Sieben lange Jahre

von Maximilian Steinbeis
7 Minuten
Altes Bild von einem Floß mit mehreren Menschen darauf.

Liebe Freund_innen des Verfassungsblogs,

In dieser Woche hat mit der NATO eine weitere internationale Organisation in den Abgrund der Post-Multilateralismus-Ära geschaut. Die Europäische Union starrt schon seit sieben Jahren da hinein. 2011, sieben Jahre her!

2011, das war das Jahr, wo die Finanz- und Eurokrise alle Schlagzeilen beherrschte und darüber fast völlig unterging, was sich gerade im europäischen Asylrecht Dramatisches abspielte. Straßburg, Karlsruhe und Luxemburg urteilten nacheinander, dass aus Gründen der Menschenwürde kein in Griechenland registrierter Flüchtling mehr nach Griechenland abgeschoben werden durfte. (Karlsruhe, genau genommen, urteilte nicht, sondern steckte dem Bundesminister des Inneren als „Anregung“, zum Instrument des Selbsteintrittsrechts – klingt bekannt, oder? – zu greifen und von sich aus nicht mehr abzuschieben, was er tat und woraufhin das Verfahren als erledigt erklärt werden konnte.) Heute ist es umgekehrt: Alle Welt redet über das Asylsystem, und kein Mensch denkt mehr an die Eurozone. Dabei sind die Strukturprobleme der einen genauso wenig behoben wie die des anderen.

Griechenland und Italien war in beiden parallel verlaufenden Krisen die Rolle zugedacht gewesen, uns deutsche Exportweltmeister und Binnenlage-Bewohner den verdienten Lohn unserer Tüchtigkeit ungestört auskosten zu lassen, und was vom Mittelmeer in Lesbos und Lampedusa ankam, empfanden wir genauso wenig als unser Problem wie die galoppierende Jugendarbeitslosigkeit und die brutalen Folgen der Austerity-Politik in Südeuropa.

Aber das ist alles alter Käse, ich kann es selber schon nicht mehr hören. In Italien regieren mittlerweile Rechtsextreme. Sieben verdammte Jahre! Wer damals geboren wurde, geht heute in die zweite Klasse Grundschule. Wer damals Abitur machte, kann heute schon mit der Diss fertig sein. Sieben Jahre, das ist die Zeitspanne, die Jakob für seine Rahel arbeiten musste (dachte er). Sieben Jahre brachte Hans Castorp auf dem Zauberberg zu. Sieben Jahre, das sind mehr als die Hälfte der bisherigen Kanzlerschaft von Angela Merkel! Und da wundern wir uns, dass Donald Trump, Viktor Orbán, Boris Johnson und Markus Söder es so attraktiv finden, mit der Idee des Post-Multilateralismus herumzuspielen?

Kein Blumentopf gleicht dem anderen

Trotz alledem. CLAUS OFFE hat mit MAURIZIO FERRERA gesprochen, über den Euro und seine strukturelle Dysfunktionalität, über die Polanyi’sche Satansmühle, in der wir uns drehen und drehen, seit sieben Jahren, ohne Ausweg, da es für Griechen wie für Deutsche prohibitiv teuer wäre, sich aus ihr zu befreien, und über die verheerend dumme deutsche „Blumentopf-Theorie“. Wem der Mut abhanden gekommen ist in diesen langen sieben Jahren, der möge das Transkript dieses Gesprächs lesen und sich davon zu neuer Tatkraft anregen lassen.

++++++++++A Note from MPIL++++++++++++++

CfP “Cultural Heritage in a Post-colonial World – New Framings of a Global Legal Problem”.

Ab dem 17. Jh. brachten europäische Großmächte Kulturgüter aus den Kolonien weg. Viele gründeten große Sammlungen, um das „gemeinsame Erbe“ zur Schau zu stellen. Letztes Jahr löste der Rücktritt von Bénédicte Savoy aus der Beratungskommission des Humboldt Forums und das Versprechen von Emmanuel Macron, geraubte Kulturgüter zu restituieren, einen breiten gesellschaftlichen Diskurs über die koloniale Provenienz solcher Sammlungen aus. Der Völkerrechtsblog heißt Beiträge willkommen, die der Frage nachgehen, welche Rolle das (Völker)Recht in diesen Debatten spielen könnte.

