Straßenverkehr: Zu Fuß gehen ist gesund, aber in Städten oft riskant

Wie Straßen sicherer werden, erklärt die Unfallforscherin Kirstin Zeidler im Interview

vom Recherche-Kollektiv Busy Streets:
6 Minuten
Menschen gehen an einer mehrspurigen Straße über eine Ampel.

Zu Fuß gehen ist gesund und umweltfreundlich, aber in vielen Städten auch mühsam und gefährlich: Parkende Autos versperren die Sicht, Scooter und Fahrräder blockieren den Weg. Seit einiger Zeit steigt die Zahl der getöteten Fußgänger. Laut Statistischem Bundesamt starben im Jahr 2023 allein 437 Fußgänger.

Mitte Februar hat die alte Bundesregierung die Nationale Fußverkehrsstrategie verabschiedet, die erstmals das zu Fußgehen dem Rad- und Autoverkehr gleichstellt. Das heißt: Fußgängerïnnen sollen wie Autofahrende ein durchgehendes, barrierefreies und sicheres Wegenetz vorfinden.

Doch vielen Experten reicht das nicht. Beim Verkehrsgerichtstag in Goslar Anfang des Jahres forderten Polizei, Unfallforscher und Autoclubs einen besseren Schutz für Fußgänger. Dafür braucht es ein Umdenken in der Verkehrsplanung, erklärt Kirstin Zeidler, Leiterin der Unfallforschung der Versicherer.

Busy Streets: Frau Zeidler, immer wieder melden Bewohnerïnnen den Behörden die Gefahrenstellen in ihrer Stadt. Doch diese reagieren meist erst nach einem Unfall. Muss wirklich erst Blut fließen, bevor gehandelt wird?

Kirstin Zeidler: Die Kommunen haben Unfallkommissionen, die sämtliche Unfallschwerpunkte begutachten. Die Experten wägen sehr genau ab, welche Knotenpunkte zuerst umgebaut werden müssen. Das ist oft eine Mammutaufgabe. Allein in Berlin gibt es 1600 dieser sogenannten Unfallhäufungsstellen. Laut Mobilitätsgesetz sollen jährlich 30 beseitigt werden. Selbst wenn das gelingt, würde der Umbau über 50 Jahre dauern.

Was können Kommunen kurzfristig tun, um Gefahrenstellen zu entschärfen?

Das Tempo spielt punktuell für die Verkehrssicherheit eine Rolle. Seit der Novelle der Straßenverkehrsordnung im vergangenen Jahr haben Kommunen mehr Möglichkeiten, etwa das Tempo auf stark frequentierten Schulwegen auf 30 km/h zu senken oder Lücken zwischen Tempo-30-Strecken zu schließen. Sie sollten noch mehr Freiheiten haben Tempolimits auch präventiv anzuordnen, bevor etwas passiert. Schließlich kennen sie ihre Gefahrenstellen ganz genau und wissen, welche Geschwindigkeiten vor Ort sinnvoll sind. Beim Verkehrsgerichtstag haben wir den Gesetzgeber aufgerufen, den Kommunen den notwendigen Handlungsspielraum zu geben. Aber auch Infrastrukturmaßnahmen wie mehr Angebote die Straße zu überqueren oder Poller, die das Zuparken von Kreuzungen verhindern, sorgen für mehr Sicherheit.

1970 starben rund 6040 Fußgängerïnnen im Straßenverkehr, 2023 waren es 437. Wie bewerten sie die Entwicklung der vergangenen Jahre?

In den vergangenen 15 Jahren verblieb die Zahl der verletzten Fußgänger bei knapp 30.000. Hier sehen wir keine Verbesserung. Dagegen sank die Zahl der getöteten Fußgänger von 591 im Jahr 2009 auf 417 im Jahr 2019. Nach der so genannten Coronadelle stiegen die Todesfälle wieder. 2023 starben 437 Fußgänger. Das ist ein Alarmsignal, die Verkehrssicherheit für Gehende muss verbessert werden.

Besteht ein Zusammenhang zwischen der wachsenden Pkw-Flotte und der Zahl der getöteten und verletzten Fußgänger?

95 Prozent der Unfälle mit Fußgängern passieren in Städten. Dort ist der Verkehr am dichtesten. Dabei hat die Fahrleistung der Pkw das Vor-Corona-Niveau noch gar nicht wieder erreicht. Unsere Studien zeigen aber: Auch parkende Fahrzeuge tragen zu Fußgängerunfällen bei.

Wie verursachen parkende Fahrzeuge Unfälle?

Für Fußgänger sind abgestellte Autos am Fahrbahnrand und im Kreuzungsbereich Sichthindernisse. Ein typischer Unfallhergang ist: Der Fußgänger tritt auf die Fahrbahn und kollidiert mit Fahrrad, Auto oder Lkw. Wenn Sie hinter einem parkenden Auto hervortreten, sind Sie schlecht zu sehen und sehen auch selbst herannahende Fahrzeuge nicht ideal. Kinder sind in diesen Situationen besonders gefährdet, da sie kleiner sind. Zwei Drittel der Fußgängerunfälle passieren auf Strecken, meist beim Überqueren der Straßen, ein Drittel an Kreuzungen.

Warum gelten Kinder, Jugendliche und Ältere als besonders gefährdet?

