Liebe Freund_innen des Verfassungsblogs,
„Alles eine Frage der Perspektive“, sagte Polens neuer Ministerpräsident Mateusz Morawiecki wieder und wieder, als ihn die CNN-Interviewerin letzte Woche zu Polens Flüchtlings-, Europa- und Justizpolitik befragte. Alles eine Frage der Perspektive. Alles kann man so sehen oder auch anders. Undogmatisch, multiperspektivisch, pluralistisch, geradezu die besseren Liberalen: So will die umgebildete PiS-Regierung neuerdings offenbar international wahrgenommen werden, während sie gleichzeitig unbeirrt die Justiz unter Regierungskuratel stellt und unbequeme Meinungen zum Thema Nazi-Kollaboration im besetzten Polen zu einer potenziellen Straftat macht.
Der Move ist bekannt. Diese Strategie, die eigene Angriffsfläche zu minimieren und sich auf eine Weise dem Gegner anzuverwandeln, die diesen verwirrt und orientierungslos macht, ist geradezu kennzeichnend für jenes seit Jahren immer erfolgreichere Phänomen, das wir aus Mangel an besseren Begriffen Populismus nennen. Die offen extreme und verfassungsfeindliche NPD landete in der Bedeutungslosigkeit, die vieldeutige AfD dagegen im Bundestag. Der furchterregende Jean-Marie Le Pen hatte 2002 Linke und Rechte geschlossen gegen sich, die lächelnde Marine dagegen wäre wirklich beinahe Präsidentin geworden. Den Extremismus-Vorwurf abzuschütteln und stattdessen normal zu wirken, das ist das Mittel zum Erfolg bei einer Wählerschaft, die sich selbst zuallererst für ganz normal hält, und zwar normal im Sinn von: die Norm. Und wenn man unterwegs die verhassten Liberalen, die Beschützer der Abnormalen und Minderheiten, durch gezielten Gebrauch ihrer Werte, Methoden und Begriffe schwindlig drehen kann, dann funktioniert das umso schöner.
Wie darauf reagieren? Naheliegend erscheint, zu versuchen, die wahren Motive dieser Leute zu entlarven. Die tun nur so! Das ist nur Maske! Dahinter steckt ihr wahres Gesicht, das sie nicht zeigen, aber wir sagen euch, wie es aussieht, weil wir es irgendwie trotzdem erkennen können! Wer das tut, essenzialisiert das Problem, das wir mit diesen Leuten haben, zu einer Frage ihres Wesens. Was sie zum Problem macht, ist nicht ihr wahres Gesicht hinter irgendeiner Maske, wie und nach welchen Kriterien auch immer das zu identifizieren wäre, sondern ihr Handeln. Auf die Tat kommt es an, nicht auf den Täter. Ich muss nicht wissen, ob Morawiecki eine Maske aufhat oder sein wahres Gesicht zeigt, wenn er mir im Fernsehen oder sonst wo etwas von Perspektivenvielfalt erzählt. Es genügt mir, zu wissen, was seine Regierung gerade tut in punkto Unabhängigkeit der Justiz, in punkto Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit beim Sprechen über möglicherweise unehrenhafte Aspekte in der polnischen Geschichte.
Genauso falsch scheint mir die Annahme, es sei doch toll, wenn die Extremisten sich um Normalität bemühen, nach dem Motto: Hauptsache runter von der Straße. Ob sie Pluralismus, Demokratie und Meinungsvielfalt predigen, ist nicht der Maßstab. Sondern was sie tun, wenn sie einmal an der Macht sind.
