Der Fluss des Wissens: Hält die Aufklärung dem rechtspopulistischen Ansturm stand?
Beim Science March in Washington demonstrieren Zehntausende gegen den wissenschaftsfeindlichen Kurs von US-Präsident Trump
Vor 300 Millionen Jahren bildeten die Appalachen, aus denen heute der durch Washington fließende Potomac-Fluss kommt, eine zusammenhängende Kette mit dem Antiatlasgebirge in Marokko – das sogenannte Herzynische System.
Der Potomac selbst, der zwischen Pentagon und Weißem Haus liegt und die „National Mall“ abschließt, ist nach Angaben des US Geological Service ein vergleichsweise junger Fluss. Er entstand in den vergangenen zwei bis drei Millionen Jahren in Folge mehrerer Eiszeiten, die dazu beitrugen, das heutige Einzugsgebiet zu formen.
Erdgeschichtlich betrachtet einen Wimpernschlag von nur 267 Jahren ist es wiederum her, dass ein 18-jähriger Mann namens George Washington, der später Präsident der Vereinigten Staaten und Namensgeber ihrer Hauptstadt werden sollte, an den Ufern dieses Flusses als Landvermesser tätig war. Er trug damit auch zur Landnahme von den Ureinwohnern bei, die den Fluss Patowmeck nannten.
Ein Fluss, viele Perspektiven: Einem Geologen, einer Klimatologin, einer Historikerin und einem Kulturanthropologen, die am Samstag auf der National Mall zwischen Kongress und Lincoln Memorial zum „March for Science“ zusammenkamen, konnten sehr unterschiedliche Dinge durch den Kopf gehen, wenn sie am Ende der „Mall“ den Potomac-Fluss sahen.
Das ist das Besondere, das Wunderbare an der Wissenschaft: Sie hat ein gemeinsames Repertoire an Methoden. Zugleich beinhaltet Wissenschaft die unterschiedlichsten Aspekte und Phänomene des Daseins, von der tiefen Erdgeschichte bis zu den Verwinkelungen europäischer Beutezüge. Das Reich der Wissenschaft reicht vom Kleinsten, wie dem Planckschen Wirkungsquantum, bis zur Frage, ob es mehrere Universen gibt, es spannt sich von den Mechanismen der Bakterienevolution bis zu den inneren Universen der menschlichen Psyche.
Das Reich der Wissenschaft ist deshalb auch unendlich größer als das Reich eines Donald Trump, dem es mit wenigen groben Äußerungen zur Klimapolitik, mit einem Budgetentwurf, der Mittel von der Forschung zum Militär verschiebt und mit einem populistischen Politikstil, der sich gegen Experten und Intellektuelle richtet, gelungen ist, ein Ereignis auszulösen, das es so noch nicht gegeben hat.
Bildergalerie vom March for Science in Washington:
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Rund um die Welt gingen am Samstag Wissenschaftler auf die Straße, und Menschen, die sich Sorgen um die Zukunft der Wissenschaft machen, auch an mehreren Orten in Deutschland. Der „March for Science“ sollte in die Öffentlichkeit tragen, wie eng Wissenschaft und Gesellschaft miteinander verbunden sind. Nicht nur Bürger in Laborkitteln nahmen teil, sondern auch Lehrer, Studenten, Unternehmer, Menschen, die in der Kantine eines von Streichungen bedrohten Instituts arbeiten, und viele andere. Der Marsch sollte sichtbar machen, dass Wissenschaft nicht nur nützlich, sondern ein wichtiger Teil der Gesellschaft ist. Und dass sie nicht für selbstverständlich genommen werden sollte, sondern ein ineinandergreifendes System von Menschen, Archiven, Methoden, Ausbildungsstätten, Forschungsmöglichkeiten, gesetzlich garantierten Freiheiten und Geldflüssen ist, bei dem jeder Faktor das Gesamtsystem beeinträchtigen kann.
Krieg gegen die Wissenschaft?
