Regieren durch die Windschutzscheibe: Wenn Autofahren mit Freiheit verwechselt wird

Die neue Berliner Verkehrssenatorin verhängt einen Radwegstopp und der Bundesverkehrsminister hält Tempo-30-Zonen für einen Eingriff in die Freiheit. Das ist lebensfern und läuft den Interessen von Millionen Menschen zuwider, die in Großstädten kein Auto nutzen. Ein Kommentar

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Ein weißes Fahrrad erinnert an den Unfalltod einer 44-jährigen am 3.11.2022, dahinter vorbeifahrende Radfahrer, auch Kleinkinder.

Eine kleine, aber lautstarke Minderheit von Grünen und Radfahrern versucht, der großen Mehrheit der Menschen, die täglich mit dem Auto unterwegs sind, den Platz auf den Straßen wegzunehmen. Dahinter steckt ein ideologisch motivierter Plan, Autofahrer als Personengruppe zu diskriminieren. So in etwa lässt sich umschreiben, was hinter dem Slogan steckt, mit dem die CDU in Berlin in den letzten Wahlkampf gezogen ist: „Berlin ist für alle da. Auch für Autofahrer.“

Kaum im Amt, macht die neue Regierungspartei Ernst: Im Namen von Verkehrssenatorin Manja Schreiner forderte die Senatsverwaltung für Mobilität, Verkehr, Klimaschutz und Umwelt vor wenigen Tagen die Bezirke auf, die Bauarbeiten an neuen Radwegprojekten vorerst einzustellen. Auch bei neuen Tempo-30-Zonen will die Senatorin ein Moratorium verhängen.

Verzerrter Blick auf den städtischen Alltag

Schreiner bekommt bei ihrem Kurs pro Auto aktuell auch Rückendeckung aus der Bundespolitik. In der Diskussion um ein Gesetz, das Städten mehr Spielraum bei der Gestaltung von Verkehrsflächen geben soll, sagte Bundesverkehrsminister Volker Wissing, Kommunen müssten trotz geplanter gesetzlicher Erleichterungen auch weiter jeweils begründen, wenn sie Tempo-30-Zonen ausweisen wollen, denn Kernaufgabe des Staates sei es, „Freiheitseingriffe“ zu regulieren. „Freiheit“, die darin besteht, mit einem im Vergleich zu Tempo 30 dreifach längeren Bremsweg durch Wohngebiete zu fahren?

Die beiden Aussagen zeigen vor allem Dingen eines: Die Politiker, die derzeit in maßgeblichen Positionen über die Verkehrspolitik bestimmen, regieren durch die Windschutzscheibe. Ihr Blick auf das Leben in den Städten ist durch das Autoglas vor ihren Augen geprägt und wie in einem Spiegelkabinett grotesk verzerrt.

Ein Radweg mündet in eine Hauptstrasse, Radfahrer trifft auf LKW.
Oft münden Radwege abrupt in Hauptstraßen.

Glaubt man den Aussagen von CDU und FDP, wird der Großteil der Wege und Kilometer in Berlin mit dem Auto zurückgelegt und Menschen, die zu Fuß gehen, Rad fahren oder die Bahn nutzen, sind in der Minderheit. Doch das Gegenteil ist richtig: Vor fünf Jahren hat die TU Dresden, im Auftrag der Berliner Senatsverwaltung, die Bewohnerinnen und Bewohner in einer repräsentativen Erhebung nach ihrer Mobilität im Alltag befragt. Die Ergebnisse zeigen: In Berlin werden gerade mal 26 Prozent der Wege und 41 Prozent der sogenannten Personenkilometer im „motorisierten Individualverkehr“ zurückgelegt, also mit einem eigenen Auto. Für eine Großstadt ist das wenig.

Wissings erstaunliches Utopia des Radverkehrs

Die Mehrheit der Menschen ist in der Hauptstadt per Bus, Bahn, Rad oder zu Fuß unterwegs. Genauer gesagt: 30 Prozent der Wege und 5 Prozent der Kilometer werden zu Fuß, 18 Prozent der Wege und 12 Prozent der Kilometer mit dem Fahrrad sowie 27 Prozent der Wege und 42 Prozent der Kilometer mit dem öffentlichen Nahverkehr erledigt. Das heißt: Für fast drei Viertel ihrer Wege (73 Prozent) und 59 Prozent der Kilometer brauchen die Berlinerinnen und Berliner kein Auto. 43 Prozent der Haushalte in Berlin haben der Untersuchung zufolge noch nicht einmal einen eigenen Wagen. Innerhalb des S-Bahnrings, der die Innenstadt markiert, ist der Anteil der Menschen ohne eigenen Pkw noch deutlich höher.