Kinder und selbst Jugendliche bis etwa 14 Jahren können die Geschwindigkeit von heranfahrenden Autos noch nicht richtig einschätzen, die kognitiven Fähigkeiten entwickeln sich noch. Deshalb sind sie besonders gefährdet und brauchen eine Infrastruktur, die selbsterklärend und sicher ist. Das gilt auch für ältere Menschen, die teils langsamer reagieren, teils länger bis zur anderen Straßenseite brauchen. Wir haben in Deutschland eine alternde Bevölkerung. Das heißt: Die Gruppe der Älteren wird immer größer. Ohne Anpassung der Infrastruktur, fürchte ich, wird die Zahl der Getöteten steigen.

Was können die Kommunen unternehmen, um die Straßen für Fußgänger sicherer zu machen?

Wichtig ist, an Knotenpunkten freie Sicht zu schaffen. Das Zuparken von Kreuzungen muss verhindert werden, etwa mit Pollern, Blumenkübeln oder durch konsequentes Abschleppen. Mehr Mittelinseln an den richtigen Stellen sind gut, um sicher über die Straße zu kommen. Die Menschen können unterwegs Halt machen und sich dann auf die zweite Spur konzentrieren. Fehlt dafür der Platz, sind Ampeln oder ein Zebrastreifen eine gute Alternative.

Ist die Gefahr nicht besonders hoch, dass Autofahrer Fußgängerïnnen beim Abbiegen übersehen?

Deshalb sollten abbiegende Autos und Fußgänger nicht gleichzeitig Grün erhalten. Außerdem sollten die Abstände zwischen den Ampeln oder Zebrastreifen kurz sein, damit ältere Menschen keine großen Umwege gehen müssen. Das betrifft besonders Orte mit viel Publikumsverkehr wie Supermärkte, Ärztehäuser oder Busbahnhöfe.

An der Kreuzung parken Autos und Fahrräder.
Problem und Lösung: Ein Auto parkt im Kreuzungsbereich und behindert Fußgängerïnnen. Fahrradbügel verhindern das Zuparken der Kreuzung.

Diese Umbauten kosten Geld und Zeit. Geht es auch schneller oder günstiger?

Wären alle rücksichtsvoll und hielten sich an die Verkehrsregeln, wäre schon viel gewonnen. Weil das nicht der Fall ist, fordern wir mehr Verkehrskontrollen für alle: für Falschparker, Rotlicht- und Geschwindigkeitssünder. Über 60 Prozent der Autofahrer wurden noch nie oder seit Jahren nicht mehr kontrolliert, wie unsere Verkehrsklimastudie von 2023 ergeben hat. Kontrollen sind aber nötig, um Gesetze durchzusetzen. Ohne Konsequenzen lädt Regelbruch zum Wiederholen ein.

Sie fordern, dass die Infrastruktur sicher und selbsterklärend sein soll. Ist das nicht selbstverständlich?

Eigentlich schon, aber oft sind Kreuzungen gerade in Großstädten sehr komplex. Wenn es verschiedene Stopps beim Überqueren einer mehrspurigen Straße gibt und sich dabei vielleicht noch der Vorrang für Verkehrsteilnehmenden ändert, können sie den Überblick verlieren.

Wie sieht so eine uneindeutige Kreuzung aus?

Nehmen Sie eine sechsspurige Straße mit Straßenbahn in der Mitte, davor ein Zebrastreifen und dahinter eine Ampel. Beim Zebrastreifen haben Fußgänger Vorrang bis zur Straßenbahn. Dort müssen sie stehen bleiben, denn der Vorrang wechselt zur Bahn. Ist die Bahn vorbeigefahren und die Gleise frei, können sie passieren, müssen aber an der Ampel wieder warten bis sie die Fahrbahn freigibt. Solche komplexen Situationen können für ältere oder junge Menschen sehr herausfordernd sein. Für sie wäre eine einheitliche Struktur besser.

Warum fordern Sie neben höheren Bußgeldern auch Punkte für Verkehrsvergehen?

Punkte in Flensburg sind gerechter, da sie unabhängig vom Geldbeutel wirken. Eine Geschwindigkeitsübertretung von 15 km/h kostet zurzeit 50 Euro. Mit einem zusätzlichen Punkt steigt die Gefahr, den Führerschein zu verlieren, wenn sich Regelbrüche wiederholen. Das diszipliniert. Unsere Studie zu Regelverstößen und deren Sanktionierung von 2023 hat ergeben, wann sich Probanden an Regeln halten. Weniger Regelverstöße bedeuten weniger Unfälle. Und das ist das Ziel: Der Straßenverkehr soll sicherer werden.

Wie kann mehr Technik in Fahrzeugen die Sicherheit erhöhen?

Die meisten Verkehrsunfälle beruhen auf menschlichem Versagen. Busse oder Lastwagen verursachen jeden fünften tödlichen Fußgängerunfall – meist beim Anfahren oder Rangieren. Die Assistenzsysteme warnen derzeit nur per akustischem Signal, wenn sie Gehende erkennen. Würden sie stattdessen aktiv bremsen, könnten viele tödliche Kollisionen verhindert werden. Die Technik existiert, ist aber noch nicht Pflicht. Die UDV fordert, das zu ändern.

Wie schnell könnte sich das Bremsen per Assistenzsystem durchsetzen?

Darüber entscheidet die EU. Aber selbst wenn das System europaweit Pflicht würde, dauert es etwa fünf Jahre, bis es in Lkw-Flotten verbreitet ist, und etwa doppelt so lange bei Pkw. Das ist eine lange Zeit, aber das System könnte viele Leben retten.

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