Die prachtvollsten Institute nützen nichts, wenn niemand mehr Wissenschaftler werden will, dann stehen sie leer und verrotten. Ein Reigen von Genies wäre wirkungslos ohne gut ausgebildete Assistenten. Und die ganze moderne Wissenschaft steht zur Disposition, wenn Gesellschaft und Politik ihr Geldmittel und – schlimmer noch – das Vertrauen entziehen.
Der Budgetentwurf des Präsidenten würde bedeuten, dass die National Institutes of Health kaum noch neue Forschungsvorhaben finanzieren könnten und die Erdbeobachtung massiv zurückgeschraubt werden müsste. Es gibt in Washington verschiedene Interpretationen, wo die Motivation des Präsidenten liegt, der doch verspricht, die amerikanische Wirtschaft anzukurbeln, was ohne starke Forschung kaum gelingen kann: Soll die Forschung einfach nur deshalb leiden, weil die geplanten zusätzlichen 54 Milliarden Dollar für das Militär irgendwoher kommen müssen, geht es also um eine Nebenwirkung? Oder handelt es sich um eine systematische Attacke, gar um einen „Krieg gegen die Wissenschaft“, von dem etwa Jonathan Foley, der Präsident der Kalifornischen Akademie der Wissenschaften, spricht?
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Vom „Ende der Aufklärung“ soll Donald Trumps Chefberater Steve Bannon geredet haben – als Ziel. Konservative Thinktanks lieferten schon 2016 Blaupausen für die aktuellen Kürzungsvorschläge, weil sie die Rolle der Regierung nur in der Grundlagenforschung sehen, und weil ihnen politische Programme in der Klimapolitik, bei denen Wissenschaft instruiert, was zu tun ist, zuwider sind.
Natürlich ist das Ende der Aufklärung nicht schon da, wenn ein extremistischer Präsidentenberater davon schwadroniert. Das Trumpteam erlebt gerade eine Begegnung mit der Komplexität der Welt, mit ungekannten Perspektiven anderer. Das könnte sich, wenn es nicht in impulsivem Krieg mündet, in Mäßigung verwandeln. Zudem entscheidet nicht der Präsident über das Budget, sondern der Kongress. Dort unterstützen auch stramme Republikaner Forschungsausgaben, etwa wenn sie wie die Agrarforschung ihren ländlichen Wählern zugute kommt oder wenn eine große Forschungseinrichtung mit vielen Arbeitsplätzen in ihrem Wahlkreis liegt.
Aber es ist nicht sicher, dass die Sache glimpflich für die Forschung ausgeht. In Kanada ist kürzlich an einem Forschungsinstitut der Strom ausgefallen, ein wertvolles Klimaarchiv aus Eisbohrkernen wurde zu Wasser. So einfach geht das. Ein ähnliches Schicksal kann rasch andere Wissensbestände ereilen, wenn Politik sich gegen sie wendet, digitalisiertes Wissen zumal. Die Panik, mit der Klimaforscher in den USA versucht haben, ihre Datenbestände vor der Trump-Administration zu retten, spricht Bände.
Globalität als Gegner
Es hat in den vergangenen Monaten zu viele Überraschungen gegeben, um nicht zumindest hypothetisch auch das Schlimmste für möglich zu halten. Die Wucht, mit der aus der Idee eines „March for Science“ eine globale Aktion wurde, ist auch mit der Angst zu erklären, dass hier nicht eine ganz normale demokratische Welle im Vier-Jahres-Rhythmus rollt, sondern eine Vierhundert-Jahres-Welle, bei der es ums Ganze geht – vor allem auch um die Globalität des Wissenschaftsbetriebs.
Globalität, einer der Wesenskerne der Neuzeit, der Aufklärung und der Wissenschaft, ist durch eine nationalistisch verengte Weltsicht bedroht. In ihrem Alltag kooperieren Forscher ganz selbstverständlich über Ländergrenzen hinweg miteinander. Wer ein Max-Planck-Institut, einen kalifornischen Universitätscampus oder eine Großforschungseinrichtung wie das CERN betritt, lässt das Nationale faktisch hinter sich zurück und befindet sich in einer durch und durch globalisierten Sphäre. Wissen und Erkenntnis haben in vielfacher Hinsicht keine Grenzen. Kernphysikalisch betrachtet wird sogar Trumps künftige Grenzmauer durchlässig sein.
