, ohne dass es zum Stressfaktor wird. Doch Wünsche sind das eine, die Realität oft das andere. Also höchste Zeit, über unsere Zukunft und die Zukunft der Pflege zu sprechen.

So könnten Lösungen aussehen

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach hat für eine Reform der Pflegeversicherung eine Erhöhung der Beiträge ins Spiel gebracht. Geld ist wichtig, denn die Pflegekassen sind unterfinanziert. Doch wenn nur über Geld diskutiert wird, läuft die Debatte falsch. Der Anteil älterer Menschen in unserer Gesellschaft steigt und wir sind darauf nicht vorbereitet. Für eine echte Reform müssen sich die Strukturen verändern.

Ein möglicher Ansatz: Die Kommunen könnten sich stärker um die Organisation der Pflege vor Ort kümmern. Klingt ungewohnt, aber bei der Kinderbetreuung stehen Städte und Gemeinden auch in der Verantwortung. Diese Idee ermöglicht kreative und angepasste Lösungen, die auf dem Land ganz anders aussehen können als in der Stadt.

Das System der Pflegeversicherung baut darauf auf, dass Familien die Hauptaufgabe der Pflege übernehmen. Tatsächlich sind viele Menschen dazu bereit. Aber sie brauchen Unterstützung. Konkret: mehr Geld, Leistungen, die sich am tatsächlichen Bedarf orientieren, eine kontinuierliche Begleitung durch Pflegeprofis und eine Infrastruktur zur Entlastung.

Warum sprechen wir nicht viel öfters über die Probleme der häuslichen Pflege, obwohl schon heute mehrere Millionen Menschen in Deutschland betroffen sind. Die einfache Antwort: Pflegende Angehörige haben keine Lobby.Die Diskussion dreht sich fast immer um die Situation in Altenheimen. Das spiegelt aber nur einen kleinen Teil der Pflege-Wirklichkeit in Deutschland.

Carina Frey hat in einem Zukunftsszenario beschrieben, wie Angehörige mehr Druck auf die Politik ausüben könnten. In ihrem Text treten sie in einen Warnstreik ein, woraufhin das System kollabiert. Aber das ist Fiktion, die allermeisten Pflegenden würden ihre Angehörigen niemals im Stich lassen. Vielleicht wird die Situation so verzweifelt, dass die Betroffenen mit ihren Angehörigen im Krankenbett auf die Straße ziehen. Oder der Fachkräftemangel zwingt die Politik, eine bezahlte Sorgezeit einzuführen. Allerlei Lesestoff, der die Phantasie anregen soll.

Weitere Hintergründe zum Thema:

Falls Dich die Strukturen in der Pflege nicht so sehr interessieren, lädt dich meine Kollegin zu einem Gedankenexperiment ein. Weil es nicht mehr genügend Pflegepersonal gibt, könnten intelligente Maschinen die Pflege übernehmen. Pflegeroboter „Carlee“ ziehtIn diesem Textbei einer alten Dame ein. Wenn wir diesen Text bei unseren Live-Veranstaltungen diskutieren, reagieren die Teilnehmenden sehr emotional. Gut so: Emotionen gehören zur Pflege dazu, da können wir sicher sein.

Kontakt und Veranstaltungen

Wir lesen, was ihr schreibt – Wer eigene Erfahrungen schildern möchte, kann uns gern eine E-Mail schreiben:

Wir diskutieren – ZukunftsReporter live vor Ort: am 2. Mai 2023, 18 Uhr, Experimenta, ScienceCenter HeilbronnScience Lounge: „Wie kann uns KI helfen nachhaltig zu leben?“

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