Liebe Freund_innen des Verfassungsblogs,
Der Deutsche Bundestag wählt die Amtsträger_innen, die er zu wählen hat, im Regelfall geheim. Ob Kanzlerin, Mitglieder von Bundesverfassungsgericht oder Bundesrechnungshof oder das eigene Präsidium: Personalentscheidungen fällt das Parlament mit dem so genannten „verdeckten Stimmzettel“. In der stillen Kammer der Wahlkabine, allein mit sich und unbedrängt vom Fraktionszwang, setzt die Mandatsträger_in als Vertreter_in des ganzen Deutschen Volkes ihr Kreuz dort, wo ihr Gewissen es ihr hinzusetzen befiehlt, und die Fraktionsspitze mitsamt dem Druck, den sie ausübt, muss draußen bleiben. So bleibt das freie Mandat ein freies Mandat, indem es seinem Träger die Freiheit lässt, seine politischen Außenstände mit der zu wählenden Amtsträger_in auf elegante Weise zu begleichen, ohne dafür karrieremäßig den Kopf hinhalten zu müssen.
Ich frage mich, was daran eigentlich so besonders demokratisch sein soll. Der aktuelle Anlass, aus dem ich das tue, ist die Wahl einer AfD-Kandidatin ins Präsidium des Deutschen Bundestags. Die ist in dieser Woche erneut gescheitert, im ersten Wahlgang jedenfalls. Mariana Harder-Kühnel heißt die wenig bemerkenswerte Abgeordnete, die die AfD dem Plenum jetzt anbietet, nachdem ihr erster Kandidat Albrecht Glaser vor einem Jahr in drei Wahlgängen durchgefallen war. Soweit ich sehe, handelt es sich um eine Juristin aus Hessen von erwartbar konservativer Denkungsart, was das Kinderkriegen und die „natürliche“ Geschlechterordnung anbetrifft, an der aber ansonsten zuvörderst ihre Unauffälligkeit auffällt.
Interessant ist dabei, wie sich synchron die Positionen der AfD und der anderen Fraktionen über das letzte Jahr verändert haben. Anfangs hieß es quer durch Parlament: Wir akzeptieren den Anspruch der AfD auf einen Platz im Präsidium schon, wie er ja auch in § 2 der Geschäftsordnung des Bundestags niedergelegt ist, aber was wir nicht akzeptieren, ist ihr Kandidat. Schickt uns jemand Vernünftigen, dann wählen wir die auch! Das fand die AfD aber überhaupt kein attraktives Angebot und zog es vor, ihre Opferrolle lieber dadurch in die Länge zu ziehen, dass sie erst mal gar keinen Kandidaten mehr benannte.
Seither hat sich die AfD immer weiter radikalisiert, sichtbar in Chemnitz, wo ihr Spitzenpersonal mit Pegida und Neonazis Seit’ an Seit’ marschierte. Das ändert aus Sicht vieler SPD-, Linken- und Grünen-Abgeordneter alles: Jetzt reicht es nicht mehr, dass die AfD ihnen jemand schickt, der persönlich akzeptabel erscheint. Die AfD als solche ist es, die ihre Kandidaten kontaminiert. Akzeptabel ist nur noch, wer sich von den Rechtsextremen ausdrücklich distanziert. Die AfD wiederum, hoch erfreut, erkannte und ergriff ihre Chance und schickte flugs jene Dame aus Hessen ins Rennen, selbstverständlich und explizitermaßen ohne dass die sich von irgendetwas distanziert hätte. Blöd sind die ja nicht in solchen taktischen Dingen.
Öffentlichkeit
In dieser Situation kann man sich als Abgeordnete_r nur falsch entscheiden. Das dürfte ja aus Sicht der AfD von vornherein der ganze Zweck der Übung sein. Ich frage mich, ob man dieser Art von Double Bind nicht anders begegnen könnte: durch Öffentlichkeit.