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Apropos Asylpolitik: Gegen die jüngsten Ansätze aus Deutschland, es den ost- und südeuropäischen Nachbarn in punkto Unilateralismus gleichzutun, haben sich eine ganze Reihe von Autor_innen auf dem Verfassungsblog sehr leidenschaftlich ins Zeug geworfen. DANIEL THYM macht sich Sorgen, dass die Auseinandersetzung um das juristisch Richtige vor lauter politischer Unversöhnlichkeit Schaden nimmt, und fordert rhetorische und argumentative „Abrüstung“ im drohenden Kalten Krieg zwischen Menschenrechts- und Grenzöffnungs-Befürwortern einer- und Staatssouveränitäts- und Grenzsschutz-Proponenten andererseits.

ADEL-NAIM REYHANI rekonstruiert die Begegnung von Staat und Flüchtling als Versteckspiel: Die von Staaten geforderte Gestaltungsmöglichkeit werde „nicht zuletzt dahingehend eingesetzt (…), kreative Wege zu suchen, um sich vor dem Recht zu verstecken und den internationalen Verpflichtungen nur noch formell statt in der Substanz genügen zu müssen. (…) Dieselbe Rechtelosigkeit, die einst für europäische Staaten den Anlass zur Etablierung des modernen Flüchtlingsschutzes geliefert hatte, entsteht heute durch eine Strategie der Externalisierung, in der das Recht zum Gnadenakt verkommt, in neuem Gewand.“

Was Staaten bei der Entscheidung, wie ihr Staatsvolk zusammengesetzt sein soll, für völker- und europarechtliche Bindungen zu beachten haben, steht zurzeit vor dem Europäischen Gerichtshof zur Entscheidung. Ich habe mir die Schlussanträge des Generalanwalts im Fall Tjebbes angesehen, in dem es um den Verlust der Staatsbürgerschaft bei langjährigem Auslandsaufenthalt geht – der Generalanwalt empfiehlt dem Gerichtshof, sich aufs Äußerste zurückzuhalten.

FABIAN MICHL wiederum untersucht den jüngsten Koalitionskompromiss, anderenorts registrierte Flüchtlinge durch verstärkte Schleierfahndung im Grenzbereich aufzuspüren. Ergebnis: Der Konflikt mit europäischem Recht wird dadurch schlimmer und nicht besser.

Als ob die Polizei keine anderen Sorgen hätte, musste sich das OVG Münster kürzlich mit der Frage beschäftigen, ob das Land Nordrhein-Westfalen Bewerbern den Polizeidienst verwehren darf, wenn diese weniger als einen Meter dreiundsechzig Körpergröße messen. Das ist keine Albernheit, sondern eine handfeste Diskriminierung. Das OVG fand zwar Gründe, die diese angeblich rechtfertigen, aber in dem Kommentar von KIRSTEN WIESE ist zu erfahren, was diese Gründe taugen.

Muss man die AfD Verfassungsrichter_innen nominieren lassen?

Die deutsche Frucht dieser sieben Jahre ist die AfD. Die AfD ist da, sie sitzt in den Parlamenten, und wo diese Entscheidungen treffen, erhebt sie Anspruch auf ihren Anteil daran. Dazu gehört nicht zuletzt die Wahl von Richter_innen an den Bundes- und Landesverfassungsgerichten. MICHAEL HEIN hat untersucht, wie die Landtage bisher mit dieser Situation umgehen und beobachtet drei Strategien: Ausgrenzung, bedingte und vollständige Integration. Keine davon funktioniert wirklich gut.

Die Justiz und ihre Unabhängigkeit steht in einer Weise unter Druck in vielen Ländern Europas, die sich vor sieben Jahren wohl auch keiner hätte vorstellen können. Über Bulgarien spricht dabei kaum jemand. Was dort dem Präsidenten des Obersten Gerichtshofs für Unfassbarkeiten zugemutet werden, berichtet RADOSVETA VASSILEVA.

Zwei verfassungspolitische Großthemen unserer Zeit begegnen sich in einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs, das THOMAS HOEREN analysiert: Religionsfreiheit und Datenschutz. Es geht um die Zeugen Jehovas, die von Tür zu Tür gehen und sich allerlei Dinge notieren über die Leute, die ihnen dieselbe öffnen. Ja, auch sie müssen die europäischen Datenschutzregeln einhalten, auch wenn dies das deutsche Staatskirchenrecht herausfordert.

Der Bundesgerichtshof wiederum hatte zu entscheiden, wem die Social-Media-Daten gehören, wenn man stirbt. Die Erben sind es, so der BGH, wenngleich KARL-NIKOLAUS PEIFER über der Art und Weise, wie das oberste deutsche Zivilgericht zu diesem Ergebnis kommt, doch die Augenbrauen hebt.