An ihren Taten sollt ihr sie erkennen. Und weil in Polen, Ungarn, Russland und anderenorts Erfahrungsmaterial mittlerweile in beträchtlicher Menge bereit liegt, sollten wir davon Gebrauch machen und daran unser Unterscheidungsvermögen schärfen. Und besser hinzuhören lernen, wenn unsere eigenen Politiker reden, auch wenn sie mangels Macht zur Tat vorläufig nur Worte machen. Denn auch von der anderen Seite her scheint mir immer schwerer zu sagen, was genau eigentlich Markus Söders CSU noch von der Gaulands AfD trennt, und was Laurent Wauquiez’ Republikaner von Le Pens FN.
In meinem letzten Editorial habe ich ein „Projekt Waterproof“ vorgeschlagen: die Taten der Regierungen in Polen, Ungarn usw. umfassend zu studieren und mit unserer eigenen Rechts- und Verfassungsordnung abzugleichen, um mögliche Schwach- und Einbruchsstellen zu finden und abzudichten, solange noch eine Mehrheit dafür da ist. Dieses Finden und Abdichten ist aber nur ein Grund, warum ich ein solches Verfassungsvergleichungs-Projekt für geboten halte. Ein weiterer ist die besagte Schärfung unseres Unterscheidungsvermögens, auf dass uns nicht mehr so leicht schwindlig wird, wenn Morawiecki oder sonst jemand uns den Tanz der sieben Perspektiven vortanzt.
Die so genannten Populisten lernen alle voneinander. So wie Orbán von Putin gelernt hat, so lernt Kaczyński von Orbán und Dragnea von Kaczyński und unsere eigenen Populisten von ihnen allen. Lasst uns das gleiche tun.
Einfach mal den Landesvorstand feuern
Die AfD besetzt in der aktuellen Legislaturperiode in drei Ausschüssen den Posten des Vorsitzenden. Den Rechtsausschuss wird künftig ein Herr namens Stephan Brandner leiten, der im Thüringer Landtag viel Übung gesammelt hat in den letzten Jahren, die von ihm gern so genannten „Altparteien“ mit ihren Versuchen, auf die parlamentarischen Praktiken der AfD eine angemessene Antwort zu finden, entsprechend alt aussehen zu lassen. Ob und in welchen Grenzen er diese Tätigkeit in seiner künftigen Funktion fortsetzen kann, ist eine parlamentsrechtliche Frage, auf deren Antwort ich gespannt wäre. Was wiederum das Parteienrecht zum Rauswurf des AfD-Landesvorstands Niedersachsen zu sagen hat, hat sich SOPHIE SCHÖNBERGER genauer angesehen. Ergebnis: Die AfD habe damit „deutlich ihr autoritäres Verständnis von Parteiorganisation (gezeigt), das auch ein innerdemokratisches Defizit verdeutlicht“.
Das bereits erwähnte Gesetz in Polen, nicht nur den verleumderischen Ausdruck „polnische Konzentrationslager“, sondern darüber hinaus jede Verknüpfung von NS-Verbrechen mit dem polnischen Staat oder der polnischen Nation unter Strafe zu stellen, hat international und nicht zuletzt in Israel eine Menge heftigen Protest ausgelöst. ALEKSANDRA GLISZCZYŃSKA-GRABIAS und WOJCIECH KOZLOWSKI schildern den Hintergrund dieses Gesetzes und seine potenziell fatalen Folgen für die Meinungs- und Forschungsfreiheit.
In Rumänien gingen in den letzten Tagen Zehntausende auf die Straße, weil sie mit einigem Recht befürchten, dass ihre unabhängige Justiz den gleichen Gang wie in Polen antreten muss, weil die regierende Partei PSD ungehindert ihren korrupten Geschäften nachzugehen wünscht. BIANCA SELEJAN GUTAN berichtet, wie es dazu kam und was dahintersteckt.
In China werden 1,4 Milliarden Einwohner_innen von einem einzigen Zentrum aus regiert, wie seit mehr als 2000 Jahren. Das funktioniert so schlecht, dass QIANFAN ZHANG sein Jahr als Fellow am Wissenschaftskolleg dazu nutzen will, das deutsche Föderalismusmodell zu studieren, als mögliches Vorbild für dezentrale Entscheidungsstrukturen. Selten hatte ich einen interessanteren Interviewpartner.