Dass Autos dennoch so dominant wirken, hat einen simplen Grund: Sie nehmen mit einer durchschnittlichen Besetzung von 1, 3 Personen und den wachsenden Maßen der Modelle ungleich mehr Platz ein – und sind zudem noch laut. Nicht benutzt, stehen sie herum und binden riesige Flächen.

Volker Wissing sollte eigentlich wissen, was in Städten Sache ist. Sein Ministerium hat vor Kurzem eine Broschüre herausgeben lassen, in der ein Utopia des Radverkehrs ausgemalt wird – breite Wege, sichere Kreuzungen, übersichtliche Einmündungen. Im Vorwort fordert der Bundesverkehrsminister die Verantwortlichen in Städten dazu auf, alle Entscheidungen so zu treffen, dass sie für ein elfjähriges Mädchen gut wären, das in der Broschüre Laura genannt wird. Originalton Wissing im Vorwort:

„Von einer Radverkehrsinfrastruktur, die für ein elfjähriges Mädchen geeignet ist, profitieren alle Menschen. Daher mein Wunsch an alle Planerinnen und Planer: Halten Sie sich stets vor Augen, was Laura benötigt, um sicher und entspannt Rad fahren zu können – und planen Sie die Radinfrastruktur bei Ihnen vor Ort entsprechend.

Ein Kind hat ein Schild „Tempo 30“ auf dem Gepäckträger geklemmt und radelt zwischen zwei älteren Menschen bei einer Raddemo mit.
Sternfahrt des ADFC in Berlin am 4. Juni 2023: Flächendeckend Tempo 30?

Gibt es zwei Volker Wissings? Dramatischer könnten Worte und Taten nicht auseinanderfallen. Zwar will es die Bundesregierung nun mit einem neuen Gesetz den Kommunen leichter machen, für „Laura“ zu planen, aber dazu braucht es auch die nötige Aufbruchstimmung.

Der Ausbau des Radverkehrs und auch des ÖPNV sind weder Selbstzweck noch Kulturkampf oder radikale Agenda. Es geht darum, schwere und tödliche Unfälle zu vermeiden, die Lebensqualität in Städten zu erhöhen und die vom Bundesverfassungsgericht bestätigten Klimaziele zu erreichen.

Schon seit den 1980er Jahren treten Initiativen dafür ein, die Städte für Menschen zu Fuß und auf dem Rad sicherer zu machen – echter Erfolg scheiterte bisher aber an erheblichem Widerstand. Seitdem zur Verkehrssicherheit der Klimaschutz als Argument gekommen ist, werden die Forderungen noch lauter. In Berlin hatte 2016 ein wegweisendes Volksbegehren damit Erfolg, dass klimaneutrale Verkehrsmittel künftig Vorrang bekommen sollen. Das Mobilitätsgesetz schreibt seit 2018 einen sukzessiven Umbau der Stadt vor.

Wie holprige Feldwege mit Abgründen rechts und links

Doch auch unter dem rot-rot-grünen Senat war der Fortschritt eine Schnecke, weder vom Senat noch von den Bezirken aus waren Verkehrspolitiker der Grünen in der Lage, den Menschen, die zu Fuß oder mit dem Rad unterwegs sind, spürbar das Leben erleichtern.

Noch immer ist in Berlin und den meisten anderen deutschen Städten der Verkehrsraum fast ausschließlich für das Auto optimiert. Wo es keine sicheren Radwege gibt, sind Radfahrer auf den Straßen eingezwängt. Autofahrer können sie jederzeit zu Invaliden machen oder töten, wenn sie achtlos nach dem Einparken die Türen öffnen oder beim Abbiegen nicht in den Seitenspiegel schauen.

Parkplatz direkt vor Bürogebäude.
Der Eingang der Berliner Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Bauen und Wohnen – ein Parkplatz.
Die im Text genannten Zahlen als Graphik.
Ergebnisse einer Untersuchung der TU Dresden aus dem Jahr 2018.

Dort, wo es aus früheren Jahrzehnten Radwege gibt, sind diese meist in einem miserablen Zustand. Wurzeln schaffen große, schwer sichtbare Erhebungen. Pflastersteine fehlen oder sind herausgeplatzt, parkende Autos sind gefährlich nahe, Einmündungen in Kreuzungen und den fließenden Verkehr sind abrupt. Selbst in ausgewiesenen Fahrradstraßen ist man nicht sicher. Vielerorts enden Radwege einfach ohne Ankündigung im Nichts – oder an einem Parkplatz. Böte man Autofahrern dieses Niveau, würden Hauptstraßen wie Feldwege aussehen, an deren Rändern sich Abgründe auftun.

