Wo sind wir denn?

von Maximilian Steinbeis
7 Minuten
Waden mit weiß-grünen Stulpen aus Wollmaterial.

Wo sind wir denn? Das sagt man bei uns in Bayern, wenn man sich mit einer besonderen Unverschämtheit konfrontiert sieht. Ja, wo gibt’s denn sowas? Ja, wo samma denn? Bis vor ein paar Jahrzehnten hätte man auch noch ein paar Vorschläge hinterhergereicht, ob man vielleicht bei den Hottentotten sei oder im Zigeunerlager, doch zum offenen Rassismus wollen sich auch in Bayern nur noch die Wenigsten bekennen, und deshalb hört man das nicht mehr so oft. Was dagegen total in Ordnung geht und ganz landesüblich ist, ist die im Tonfall höchster Indigniertheit vorgebrachte Frage, wo man sei, was impliziert, ob man am Ende vielleicht gar woanders sei als in der wohl geordneten, gottesfürchtigen bayerischen Heimat, eine Frage von natürlich rein rhetorischer Natur, denn die Antwort kann gar nicht anders lauten als Nein.

Wo sind wir denn? Horst Seehofer hat diese Frage gestellt, im Interview mit der niederstbayerischen Heimatzeitung „Passauer Neuen Presse“, und den Anlass dazu hat die Vorstellung gegeben, die Kanzlerin könnte ihn am Ende gar als Bundesminister des Inneren ihres Kabinettes verweisen, bloß weil er ihre auf Art. 65 Grundgesetz gestützte Richtlinienkompetenz missachtet und der von ihr festgelegten Rechtsauffassung der Bundesregierung in punkto einseitiger Zurückweisung von Flüchtlingen an der Grenze zuwiderhandelt. Ja, sie schau’ an! Ja, soweit kommt’s noch! Wo doch ein Innenminister geradezu dazu da ist, mit den Flüchtlingen und mit dem Flüchtlingsrecht recht robust umzuspringen, auf dass der gottesfürchtigen bayerischen Heimat nicht unwohl und unsicher zumute werde in diesen unruhigen Zeiten! Ja, wo samma denn?

Wo sind wir denn? Ja, wo nur? Wir sind in Deutschland, wo die Bundesregierung mitsamt dem Innenminister nach Artikel 20 Absatz III Grundgesetz an „Gesetz und Recht gebunden“ ist, was zu jedenfalls meinem Gefühl, mich in meiner Heimat recht wohl und sicher zu befinden, entscheidend beiträgt.

Wo sind wir denn? Wir sind im Schengen-Raum, wo man im Prinzip von einem Land zum nächsten reisen können soll und auch kann, ohne zuvor kontrolliert zu werden. Ich war letztes Wochenende in Wien, hatte meinen Perso aber aus Versehen im Scanner liegen lassen, also keinerlei Ausweis dabei – hat kein Mensch gemerkt, hat niemanden interessiert. In Kiefersfelden gibt es zwar so genannte „Grenzkontrollen“, die darin bestehen, dass die Autobahn aus Kufstein einspurig wird und die Grenzpolizei durch die Windschutzscheibe späht, ob da vielleicht jemand drinsitzt, der verdächtig ausschaut. Aber dass man erst reinkommt in unser Land, wenn man ein Kontrollverfahren durchlaufen und anschließend explizit reingelassen wird? Das gibt es nicht bei uns im Schengen-Raum.

Wo sind wir denn? Wir sind in der Europäischen Union, wo für alle verbindlich geregelt ist, was zu passieren hat, wenn jemand sagt, er braucht Asyl. Bei uns gibt es die Dublin-Verordnung, die dafür sorgt, dass jedenfalls eins nicht passiert: dass dieser Jemand schleunigst und ohne Verfahren über die Grenze geschoben wird, auf dass er lieber dem Nachbarland zur Last falle. Gerade das würde Seehofer aber gerne tun können, zumal das Nachbarland Österreich das dann ebenfalls täte, und Italien schon sowieso, denn wie sagt Seehofers italienischer Amtskollege und bayerisch-österreichischer Achsen-Partner Matteo Salvini so schön? „Italien hilft nur den Italienern.“ Ja, Himmel Herrgott Zackrament! Wo sind wir denn?

