Die Gangs von Kapstadt
Besuch eines Museums-Projekts im Township Khayelitsha
Kapstadt hat die höchste Mordrate Südafrikas. Ein Grund dafür ist die hohe Gang-Kriminalität. Die Regierung will das Problem mit einer Spezialeinheit lösen. Ein Projekt im Township Khayelitsha setzt dagegen auf ehemalige Gangster.
„Willkommen im ‚18 Gangster Museum‘“, sagt Samkelwe Vuza. Lässig steht er vor dem Schiffscontainer, in dem das kleine Museum untergebracht ist. Mitten in Khayelitsha, einem Township am Rand von Kapstadt. Hier ist der 33-Jährige aufgewachsen. „Als Junge wollte ich so werden wie mein älterer Bruder“, erzählt er.
Denn der kam an den Wochenenden mit schicken Autos vorgefahren. Er und seine Freunde schienen immer viel Spaß, viel Geld und scheinbar keine Probleme zu haben. Erst später erfuhr Samkelwe, dass sein Bruder einer der berüchtigten Gangs angehörte.
„Was das wirklich bedeutet, ist mir erst klargeworden, als ich selbst schon mitten drin steckte. Mein Bruder wurde von einer rivalisierenden Gang erschossen und ich habe wegen Mordes im Gefängnis gesessen.“
Im Viertel nennen sie ihn "Killer"
Während Samkelwe seine Geschichte erzählt, verzieht er keine Miene. Heute bereut er seine Tat. Er habe lange gebraucht, um mit der Tatsache zurecht zu kommen, dass er ein Menschenleben auf dem Gewissen habe. Er bereut auch, dass er hinter Gittern saß, als seine Freundin sein Kind bekommen hat. Aber diese Vergangenheit lässt sich nicht so einfach abstreifen.
„Einige hier im Viertel nennen mich bis heute ‚Killer‘“, sagt er und rückt dabei verlegen den Plastikkamm zurecht, der als stylisches Accessoire in seinem Haar steckt. Seine Freundin habe ihn verlassen. Es werde lange dauern, bis alle wirklich glauben würden, dass er sich verändert habe.
An dieser Veränderung hat das kleine Museum einen großen Anteil. Kurz nachdem Samkelwe aus der Haft entlassen wurde, kam er zufällig an dieser kleinen Seitenstraße vorbei und entdeckte das Museum. Ein Mitarbeiter erzählte ihm, dass Menschen wie er hier eine zweite Chance bekommen könnten.
Auf eine solche Chance hatte Samkelwe gewartet. Heute gehört er zu einer Gruppe rehabilitierter Gangster, die Besucher durch den Museums-Container führen: Touristen, durch deren Eintrittsgelder sich das Projekt finanziert und Schulkinder aus den Townships. Er mag diese neue Aufgabe, es ist die erste sinnvolle, die er je hatte. Außerdem verdient er so ein wenig Geld. Legal. Auch das ist neu für ihn.
Ex-Häftlinge erzählen ihre Geschichte
Die Idee zu diesem Museum, der Mischung aus Rehabilitations- und Präventionsarbeit, hatte Wandisile Nqeketho. „Wir bringen jungen Leuten bei, welche Konsequenzen es hat, sich einer Gang anzuschließen“, erklärt er. „Ex-Häftlinge erzählen aus ihrer eigenen Erfahrung. Das hat größere Wirkung, als wenn ich das tun würde.“
Denn im Gegensatz zu seinen Mitarbeitern war Wandisile nie kriminell. Obwohl er ebenfalls in Khayelitsha aufgewachsen ist, ebenfalls in ärmlichen Verhältnissen, als eines von fünf Kindern. Sein älterer Bruder war kriminell, sein Halbbruder sogar ein berüchtigter Gangster. „Er war einer der ersten, der in diesem Township in großem Stil Drogen verkauft hat. Alle haben ihn gefürchtet. Aber mich hat er immer vor diesem Leben gewarnt.“
Zu dieser Warnung sei die Unterstützung seiner Familie gekommen, erzählt Wandisile weiter. „Sie haben mich immer gefördert. Im Gegensatz zu vielen Gleichaltrigen, hatte ich Alternativen, die mich davor bewahrt haben, falsche Entscheidungen zu fällen.“ Er war der erste in seiner Familie, der die Schule abgeschlossen und studiert hat.
Wandisile schaut vom Innenhof seines Museums auf die Straße. Ein paar Kinder rennen an den kleinen Steinhäuschen und Blechbuden vorbei. Armut und Arbeitslosigkeit, Gewalt und zerrüttete Familien bestimmen hier den Alltag. Spielplätze oder andere Freizeitangebote gibt es kaum. Deshalb verbringen Kinder und Jugendliche viel Zeit auf der Straße.
„Sie sind leichte Beute für die Gangs“, meint Wandisile. Viele beginnen schon früh damit, Drogen zu konsumieren, aus Langeweile oder um ihre Sorgen zu zerstreuen. Später verkaufen sie Drogen. So beginnen viele kriminelle Karrieren.
„Die Gangs hier in Khayelitsha verüben jenseits des Viertels schlimme Verbrechen, aber hier bekommen die Leute nur die schillernde Seite dieses Lebens zu sehen: Schnelle Autos, schicke Kleidung, schöne Frauen. Für viele Jugendliche sind sie Vorbilder, denen sie nacheifern.“ So wie damals auch Samkelwe.