Zuletzt wie immer der, mit dessen montäglichen Glossen die Verfassungsblog-Woche beginnt: FABIAN STEINHAUER. Auf dem Mittelmeer treiben Boote wie einst das Floß der Medusa, und dem erstarren-machenden Starren des Gorgonenhaupts sucht Europa durch Starren in den spiegelnden Frontex-Schild und überdies in den Abgrund seiner eigenen Abgründigkeit zu entgehen. Steinhauers Empfehlung: „Überlegen Sie sich gut, ob sie sich gegen den Kapitän der Lifeline engagieren und gegen diejenigen, die mit großen Zynismus als Gutmenschen bezeichnet werden. Überlegen Sie sich, wie sie mit den Konflikten zwischen Europa und Afrika umgehen wollen, europäisch oder afrikanisch oder (was ich empfehlen würde) transnational, also auch mit einem Europa, das Afrika ähnlich ist. Man wird später auf Ihre Sätze und Taten zurückgreifen, man wird Spuren davon in den Archiven finden, eventuell werden Sie sogar später in einem Museum gewürdigt. Wenn Sie glauben, Perseus sei besser als Medusa und Perseus habe Medusa erledigt, dann soll mich das nicht unbedingt stören, an irgendwas müssen die Menschen wohl glauben. Mich würde es eher stören, wenn Sie nicht damit rechnen, dass man sich später an Sie und ihr Engagement erinnert.“

Anderswo

SOLON SOLOMON sieht die Entscheidung der britischen Premierministerin Theresa May für einen Soft Brexit als Zeichen, dass die Zeit des Multilateralismus nicht nur nicht abgelaufen, sondern derselbe offensichtlich geradezu unausweichlich bleibt: „It is not a time for lonely cowboys.“

JESS SARGEANT und ALAN RENWICK untersuchen die Vorschläge einer unabhängigen Kommission zur Reform von Referenden im Vereinigten Königreich.

DJORDJE GARDASEVIC berichtet über eine Volksinitiative in Kroatien, die per Verfassungsreferendum das Wahlrecht verändern und die Rechte der Vertreter nationaler Minderheiten im Parlament beschneiden will, was das Verfassungsgericht dazu bringen könnte, die Referendumsfrage als verfassungswidriges Verfassungsrecht zu stoppen.

JORDI NIEVA-FENOLL findet die Entscheidung des OLG Schleswig, den früheren katalanischen Präsidenten Puigdemont unter Auflagen auszuliefern, vorhersehbar.

STEVE PEERS untersucht den jüngsten Vorstoß der EU-Kommission in Sachen Visa-Politik.

ADRIANO MARTUFI analysiert, wie sich die Praxis in vielen Ländern, Kriminalität durch Beschlagnahme von Vermögensgütern zu bekämpfen, zur Europäischen Menschenrechtskonvention verhält.

TARUNABH KHAITAN klärt aus Anlass der aktuellen Verhandlung vor dem indischen Obersten Gerichtshof, ob die Strafbarkeit von Homosexualität im indischen Strafgesetzbuch Bestand haben kann oder nicht, in einem zweiteiligen Blogpost über die verfassungsrechtlichen Hintergründe auf.

QUIRIN WEINZIERL berichtet vom Urteil des US Supreme Court im Fall Carpenter, das – mit 20 Jahren Verspätung – einen gewissen Schutz vor dem staatlichen Zugriff auf private Mobilfunk-Standortdaten etabliert

Stellvertretend für zahllose Blogposts zur Nominierung von Brett Kavanaugh als Trumps Kandidat für den US Supreme Court: MARK GRABER über das von Trump und Kavanaugh vertretene Klischee, dass Verfassungsinterpretation am Wortlaut und mit gesundem Menschenverstand zu geschehen habe. „The more serious problem is that when the two conflict, Kavanaugh always selects the option that promotes Republican policies and politics.“

So viel für diese Woche – und so viel für diesen Sommer. Dies ist das letzte Editorial vor unserer Quasi-Sommerpause, während der wir weiter auf dem Verfassungsblog aktiv sein werden, aber wohl nicht ganz mit der gleichen Schlagzahl wie bisher. Wir haben sehr anstrengende Wochen hinter uns und brauchen ja alle etwas Erholung, nicht wahr? Dass Sie diese finden, in welcher Strandliege oder Hängematte oder Berghütte auch immer, das wünsche ich Ihnen und freue mich auf ein Wiedersehen im September! Bis dahin alles Gute wünscht

Ihr Max Steinbeis

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