Wie die Wahl ablief, kann man sich im Parlamentsfernsehen anschauen. Vizepräsident Thomas Oppermann von der SPD ruft den Tagesordnungspunkt auf, daraufhin 20 Minuten Gewimmel, bis alle in den Wahlkabinen ihr Kreuzchen gemacht haben, Wahl wird geschlossen, „das Ergebnis der Wahl wird später bekannt gegeben“, nächster Tagesordnungspunkt. Die Wahl war eine rein mechanische Messung einer als vorhanden vorausgesetzten Ja/Nein-Meinungskonstellation. Ein entpolitisierter Vorgang.
Warum bekommt Frau Harder-Kühnel in diesem Verfahren nicht mal Gelegenheit, ihre Position zu den Rechtsextremen zu erklären? Und warum die Abgeordneten nicht, sie zu grillen? Warum wird die Entscheidung über Ja oder Nein oder Enthaltung nicht zu einem Debattengegenstand gemacht? Warum erfahre ich als Bürger nicht, welcher meiner parlamentarischen Repräsentant_innen für Frau Harder-Kühnel gestimmt hat und welcher dagegen? Und aus welchen Gründen?
Bei näherem Nachdenken leuchtet mir auch die gängige Rechtfertigung der Geheimheit parlamentarischer Wahlvorgänge nicht besonders ein. Als ob Freiheit des Mandats bedeute, dass man sich als Abgeordneter nicht zu rechtfertigen hat für seine Entscheidungen. Als ob Weisungsfreiheit gleichbedeutend sei mit Geht-euch-überhaupt-nichts-an. Als ob das Mandat ein Stück Eigentum sei, dessen Gebrauch Privatsache der einzelnen Abgeordneten ist, die von der Zumutung, sich rechtfertigen zu müssen, beschützt und bewahrt werden muss.
Die Furcht, über politische Personalien coram publico zu diskutieren und zu entscheiden, hat etwas vordemokratisch Verschwiemeltes. Und sie kann uns noch böse auf die Füße fallen. In Ungarn und in Polen kann man studieren, was passiert, wenn die Mehrheit im Parlament in die falschen Hände gerät und welch enorme Spielräume gerade solch technische, schwer zu durchschauende und leicht zu übersehende Dinge wie der Geschäftsordnung des Parlaments bieten, Herrschaft gegen politische Konkurrenz zu immunisieren. (Unser Constitutional-Resilience-Tagung hat dazu eine Fülle von Erkenntnissen erbracht, demnächst mehr.) Dann werden wir uns noch sehnen nach robusten parlamentarischen Konventionen, die tatsächlich jeder Fraktion ihren turnusmäßigen Platz auf der sitzungsleitenden Präsidiumsbank sichert, und nach sauberen Regeln, die für Transparenz sorgen und dafür, dass Personalien und andere wichtige Dinge öffentlich gerechtfertigt werden.
Dank an Anna von Notz für wertvolle Anregungen!
Irland, Island, Islam
Vor dem EGMR in Straßburg ist gerade ein Fall anhängig, der das Zeug hat, das europäische Asylsystem auf den Kopf zu stellen. Es geht um das Thema Botschaftsasyl, das jüngst auch schon den EuGH beschäftigt hatte, und dahinter um die Frage, ob die Verantwortung der EMRK-Mitgliedsstaaten für die Rechte von Schutzbedürftigen tatsächlich an der territorialen Landeesgrenze aufhört. DANA SCHMALZ erhellt, was auf dem Spiel steht.
Der Migrationspakt hat in dieser Woche den Bundestag passiert. Warum er vor allem auch für die Menschenwürde wichtig ist, beleuchtet BENEDIKT BEHLERT.
Im deutschen Bundestag wird zurzeit über den Status von Georgien, Algerien, Marokko und Tunesien als sichere Herkunftsstaaten beraten, um die Abschiebung dorthin durch eingeschränkten Rechtsschutz beschleunigen zu können. Dem könnte aber nach Analyse von CONSTANTIN HRUSCHKA der EuGH einen Strich durch die Rechnung machen.