Bis vor kurzem galten Globalität und Verbindung als etwas Gutes. Doch während das Erdklima wärmer wird, kühlen sich die Menschheitsbeziehungen ab. Als seinen größten ideologischen Feind hat Trump den „Globalismus“ benannt, womit eben nicht die ökonomische Globalisierung gemeint ist, die Fabrikarbeiter in Detroit den Job gekostet hat, sondern die Idee globaler Verbundenheit, globaler Gleichberechtigung, global gültiger Prinzipien. Migration, Immigration, seit Jahrhunderten alltägliche Wissenschaftspraxis, gelten grundsätzlich als verdächtig.
Wer sich als Bürger der Welt sehe sei ein „Bürger von Nirgendwo“, sagte die britische Premierministerin Theresa May im vergangenen Jahr. Noch knapper hat den neuen Nationalismus nur Präsident Trump formuliert, mit seinem Slogan „America First“, der suggeriert, die Vereinigten Staaten seien eine unterdrückte Bananenrepublik, deren Bewohner endlich zu ihrem Recht kommen müssten.
Der Erkenntnisprozess der Neuzeit
Wie sich die Trump-May-Doktrin vom Ende des Weltbürgertums praktisch umsetzt, zeigt das Schicksal des „John E. Fogarty International Center“ mit Sitz in Bethesda nördlich von Washington. Seit 50 Jahren werden dort globale Gesundheitsrisiken erforscht, werden Biologen, Seuchenexperten und Mediziner aus ärmeren Ländern geschult und in Forschungsprojekte einbezogen. Derzeit ist auf der Webseite des Instituts erstaunlich viel davon zu lesen, dass der globale Ansatz „American lives“ vor der nächsten Pandemie schützen könnte.
Ob diese Variante von „America First“ dem Institut noch helfen wird, ist fraglich: Im Budgetentwurf des Weißen Hauses steht in dürren Worten, dass Fogarty dichtgemacht wird. Irgendwoher müssen zusätzlich 54 Milliarden Dollar für das Militär ja kommen. Der große Zuspruch, den die Organisatoren des „March for Science“ auch von den großen Wissenschaftsorganisationen rund um die Welt erhalten haben, dürfte zu einem guten Teil auch von Ängsten herrühren, dass andere Regierungen es Trump nachmachen: Wenn schon Amerika als bisherige Wissenschaftsnation Nummer 1 Milliarden einspart, warum nicht auch wir? Geschenke an die Bevölkerung heben die Wählerstimmung effektiver als ein neuer Teilchenbeschleuniger. Mit Ressentiments gegen Experten, die der Bevölkerung vorschreiben wollen, wie sie zu leben hat, lässt sich allzu leicht Stimmung machen. Europa ist dagegen keineswegs gefeit.
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Die „Mall“ in Washington war am Samstag nicht nur aus Aktualitätsgründen der zentrale Schauplatz der Wissenschaftskundgebung. Symbolkraft, ja symbolische Sprengkraft kommen hinzu. Die Zeichen der Zeit springen einem hier förmlich entgegen, im Positiven wie im Negativen. Wo sonst gibt es ein Regierungsviertel, in dem Natur, Naturwissenschaft, Kultur, Kunst und Politik räumlich so eng und so planvoll miteinander verbunden sind? Die Anlage, formal ein Nationalpark, steht für die lange Tradition der USA, sich als Hort von Wissenschaft und Aufklärung zu sehen und zu präsentieren. Kunstmuseen wie das Hirshhorn und der Skulpturengarten, das vor Technologie strotzende Air und Space Museum und historische Museen schaffen eine beinahe arkadische Atmosphäre.
Unmittelbar zu Füßen des Kapitols liegt der 1820 gegründete United States Botanic Garden, der Pflanzen aus aller Welt wissenschaftlich geordnet präsentiert. Wer hier um sechs Uhr morgens die Augen schließt und die Ohren spitzt, wähnt sich mitten in der Natur. Die Smithsonian Institution und ihr mit 145 Millionen Sammlungsstücken gefülltes Naturkundemuseum setzen die Reihe fort.
