Todesuhren

Ein Zukunftsszenario über Künstliche Intelligenzen, die vorhersagen, wann ein Patient stirbt

7 Minuten
Ärztin bespricht eine lebensbedrohliche Diagnose mit einer Patientin.

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Stellen wir uns einmal vor, dass Algorithmen sehr präzise vorhersagen können, wann ein Krankenhauspatient sterben wird. Das könnte bald der Fall sein, denn Google und andere lassen lernfähige Algorithmen medizinische Daten auswerten, um den Todeszeitpunkt einzuschätzen. Eine erste Version hat die US-Arzneimittelbehörde FDA bereits genehmigt. Ein Zukunftsszenario

Dr. Pascal Hirmer öffnete die Nachricht von MediBrain und erschrak. Den Namen Janine G. hatte er nicht auf seiner Liste. Im Gegenteil: Heute hätte er Frau G. über ihre guten Aussichten auf Genesung aufklären wollen. Nun aber prognostizierte MediBrain den Tod der jungen Mutter innerhalb von sechs Monaten. Seine alten Vorbehalte gegen diesen Algorithmus loderten auf.

Gegen MediBrains Einführung in die DonauKliniken vor drei Jahren hatte Pascal Hirmer, zusammen mit zig Kollegen, vehement protestiert. Niemals wollten sie einer künstlichen Intelligenz die Entscheidung überlassen, welche Patienten eine Palliativversorgung bekommen sollen und welche nicht. Sie glaubten den Beteuerungen des CEO der DonauKliniken nicht, dass die KI nur unterstützend tätig sein würde, indem sie Fälle aufmerksam macht, die von Palliativversorgung profitieren könnten. Der Chef hatte erklärt, dass die KI eine Gesamtmortalität berechne, also den Tod wegen beliebiger Ursachen. Da aber nur der behandelnde Arzt die spezifische Krankheit seines Patienten kenne, müsse die Entscheidung letztlich bei ihm bleiben.

Das Gebahren der Herstellerfirma DeepPrognostics ließ an diesen Versicherungen zweifeln. Die Maschine sage den Tod innerhalb der nächsten drei bis zwölf Monate mit 98-prozentiger Sicherheit voraus, hatte die Herstellerfirma DeepPrognostics getönt. Sie stellten die Maschine als jedem Ärzteteam weit überlegen dar. Das hatte Pascal nur noch mehr gegen die anmaßend schlauen Schaltkreise aufgebracht. Sie sollten sich gefälligst aus seinen Kreisen fernhalten! Pascal war ein optimistischer Arzt, der mit Klauen und Zähnen um das Leben jedes Einzelnen seiner Patienten kämpfte. Ein Sieg der Krankheit war für ihn eine persönliche Niederlage. Er hasste es, mit kranken Menschen über ihr Lebensende zu sprechen. Jedenfalls war das damals seine Einstellung.

Die Proteste verebbten. Das Management und die meisten Kollegen wollten MediBrain. Die Maschine zog in den Klinikalltag ein.

Anfangs ignorierte Pascal die Ratschläge des „Todes-Algorithmus“, wie er ihn nannte. Er klickte dessen Nachrichten unbesehen weg. Nach etwa einem Jahr fing es dann an: Kollegen raunten ihm in der Kantine zu, er würde die Chancen seiner Patienten allzu rosig malen. Ob er denn schwierige Gespräche über das Sterben zu Hause oder die letzten Wünsche scheue? Er beobachtete wie die alten Kampfgenossen die arrogante Software immer in ihre Therapieentscheidungen miteinbezogen . Das Fass zum Überlaufen brachte aber der Wunsch mehrerer seiner Patienten, von einem anderen Arzt behandelt zu werden, da sie nicht glaubten, dass Hirmer ihre Chancen realistisch einschätzte.

Er fing an, die Hinweise von MediBrain mit in seine Erwägungen einzubeziehen. Er sprach bei als kritisch markierten Patienten vorsichtig das Thema Lebensende an. Und siehe da: Viele waren offen und dankbar. Sie fühlten sich von ihrem Arzt menschlicher behandelt. Die wenigen, die trotz MediBrains Sterbeprognose genasen, hegten dennoch keinen Groll, sondern viele erkannten den Wert darin, sich mit ihrem möglichen Tod beschäftigt zu haben. Andere waren schlicht froh über die gezielte Symptomlinderung, die die Palliativversorgung mit sich brachte. Sie erlebten ihre Tage als lebenswert. Freilich bekamen etliche Patienten weiterhin bis zum letzten Atemzug belastende, ja quälende Therapien. Viele wollten nach wie vor alles versuchen, um ihr Leben zu retten. Der Algorithmus nahm tatsächlich keinen Einfluss auf die Therapieentscheidungen.

Zumindest nicht auf seine und die der meisten Kollegen. Bei einem seiner Kollegen wurde Pascal den Verdacht nicht los, dass er die KI missbrauchte. Vor MediBrains Einführung hatte er eine Zigarette nach der anderen geraucht und war von Visite zu Visite gehetzt. Doch mit Inbetriebnahme der KI wurde er entspannter und rauchte merklich weniger. Wenn sie im Team über Fragen der Palliativmedizin sprachen, was seit MediBrain öfter vorkam, wusste er wenig beizutragen oder verschwand unter einem Vorwand. Konnte es sein, dass er den Algorithmus allein entscheiden ließ, wer eine Therapie bekam und wer nicht, um Zeit zu gewinnen? Pascal nahm sich vor, genauer hinzusehen.

Für ihn selbst hingegen erkannte Pascal den wahren Nutzen der Maschine. Sie hatte seine Professionalität vorangebracht. Er fühlte sich wieder wie ein ganzer Arzt: Einer, der oft heilte und meistens linderte. Aber eine Sache tat er immer: trösten.

Er würde das auch mit Janine G. tun.

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