In der Slowakei ringen seit Jahren Präsident und Premierminister miteinander um die Besetzung von drei Verfassungsrichterposten. Das Jahr 2018 dürfte mit zahlreichen weiteren zu fällenden Personalentscheidungen ein Schicksalsjahr werden für das slowakische Verfassungsgericht, wie MICHAL OVÁDEK berichtet.
Im Vereinigten Königreich durchläuft gerade das Gesetz zur Abwicklung des Brexit das Parlament. Die umfassenden Regelungsbefugnisse, die das Parlament dabei der Regierung einräumt, sind im Lande Shakespeares nach dem Begründer der entsprechenden Verfassungstradition, dem Tudor-König Heinrich VIII., benannt. ALEXANDER MELZER erklärt, was es damit auf sich hat und wie sich die „Henry VIII clause“ mit dem Grundsatz der Parlamentssouveränität verträgt.
In Deutschland war der verfassungsrechtliche Höhepunkt der Woche eine zweitägige Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht zu der Grundrechtsfrage, wann Psychiatriepatienten zu Schutz ihrer selbst oder von Dritten an ihrem Bett festgebunden werden dürfen. Den Hintergrund beleuchtet EIKE MICHAEL FRENZEL.
Anderswo
AMÉLIE HELDT vergleicht das von Frankreichs Präsident Macron angekündigte Gesetz zu Falschmeldungen im Internet mit dem deutschen Netzwerkdurchsetzungs-Gesetz.
JAVIER GARCIA OLIVA sieht in dem Entschluss des katalanischen Parlaments, den flüchtigen/exilierten Sezessionistenchef Carles Puigdemont einstweilen nicht zum Präsidenten zu wählen, ein vorsichtiges Signal zur Rückkehr zur Verfassungstreue, aber keins für ein baldiges Ende der Unsicherheit.
MARK ELLIOTT und STEPHEN TIERNEY analysieren die schneidende Kritik des Verfassungsausschusses des britischen Oberhauses an der „European Union (Withdrawal) Bill“.
CLAIRE POPPENWELL-SCEVAK ist enttäuscht von der weiterhin zögerlichen Herangehensweise des Straßburger Menschenrechts-Gerichtshofs an das Recht gleichgeschlechtlicher Paare, zu heiraten.
MANUEL MÜLLER teilt nicht den Enthusiasmus vieler EU-Freunde über das Sondierungsergebnis der prospektiven GroKo und macht sieben Vorschläge, wie die Koalitionäre ihr Versprechen eines „neuen Aufbruchs für Europa“ einlösen könnten.
KARAN LAHIRI untersucht die Entscheidung des indischen Supreme Courts, das in Gujarat und Rajastan verhängte Verbot eines Films aufzuheben, der den Zorn von Hindu-Extremisten auf sich gezogen hat, und ist sich nicht sicher, ob es sich bei diesem Urteil um eine kraftvolle Bestätigung der Werte der Verfassung oder doch eher um einen aus der Not des bedrängten Gerichts geborenen Griff nach niedrig hängenden Früchten handelt.
ANNE PETERS hält den Angriff der Türkei auf die von Kurden kontrollierte syrische Region um Afrin für offenkundig völkerrechtswidrig und einen Missbrauch des Rechts auf Selbstverteidigung und sorgt sich über die Folgen des „Schweigens der Lämmer“ in der internationalen Staatengemeinschaft.
Das war’s für diese Woche. In der nächsten sind Schulferien in Berlin, und ich hoffe auch ein wenig zum Ausschnaufen zu kommen, wenngleich der Schnee natürlich wieder nur in Süddeutschland vom Himmel fällt, so wie’s aussieht. Anyway: Ihnen alles Gute!
Ihr Max Steinbeis