Zwischen Parlament und Weißem Haus, wo am Samstag Massen aufmarschierten, sind also bereits die Kräfte positioniert, die dafür stehen, dass Befindlichkeiten, Machtgelüste, Geschmäcker und Stimmungen von mächtigen Politikern nicht alles bleiben. Es waren die in Botanischen Gärten und Museen aktiven Naturforscher, die das System rationaler Ordnung begonnen haben, die in mühsamer Kleinarbeit durch Sammeln, Beobachten, Messen und Vergleichen, durch das Formulieren, Verwerfen und Weiterentwickeln von Hypothesen und Theorien den wissenschaftlichen Prozess der Neuzeit ins Rollen gebracht haben.Vom Kapitol aus sind diese wissenschaftlichen Institutionen in greifbarer Nähe, vom Weißen Haus aus liegen sie nur um die Ecke.
Aber ist es wirklich so einfach, dass die Politik heute nur den Nachfahren der Natursystematiker folgen muss, um verlässlich bei den richtigen Entscheidungen anzukommen?
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Am Samstag war rund um die Welt von „Fakten“ die Rede, die ihre Heimat in der Wissenschaft hätten. Es gibt Wissenschaftler wie den bekannten Hirnforscher Christof Koch, Chef des Allen Institutes in Seattle, die den Marsch für den falschen Weg halten, das zu vermitteln. „Wissenschaftliche Urteile sollten nichts damit zu tun haben, wie viele Wähler sie repräsentieren“, sagt er. Das Risiko, dass der Marsch den Eindruck erweckt, Wissenschaftler handelten etwa in der Klimafrage aus politischen Motiven, ist vor allem in den USA real. So wie die Trump-Regierung Medien als „Oppositionspartei“ gelabelt hat, könnte das auch dem Wissenschaftsbetrieb passieren, wenn man sich zu sehr auf die Rhetorik von Krieg einlässt.
Der Besitz der Wirklichkeit
Auf der „Mall“ wird der ideologische Streit um die Faktenhoheit räumlich greifbar: Sind Fakten das, was Wissenschaft präsentiert, das, was ein Kongress oder Parlament beschließt oder das, was einem gewählten Präsidenten mit Atomwaffenarsenal abends beim Fernsehschauen oder beim frühmorgendlichen Tweeten so durch den Kopf schießt? Gibt es unumstößliche, interessenfreie Fakten – oder hat Trump mit seinem prolligen Konstruktivismus, dem zufolge jede noch so faktisch daherkommende Aussage in Wahrheit eine soziale Konstruktion ist, sogar auf skurrile Weise recht?
Die dahinterliegende Debatte über das, was Fakten eigentlich sind, ist komplex. Sich als Menschen zu inszenieren, die ihrerseits im Besitz „der Wirklichkeit“ sind, wäre darum riskant. Sich aufgrund der aktuellen politischen Umstände selbst zu überhöhen, sich als Hüter unumstößlicher Fakten zu positionieren, könnte zum exakten Gegenteil des erwünschten Ergebnisses führen, Wissenschaft als Teil der Gesellschaft darzustellen und Vertrauen in der Bevölkerung zurückzugewinnen.
Dass Kohlendioxid ein Treibhausgas ist, lässt sich wie Milliarden andere Tatsachen und Wirkungsbezüge belegen. Unser modernes Leben gründet auf solchen Tatsachen, und der „March for Science“ hat jedes Recht, darauf hinzuweisen. Aber Wissenschaft als Imperium der Fakten zu sehen, wie es in vielen Statements vor dem Marsch durchklang, das wäre platter Positivismus. So falsch es ist, wenn ein US-Präsident die Messungen von Klimaforschern in Abrede stellt, so falsch ist es auch, wenn so getan wird, als hätten Wissenschaftler eine übergeordnete Wahrheit als erste entdeckt und für sich gepachtet.
