„Restluft“ – Gerhard Richters marsianisches Sozialexperiment begeistert mit feinsinniger Beobachtung
In „Restluft“ von Gerhard Richter gerät eine wissenschaftliche Marsexpedition zum Sozialexperiment - und der Roman zu einem Memento Mori. Rezension und Interview mit dem Autor.
„Restluft“ von Gerhard Richter ist ein Roman, den man Menschen wie Elon Musk gerne in die Hand drücken würde – Musk wirbt seit Jahren für die Reise zum Roten Planeten, „um die Zivilisation zu sichern“. Eigentlich sollte ja bereits alles über den Mars bekannt sein, inklusive der Lebensbedingungen, die auf dem roten Staubwüstenplaneten herrschen. Nach Gerhard Richter sind es aber eher: Todesbedingungen.
Der Mars ist, soviel steht nach der Lektüre fest, ein Planet, der den unbedingten Lebenswillen jedes Lebewesens herausfordert, das ihn besucht. Selbst für die Bakterien, die Richters 8-köpfige Crew auf den Planeten transferiert, wird die Expedition zur „Herausforderung“ – auch so ein Euphemismus technischer Utopisten, den Gerhard Richter mit dem Roman aufs Korn nimmt. Für Expeditionsleiter Dr. Henrik Kronstein jedenfalls ist der Mars das. Wie sehr, erfährt man gleich auf der ersten Seite:
Nachdem der Weltraumfrachter Drag&Drop die Crew auf dem Mars abgesetzt hat, verwandelt sie den Frachter in die Raumstation Malony I. Rückverwandlung ausgeschlossen - die Mission ist hundert Prozent auf Erfolg ausgerichtet.
Die acht-köpfige Crew hat Richter geschickt zusammengestellt: vier Männer, vier Frauen aus unterschiedlichen Ländern, mit unterschiedlichen Skills - divers, auch in ihren Gemütszuständen. Den strengen Psychologietest, den Weltraumbehörden wie die NASA und die ESA an ihre Austronaut:innen anlegen, hätte vermutlich nur Projektleiter Henrik Kronstein bestanden.
Der Stationscomputer namens Rechner überwacht alle technischen Parameter und lernt ständig hinzu. Er weiß, welche Samen mit welchem Substrat in der Fruchtkuppel wie wachsen. Er experimentiert selbst mit den Pflanzen, indem er mehr oder weniger Wasser gibt, den Luftdruck senkt oder erhöht, die Lampen dimmt oder heller strahlen lässt. In ihm wächst ein mathematisches Abbild der Stoffkreisläufe auf der Station. Und er erhält immer mehr Befugnisse.
Was Rechner nicht kennt, sind „die emotionalen Faktoren“ der Crew-Mitglieder. Dafür ist Stationspsychologe Bernard zuständig. Er schreitet ein, wenn es kritisch wird: Wenn nötig legt er die Marspioniere auf die Pritsche – und löscht mit einer Hirnsonde geschickt unerwünschte Erinnerungen und Gefühle. Doch nicht nur das …
Die Geschichte setzt zu einem Zeitpunkt ein, an dem die Crewmitglieder schon einige Zeit in der Raumstation gelebt haben. Die Raumanzüge sind verschlissen, die Frisuren schlicht, das Essen auch. Körperlich haben sie sich an die verringerte Schwerkraft angepasst, ebenso an die dünne Luft.
Ein ungewöhnlich starker Marssturm, den die Crew „Halldor“ tauft, reißt sie jäh aus der eingespielten Routine. Er schleudert einen spitzen Stein gegen die äußere Stationshülle – Druckabfall. Rechner reagiert mit der DBL – der „Derzeit besten Lösung“: Er fordert die Besatzung auf, sich in ihre Kabinen zurückzuziehen und flach zu atmen. Er senkt Innendruck und Temperatur und drosselt die Sauerstoffzufuhr.
Die eingesparte Energie schickt Rechner in die UV-Lampen der Fruchtkuppel – dem Bereich in der Raumstation, in der Pflanzen nicht nur für Nahrung, sondern auch für Sauerstoff sorgen sollten. In den Kabinen liegt die Mannschaft und wartet und …. „in den unterdurchbluteten Gehirnen schwand die Selbstdisziplin und im selben Maße keimten Ängste und Neurosen“.