Die Geographie in Europa verändert sich rapide in diesen Wochen, so heftig und disruptiv wie seit 1990 nicht mehr. An diesem Wochenende versammelt sich ein Teil der Mitgliedsstaaten zu einem „Mini-Gipfel“, den der andere Teil der Mitgliedsstaaten als Rechtsbruch brandmarkt, um für den eigentlichen Gipfel nächste Woche die Rettung der Union vorzubereiten, die gleichzeitig immer dringlicher und immer schwerer vorstellbar wird. Gleichzeitig wird mit den Schlussanträgen von EuGH-Generalanwalt Tanchev im Fall Celmer klar werden, was es für die Union bedeutet, dass man in Polen keiner unabhängigen Justiz mehr trauen kann – so oder so. Von der Ostsee bis Sizilien regieren autoritäre Schurken, und in meinem eigenen Land sind Leute an der Regierung beteiligt, die nichts Eiligeres zu tun zu haben scheinen, als es ihnen gleichzutun. Wo sind wir eigentlich? Ich weiß es immer weniger. Der Kontinent reißt auseinander. Hält der Teil noch, auf dem ich stehe? Was, wenn nicht mehr? Wohin dann fliehen?

Herrschaft des Unrechts

Auf dem Verfassungsblog haben wir in dieser Woche, wie schon in der letzten, große Anstrengungen unternommen, uns der „Herrschaft des Unrechts“ (Horst Seehofer) mit aller uns zu Gebote stehender Kraft entgegenzuwerfen: Dass man einen über die offenen Grenzen nach Deutschland eingereisten Asylsuchenden nicht einfach ohne Verfahren nach Österreich oder sonstwohin expedieren kann, selbst wenn er wegen eines früheren abgelehnten Asylantrags einem Einreiseverbot unterliegt, zeigen PAULINE ENDRES DE OLIVEIRA und DANA SCHMALZ. CONSTANTIN HRUSCHKA zeichnet die Rechtsprechung des EuGH seit 2016 nach, wonach eine Zurückweisung an der Grenze ohne Durchführung eines Dublin-Verfahrens klar rechtswidrig wäre. Dem Argument von Dana Schmalz aus der Vorwoche, dass Zurückweisungen u.a. gegen die Genfer Flüchtlingskonvention verstoßen können, widerspricht indessen STEFAN TALMON. MATHIAS HONG wiederum legt dar, dass auch unser höchsteigenes deutsches Grundgesetz Zurückweisungen verbietet, soweit den Flüchtlingen sonst menschenunwürdige Behandlung droht. MICHAEL SCHLIKKER weist darauf hin, dass rechtlich Schengen immer noch gilt und Verbindlichkeit entfaltet, mit welcher auch die Kontrollen an der Kiefersfeldener Grenze mangels Notsituation eigentlich nicht mehr so recht vereinbar sind. Und KLAUS FERDINAND GÄRDITZ erklärt, wie die Richtlinienkompetenz der Kanzlerin rechtlich funktioniert, und verschweigt auch nicht die politische Begrenztheit derselben.

Für ziemliches Aufsehen haben die rechtlichen Zweifel von HENDRIK PEKÁREK und KILIAN WEGNER an der agententhrillerhaften „Very Big Raushole“ des mutmaßlichen Mörders und Vergewaltigers von Susanna F. aus dem Irak gesorgt. Der Familie der Getöteten habe die Bundespolizei damit womöglich einen Bärendienst erwiesen: „Das Strafverfahren gegen Ali B. leidet nun unter einem Verfahrensfehler, der die Frage aufwirft, ob nicht ein dauerhaftes Verfahrenshindernis besteht – dies wird ggf. höchstrichterlich zu klären sein.“

Erstaunlich wenig Aufsehen hat die Nachricht erregt, dass die Länder überlegen, bei Einstellungen in den Justizdienst zu der Praxis der 70er Jahre zurückzukehren und die Verfassungstreue der Bewerber_innen per Regelanfrage beim Verfassungsschutz überprüfen zu lassen. CHRISTIANE SCHMALTZ hält dies für unverhältnismäßig und töricht.

Wie Jura-Studierende aus Erlangen, München und Würzburg die Verschärfung des bayerischen Polizeiaufgabengesetzes mit einer Popularklage vor den Bayerischen Verfassungsgerichtshof gebracht haben, schildert TIM SCHILDEROTH.