Wissenschaft ist ein Prozess, oder, in den Worten des Philosophen Karl Popper, der momentane Stand des Irrtums. Noch größer als das Reich der Wissenschaft und des Wissens ist nur das Reich des Unerforschten und des Nicht-Wissens. Welcher Teil des Wissbaren ist bereits in den Bestand unumstößlicher „Fakten“ überführt? 0,00000000001 Prozent oder doch schon 0,00000001 Prozent? Oder gibt es gar keinen Prozentsatz, weil das Wissbare und damit auch das Nichtwissen prinzipiell unendlich sind? Handlungsentscheidungen fallen auch in der Klimapolitik trotz Unsicherheit, trotz Nichtwissen. Sie haben Versicherungscharakter. Natürlich nutzen bezahlte Lobbyisten der Fossilindustrie jeden Hinweis auf Unsicherheit brutal aus. Regierungen verlangen Gewissheit, bevor sie Milliardenbeträge in den Klimaschutz stecken. Sollte das Forscher dazu bringen, Nichtwissen und Unsicherheit zu tabuisieren? Nein.
Als Mittel gegen Selbstüberhöhung hilft auch ein Blick in die Wissenschaftspolitik. Trump macht gerade mit seinen Kahlschlagvorschlägen sichtbar, was stetige Budgetsteigerungen überdeckt haben: dass hinter der Verfügbarkeit von Forschungsmitteln für die eine, aber nicht für die andere Frage, für das eine aber nicht für das andere Institut, für die eine, aber nicht für die andere Technologie sehr politische, sehr subjektive Abwägungsprozesse liegen, die das künftige Wissen stark formen, die aber keinesfalls objektiv sind.
Eine aufgeklärte Gesellschaft zeichnet sich nicht dadurch aus, dass sie schon alles weiß oder eine Kaste von Faktenbesitzern unterhält, sondern dadurch, dass sie ihre Entscheidungen auf Evidenz und den aktuellen Wissensstand gründet, ohne absolutes Wissen und absolute Sicherheit vorauszusetzen. Wissenschaft ist im besten Sinne Teil eines gesellschaftlichen Erkenntnisprozesses.
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Die „Mall“ ist seit dem 20. Januar 2017 zu so etwas wie dem Ground Zero der „alternativen Fakten“ geworden. Der bizarre Streit um die Größe der Inaugurationsmenge, ja sogar um das Wetter, haben gezeigt, wie gefährlich es ist, die von allem geteilte Wirklichkeit rein instrumentellen Zwecken unterzuordnen. Auch deshalb ist die „Mall“ der richtige Ort für den Marsch.
Eine durchgerechnete Welt
Die historisch gewachsene Anordnung der Institutionen auf der „Mall“ hat in hysterischen Zeiten, in denen Anekdoten systematisches Wissen zu ersetzen drohen und in denen Ignoranz demonstrativ als Machtgeste eingesetzt wird, etwas Beruhigendes: Rationale Wissenschaft ganz in der Nähe der Macht, als zähmende Kraft, die Rationalität ins wilde, von Kurzfristinteressen gesteuerte politische Leben bringt, das entspricht der Sehnsucht vieler, die sich auf der „Mall“ und anderswo auf der Welt versammeln.
Aber die „Mall“ eröffnet auch eine andere, kompliziertere Perspektive: Wissenschaft ist keine Versammlung von Lichtgestalten, sie ist auch eine Kraft, die sich an politische Macht ranschmeißt, die ihre machtvollen Methoden in den Dienst der politischen Macht stellt – um Angriffswaffen zu entwickeln, um Gefühls- und Kulturlandschaften mit dem GPS-System zu ersetzen, um tradiertes Wissenssysteme zu ersetzen, um Verfahren zu entwickeln, die Individuen und Gesellschaften vorausberechenbar, steuerbar machen, um jede noch so komplexe Fähigkeit zu maschinisieren und damit menschliche Arbeit zu entwerten. Auch das gehört zur Wissenschafts-Realität, weshalb sich Schwarz-Weiß-Denken verbietet. Es wäre irreführend, zu behaupten, dass alle Formen und Praktiken von Wissenschaft eine Art Reich des Guten seien, das Licht in das impulsgesteuerte Reich des Bösen bringt.