Eine weitere Anhörung im deutschen Bundestag galt der Umsetzung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts zur Dritten Option im Personenstandsrecht. Der Regierungsentwurf dazu hatte viel Kritik erfahren. HA MI LE und BENEDICT ERTELT berichten, wie die Anhörung verlief.
In Irland hatte Richterin Donelly den polnischen EU-Haftbefehl gegen den mutmaßlichen Drogenhändler Artur Celmer dem EuGH vorgelegt und diesem so Gelegenheit gegeben, die Auswirkungen der wachsenden politischen Abhängigkeit der polnischen Justiz auf den Grundsatz des wechselseitigen Vertrauens zu klären. Jetzt hatte Richterin Donelly zu entscheiden, ob Celmer wirklich nach Polen ausgeliefert werden kann. Wie sie sich aus der Affäre gezogen hat, berichtet CILLIAN BRACKEN.
In unregelmäßigen Abständen blicken wir auf dem Verfassungsblog in Wehmut auf das Verfassungsexperiment in Island 2011 zurück, über das ich damals hier berichtet hatte. Der Versuch, das Volk selbst seine Verfassung verfassen zu lassen, hat wegen des Widerstands des Parlaments immer noch keine Wirkung gehabt, aber der unbeugsame THORVALDUR GYLFASON gibt nicht auf und beharrt darauf, dass die politischen Ungerechtigkeiten, die das Experiment einst motiviert hatten, immer noch fortbestehen.
Dass der Islam zu Deutschland gehört, ist für den immer noch amtierenden Bundesinnenminister Horst Seehofer immerhin doch keine so klar zu verneinende Sache wie noch vor kurzem. Die aktuelle vierte Runde der Islamkonferenz nimmt HANS MICHAEL HEINIG zum Anlass, einen Vorschlag zu machen, wie sich die Selbstorganisation des Islam in Deutschland befördern lassen könnte.
Malaysia hat die UN-Konvention zur Eliminierung aller Formen des Rassismus nicht ratifiziert. PIN LEAN LAU erklärt die Hintergründe, die mit der konstitutionellen Privilegierung der ethnischen Malaien zu tun haben.
Der EuGH hat vor einigen Wochen wegen vertragsverletzender Urteile des Conseil d’État Frankreich verurteilt – das erste Mal, dass justizielle Missachtung des Europarechts als Vertragsverletzung sanktioniert wird. ALBRECHT WENDENBURG und JÖRG MÜLLER-SEILS analysieren die Auswirkungen der Entscheidung auf die Stellung der Kommmission und auf den Dialog der Gerichte in der EU.
Anderswo
FLORIS TAN sieht im Urteil Navalny v. Russland den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte willens, sich der Autokratie effektiv in den Weg zu stellen.
SARAH PROGIN-THEUERKAUF lobt wiederum den EuGH für sein im Urteil Ayubi bewiesenes flüchtlingsrechtliches Rückgrat.
MANUEL MÜLLER untersucht die Chancen der europäischen Rechten, ihren Einfluss über eine große rechte Fraktion im Europaparlament zu erweitern.
JULIEN FOUCHET kämpft für den Post-Brexit-Fortbestand des aktiven und passiven Wahlrechts von Brit_innen bei Europawahlen.
JOSEPH WEILER zweifelt, ob die EU die Briten im Fall einer Revision des Brexit-Referendums überhaupt zurücknehmen würden.
ANNA LORENZETTI analysiert das Urteil des italienischen Verfassungsgerichts zum gemeinsamen Nachnamen in der zivilen Partnerschaft.
CHRIS PIGGOTT-McKELLAR beschreibt die Tücken der Verankerung eines Fracking-Verbots in der Verfassung des australischen Bundesstaats Victoria.
SIMON DRUGDA erklärt, was bei der anstehenden Neubesetzung von neun Richter_innenposten auf das slowakische Verfassungsgericht zukommt.
Das wär’s für diese Woche. Ihnen alles Gute,
Ihr Max Steinbeis