EVA KOCHER befasst sich mit dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts, die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zur Kettenbefristung von Arbeitsverträgen für verfassungswidrig zu erklären. Mit der Aussage, dass die Verfassung den Umgang mit wiederholten sachgrundlosen Befristungen bereits detailliert regele, habe das BVerfG wohl auch einen Baustein aus dem ausgefeilten Konzept des Koalitionsvertrags herausgebrochen.

PETER SCHAAR, der frühere Bundesbeauftragte für Datenschutz, hat ANNA VON NOTZ im Interview über die Folgen der EuGH-Entscheidung zu Facebook-Fanpages aufgeklärt, was nicht nur uns selbst mit unseren 6500 Facebook-Followern, sondern generell die Frage betrifft, ob und wie man überhaupt noch legal Facebook als Verbreitungskanal einsetzen kann.

Am Sonntag wählt die Türkei, und es wird sich herausstellen, ob sie ihrem Präsidenten Erdogan in den Autoritarismus folgt oder – allen politischen und institutionellen Machenschaften Erdogans zum Trotz – sich dieser doch verrechnet hat. Was SERKAN KÖYBASI für durchaus vorstellbar hält.

Italien hat eine Regierung, mehr als manchen lieb sein kann, aber der Schock der drohenden Verfassungskrise in der Regierungsbildung sitzt immer noch tief. MASSIMO FICHERA vertieft seine Überlegungen, was Präsident Mattarella zur Ablehnung eines euroskeptischen Finanz- und Wirtschaftsministers legitimiert haben könnte.

Im Libanon ist die Staatskrise ein Dauerzustand. Im Mai konnte nach Jahren des Stillstands immerhin ein neues Parlament gewählt werden. ISSAM SLEIMAN, der Präsident des libanesischen Verfassungsrats, schildert im Interview mit ROBERT POLL seine Ideen zu einer Verfassungsreform.

Zuletzt Glossator FABIAN STEINHAUER: Er empfiehlt in dieser Woche, immer mal wieder über rote Ampeln zu gehen, um nicht aus der Übung zu kommen.

Anderswo

DAVID HUG findet die Pläne der Koalition, die staatliche Parteienfinanzierung anzuheben, abenteuerlich, wenn nicht gar dreist begründet.

LENA RIEMER untersucht die Mithaftung Italiens für Menschenrechtsverletzungen der libyschen Küstenwache gegenüber Flüchtlingen auf dem Mittelmeer.

ANDERS HENRIKSEN berichtet von einer Gerichtsentscheidung in Dänemark, einer Gruppe von Irakern Entschädigungsansprüche gegen die dänische Regierung für die Rolle dänischer Truppen bei deren Verhaftung und Misshandlung 2004 im Irak zuzusprechen.

ELINA LEMAIRE begrüßt den Plan der französischen Regierung, die lebenslange Mitgliedschaft ehemaliger Staatspräsidenten im Verfassungsrat aus der Verfassung zu streichen.

DÁNIEL G. SZÁBO berichtet über die neuen Gesetze in Ungarn, um Flüchtlingshelfer zu kriminalisieren und Sonder-Verwaltungsgerichte zu errichten.

ANNA VENTOURATOU untersucht das Abkommen zwischen Griechenland und Mazedonien, das den jahrzehntelangen Streit um den Namen der „Former Yugoslav Republic of Macedonia“ beilegen soll.

ILYA SOMIN hält die Politik der US-Regierung Trump, Kinder von Migranten von ihren Eltern zu trennen, für unrechtfertigbar.

MARK GRABER stellt Betrachtungen über die Ähnlichkeiten zwischen Mitch McConnell, dem republikanischen Mehrheitsführer im US-Senat, und Hitlers Wirtschaftsminister Hjalmar Schacht an.

LEONID SIROTA geißelt die Entscheidung des kanadischen Obersten Gerichtshofs, wonach Juristenvereinigungen Absolventen von Hochschulen, die ihren Studenten religiöse Keuschheitsgelübde abverlangen, die Mitgliedschaft verweigern dürfen.

In der nächsten Woche kommt die Global-Constitutionalism-Community in Hong Kong zusammen, zum Kongress der International Society of Public Law (ICON-S). Ich bin zu meinem Kummer nicht dabei. Zu viel zu tun zu Hause. Mal sehen, wo wir uns nächstes Jahr treffen. Und in welcher Stimmung.

Ihnen und uns allen alles Gute und eine erfolgreiche Woche!

Ihr Max Steinbeis



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