Die Hoffnung der „Mall“-Gestalter früherer Jahrhunderte, eine geometrisch durchgeplante, durchgerechnete Welt würde automatisch zum Hellen und Guten führen, hat sich eben nicht erfüllt. Die Vermessung der Welt dient heute vor allem auch ihrer Unterwerfung durch militärisch-informationelle Komplexe, die alles andere im Blick haben als Gemein- oder Bürgerwohl. Wenn der „March for Science“ mehr ist als ein Einmal-Ereignis, dann ist zu hoffen, dass die Wissenschaftsbewegung sich selbstkritisch fragt, wie Wissenschaft das Bündnis mit der ganzen Gesellschaft statt bevorzugt mit Mächtigen eingehen wird, wie gesellschaftliches Vertrauen auf Augenhöhe entstehen kann.
Im Washingtoner Naturkundemuseum an der „Mall“ läuft noch bis Mai eine Ausstellung, die aus allen Bereichen der Sammlungen Fundstücke präsentiert, die umwerfend schön sind, absurde Geschichten in sich bergen oder unerwartete Querverbindungen zwischen Wissensbereichen erzeugen. „Objekte des Staunens“ heißt die Ausstellung, und sie vermittelt auf wunderbare Weise, dass Wissenschaft weit mehr ist als die Summe kühler Fakten.
Mit reiner Rationalität allein ist die Gesellschaft auch nicht zu gewinnen. Positive Emotionen, Entdeckergeist, Fehlerfreudigkeit, verrückt wirkendes Spekulieren, Faszination für ergebnisoffene Forschung, eine gewisse Lust am Wissen um das (Noch-)Nicht-Wissen – all das gehört dazu. Besonders elegant ist, wie die Ausstellung den Wert von kultureller und biologischer Vielfalt thematisiert, wie hier Artefakte aus islamischen Kulturen menschliche Kreativität repräsentieren, wie gezeigt wird, dass es wertvolles Wissen auch außerhalb der rigiden Protokolle formaler Wissenschaft gibt. Dass das Museum jeden Tag vor jungen, staunenden Menschen nur so brummt, ist für die Zukunft der Wissenschaft bedeutender als feindselige Dekrete aus dem Weißen Haus.
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Es ist ein bisheriger einmaliger Vorgang, dass am Samstag Wissenschaftler und Wissenschaftsfreunde in aller Welt auf die Straße gingen. Das kann den gesellschaftlichen Diskurs nur bereichern. Trumps Kürzungspläne haben auf paradoxe Weise etwas Gutes, weil sie den Wissenschaftsbetrieb in Bewegung versetzen, ihn dazu bringen, sich auch jenseits von Geldforderungen zu erklären und einzubringen. In Washington gab es am Donnerstag einen Kurs für Wissenschaftler, die sich um öffentliche Ämter bewerben wollen.
In der Vielfalt liegt eine große Kraft. Einer Wissenschaftsdemonstration würde es gut tun, deutlich zu machen, dass nicht die starren Linien der „Mall“ ihre Arbeitsweise am besten symbolisieren, sondern der Fluss dahinter. Es würde die Demonstration reicher machen, wenn am Ende der Mall ein Geologe, eine Klimatologin, eine Historikerin und ein Kulturanthropologe den Potomac über die Mikrofone jeweils aus ihrer Perspektive beschreiben würden. Dann würde klar, dass Wissenschaft nicht ewige Wahrheit bieten kann, sondern mit Hilfe hart erarbeiteter, belastbarer, aber doch stets vorläufiger Tatsachen einer pluralistischen Gesellschaft pluralistisches Wissen anbieten kann. Dass Wissenschaft ein lebendiger, alles verbindender Fluss ist, den man nicht trockenlegen sollte.
Dieser Artikel wurde gefördert durch das Kellen Fellowship des American Council on Germany in Washington. Das Fellowship ermöglicht unabhängige Recherche und deckt Flug, Unterkunft, Verpflegung und Recherchekosten.
Außerdem zum March for Science in Washington: „Wenn Fakten nicht mehr zählen, sind dann als nächstes Gesetze dran?“ Ein Interview mit Jonathan Foley, Direktor der California Academy of Sciences