Die Freiheit, angstfrei und unbeschadet ans Ziel zu kommen

Die einseitige Ausgestaltung des Straßenraums zugunsten des Verkehrsmittels Auto hat einen hohen Preis: Seit den 1980er Jahren haben Zehntausende Menschen bei Verkehrsunfällen ihr Leben verloren und Hunderttausende ihre Gesundheit – teils unwiderruflich, wie das Beispiel der Radfahrerin Beate Flanz zeigt.

Wissings Freiheitsbegriff ist durch die Windschutzscheibe verengt: Er versagt vielen Menschen die Freiheit, sicher und komfortabel zu Fuß oder mit dem Rad zu sein. Ihr ständiger Begleiter ist die Angst, angefahren oder überfahren zu werden. Er versagt Kindern die Freiheit, in ihren Wohnvierteln auf den Straßen zu spielen oder diese auch nur ohne erhebliches Risiko zu überqueren. Die Freiheit, mit einem anderen individuellen Verkehrsmittel, dem Fahrrad – das zudem klimaneutral und gesundheitsförderlich ist – bequem, schnell und sorglos ans Ziel zu kommen, diese Freiheit gibt es noch nicht.

Geteiltes Bild, links Autoverkehr auf der Stadtautobahn, rechts zahlreiche Radfahrer auf demselben Abschnitt.
Dichter Autoverkehr, Radfahrerdemo auf der Berliner Stadtautobahn.

Man kann das Argument von den Freiheiten der Autofahrer übrigens auch auf den Kopf stellen: Wenn auch noch alle Fußgänger und Radfahrer aufs Auto umsteigen würden, wäre Dauerstau. Je mehr Menschen Rad, Nahverkehr und Zufußgehen nutzen, desto flüssiger wird der Verkehr und desto leichter wird es, einen Parkplatz zu finden. Zudem sinkt mit einer sicheren Radinfrastruktur die Zahl der Konflikte und das Risiko, nach einer Unachtsamkeit wegen fahrlässiger Körperverletzung oder Tötung vor Gericht zu landen.

Zwar will es die Bundesregierung nun mit einem neuen Gesetz den Kommunen leichter machen, für „Laura“ zu planen, aber dazu braucht es auch die nötige Aufbruchstimmung. Was Wissing und die Berliner Verkehrssenatorin Manja Schreiner aber in ihren Reden und vielen Handlungen tun, ist das Gegenteil: ein umweltpolitischer Rückfall.

Ein durchgehender Radschnellweg kreuzt eine Straße erhoben, so dass Autos abbremsen müssen.
So sollen Radschnellwege Straßen kreuzen, die von Autos benutzt werden.
Breite Radwege an einspuriger Autostraße.
So zeichnet eine Broschüre des Bundesverkehrsministeriums die Zukunft.
Kreisverkehr mit breiten, gut markierten Radwegen.
Auch im Kreisverkehr sollen Radfahrer sicher unterwegs sein können.
Straße mit nur wenigen Parkplätzen, der Platz wird für breite Radwege genutzt.
Radfahrer und Fußgänger sollen künftig gleichberechtigt werden.

Dieser Rückfall speist sich nicht aus Fakten, sondern aus Stimmungen. Letztlich wird den Menschen auf der Straße ein Kulturkampf aufgezwungen, den Rechtspopulisten angezettelt haben. Es war der polnische PiS-Politiker Witold Waszczykowski, der 2016, im Jahr des Aufstiegs von Donald Trump, die erste identitäre Tirade gegen Radfahrer abschoss, als er sagte: „Als müsse sich die Welt nach marxistischem Vorbild automatisch in nur eine Richtung bewegen – zu einem neuen Mix von Kulturen und Rassen, eine Welt aus Radfahrern und Vegetariern, die nur noch auf erneuerbare Energien setzen und gegen jede Form der Religion kämpfen.“

Es sollte um Alltag und Lebensqualität gehen

2023 schlug in nur etwas verhaltenerem Ton Manja Schreiner in eine ganz ähnliche Kerbe, als sie tweete: „Die Menschen haben andere Probleme als gendergerechte Sprache und Vorfahrt für Fahrräder.“

Für Millionen Menschen sind aber die Wege zur Arbeit, zu Verwandten und Freunden oder in der Freizeit kein Luxus, kein politisches Statement, sondern einfach nur der ganz normale Alltag. Für populistische Parolen und Missbrauch des Begriffs „Freiheit“ sollte da kein Platz mehr sein. Der Imperativ für die Planer der Zukunft ist, vom Extremismus der Autopolitik abzurücken und eine neue Mitte zu finden. Das geht nur, wenn man nach Jahrzehnten der Privilegierung des Autos nun die Stadt für einige Jahrzehnte konsequent aus der Perspektive der Kinder und Autolosen, der zu Fuß gehenden Senioren und der Radfahrer umbaut, um sichere und schnelle klimaneutrale Mobilität zu ermöglichen.

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