Das ist das Setting des Romans, in dem Gerhard Richter mit feinster Beobachtungsgabe und grimmigem Humor die Erzählstränge seines marsianischen Sozialexperiments unerbittlich weiterentwickelt. Die Gruppendynamiken entfaltet er in einem geschickt abgesteckten und gestalteten dramatischen Raum – mit unzähligen kleinen, bissigen Spitzen gegen den Zeitgeist. Der Mars wird zu einem Memento Mori für unsere Erde wie auch für uns selbst. Für unseren Planeten A gibt es eben keinen Planeten B.
Gleichzeitig gelingt es Gerhard Richter, der als akribischer „Field Writer“ der Lebendigkeit und Eigenheit von Tieren wie Pflanzen empathisch nachspürt, die Absurdität dieser Marsmission mit einer großen Liebe zu unserer Erde, zu unserer eigenen Lebendigkeit und wie auch Begrenztheit zu verbinden. Major Tom hoch vier.
„Ganz großes Kino“ findet das auch der Podcast „Zwei Männer, zwei Bücher, zwei Buchtipps“. Im Literatur-Podcast Höhrbahn erzählt Gerhard Richter, wie er an seinen Roman herangegangen ist. Hörenswert! Ihm ist ohne jeden Zweifel ein spannendes, hochaktuelles, dramatisches Kammerspiel gelungen. Was in dem Roman bestens funktioniert, könnte auch guten Stoff für die Theaterbühne oder den Film liefern.
Der in der „schöne bücher“-Bibliothek des Ultraviolett-Verlags erschienene Roman ist sorgfältig lektoriert, der Buchsatz ist gelungen, das Papier griffig und das Bändchen nicht zu dünn. Das Buch hätte nur ein Cover verdient, das nicht gleich an ein Sachbuch erinnert – auch wenn Richters Feldrecherchen für den Roman journalistisch überzeugen.
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7 Fragen an Gerhard Richter
Wie lange hast du an dem Buch gearbeitet?
Das hat bestimmt acht Jahre gedauert.
Wie oft hast du an Elon Musk gedacht?
Gegen Ende hab ich öfter an Musks SpaceX gedacht und seinen seichten unmoralischen Antrieb. Ich finde ihn völlig haltlos, ein Mensch ohne inneren Kompass.
Hattest du von Anfang an den Plan, das Buch entlang des Gedankens des Memento Mori zu schreiben?
Ja, das war das Grundskelett. Ich wollte auch mal über das Scheitern schreiben. Es gibt mir zu viele Heldenstorys. Die Geschichte wird überhaupt nur aus den Erzählungen der Überlebenden gespeist, die Toten reden ja nicht mehr und haben kaum Stimme.
Hattest du auch das Sozialexperiment eingeplant und den Ort vorher festgelegt?
Das Sozialexperiment ist eher zufällig auf dem Mars gelandet. Es hätte auch eine Forschungsstation in der Arktis oder auf dem Meeresgrund sein können. Hauptsache, es gibt keine Möglichkeit auszusteigen. Und die Ressourcen sollten endlich sein.
Was hat das Schreiben mit dir selbst gemacht?
Ich habe wirklich sehr viel Zeit auf dem Mars verbracht und mich in diese künstliche Umgebung einrecherchiert und eingefühlt. Ich wollte den grauen Alltag dort schildern. Wie fühlt sich das eingeschränkte Leben mit krass reduzierten Möglichkeiten dort an?
Also nachts war ich auf der Marsstation und morgens wieder auf der Erde. Und je mehr ich zwischen Mars und Erde gependelt bin, desto großartiger und schützenswerter erschien mir die Erde mit ihren Idealbedingungen.
Gab es etwas Ungeplantes?
Ja, in der Endphase des Romans - als Henrik starb - ist auch mein Vater gestorben und ich war noch die letzten beiden Wochen bei ihm. Das war gespenstisch.
Wie bist du in die Ausarbeitung gegangen, wo hat es gehakt?
Haklig war manchmal die Story selbst, die Zusammenhänge, und es gab zu viel Personal. Anfangs waren zehn Leute dort, dann habe ich einige Figuren miteinander verschmolzen in ihrer Funktion und Persönlichkeit. Das war ziemlich mühselig… Aber sonst war es ein Spaß.
Transparenzhinweis
Gerhard Richter hat für die Riffreporter das Format „Field Writing“ entwickelt und zwei Dutzende Feldreporte über seine Beziehung zur Natur verfasst. Er ist derzeit passives Mitglied der Riffreporter e.G.