Zustände wie im Bürgerkrieg
Eltern müssen oft hilflos zuschauen. Nicht nur, wenn ihre Kinder angeworben werden, sondern auch, wenn sie auf dem Schulweg in Feuergefechte rivalisierender Gangs geraten. Das passiert in den sogenannten ‚Cape Flats‘, den Armenvierteln rund um Kapstadt regelmäßig. Es sind Zustände wie in einem Bürgerkrieg.
Daran werde auch die vor einem halben Jahr von der Regierung gegründete, neue Spezialeinheit nichts ändern, meint Wandisile. „Die Anti-Gang-Einheit beschäftigt sich nicht mit den sozialen Ursachen des Problems: Den verheerenden Lebensbedingungen der Menschen hier.“ Sie bräuchten unter anderem Jobs und Bildung. Je mehr Perspektiven desto weniger Kriminalität, lautet seine Formel.
Stattdessen schicke die Regierung jedoch bis an die Zähne bewaffnete Spezialeinheiten und gebe damit das falsche Signal. „Wir lernen von klein auf, dass Problemen hier in Südafrika immer nur mit Gewalt begegnet wird.“ Das zeige sich nicht nur in der Reaktion der Regierung auf die Gangs, sondern auch auf die vielen Bürgerproteste im Land.
Gewalt und Gegengewalt, ein Teufelskreis, der sich auch hinter Gittern fortsetzt. „Kriminelle, darunter auch viele kleine Verbrecher, junge Ersttäter, werden in unseren dysfunktionalen Gefängnissen weggesperrt. Dort werden sie nicht rehabilitiert, sondern entwickeln sich erst Recht zu Hardcore-Gangstern. Wenn sie wieder auf freiem Fuß sind, richten sie also noch mehr Schaden an und rekrutieren noch mehr junge Leute.“
Auf die Frage, warum die Regierung nicht umlenke, antwortet Wandisile trocken: Inkompetenz, Korruption, Machthunger, Geldgier. Tatsächlich hat all das während der fatalen Präsidentschaft Jacob Zumas drastisch zugenommen. Seit er nicht mehr im Amt ist, versucht eine Untersuchungskommission aufzuklären, wie groß das Netz der Vetternwirtschaft und wie tief der Korruptionssumpf noch immer sind.
Die Aussage eines ehemaligen Mitarbeiters der privaten Sicherheitsfirma ‚Bosasa‘ die später in ‚African Global Operations‘ umbenannt wurde und auch für die Gefängnisse zuständig war, sorgten dabei für Aufsehen. Öffentliche Aufträge wurden unter der Hand vergeben, hochrangige Regierungsmitglieder bestochen, Steuergelder, die beispielsweise für das Essen der Gefängnisinsassen vorgesehen waren, veruntreut.
Gangs regieren in Gefängnissen
Von den verheerenden Zuständen hinter Gittern berichten auch die Ex-Gangster. Eine Hälfte des Schiffscontainers ist wie eine Gefängniszelle eingerichtet. Dort sitzt der wegen Einbruchs, Raubüberfällen und Drogenhandels verurteilte Siyabonga Tosele auf dem Etagenbett: „23 Stunden verbringt man in der Zelle, nur eine Stunde darf man raus und dann gibt es noch die Besuchszeit. Zweimal am Tag gibt es Essen. Die Zellen sind vollkommen überfüllt. In meiner waren wir 65 Insassen.“
Das ist kein Einzelfall. Landesweit gibt es in den Gefängnissen wesentlich weniger Betten als Insassen. Regierungsangaben zufolge waren 2018 waren über 163.000 Häftlinge in Strafvollzugsanstalten untergebracht, die eigentlich nur Platz für 119.000 haben. Das liegt auch an der großen Zahl von Untersuchungshäftlingen, die oft jahrelang auf ihr Gerichtsverfahren warten müssen und sich eine Kaution nicht leisten können.
Krankheiten wie Tuberkulose breiten sich in diesen überfüllten Zellen schnell aus. Die Zahl der Suizide ist alarmierend hoch. Es gelte das Gesetz des Stärkeren, bestätigt Siyabonga. „Mächtige Gangs bestimmen, was hinter Gittern passiert. Wer sich keiner anschließt, wird wie ein Sklave misshandelt und muss auf dem Boden schlafen. Wer ein Bett will, muss der Gang beweisen, dass er es auch verdient hat.“
Die berüchtigten Gefängnisgangs am Kap nennen sich 28, 27 und 26. Der Name des Museums spielt auf diese sogenannten ‚Numbers-Gangs‘ an. Ihre Geschichte reicht bis ins 19. Jahrhundert zurück. Sie sind militärisch organisiert, jede Gang übernimmt andere ‚Aufgaben‘ im Gefängnis, von sexuellen ‚Dienstleistungen‘ bis zur Beschaffung von Drogen und Waffen.
Neue Mitglieder durchlaufen geheimnisumwobene Initiationsrituale und werden mit Tätowierungen regelrecht gebrandmarkt. Auch Siyabonga und Samkelwe tragen diese Tattoos, von der 28– und 27-Gang. Aussteigen könne man nicht, erzählen beide, aber in Freiheit könne einen wenigstens keiner mehr zu etwas zwingen. „Andere Gang-Mitglieder versuchen immer wieder, uns zu überreden und schimpfen uns Feiglinge. Das ist nicht leicht zu ertragen, aber wir bleiben standhaft“, betont Siyabonga.
Beide beteuern, dass sie nie wieder kriminell werden wollen. Das habe ihnen und ihren Familien nur Leid gebracht. Jahrelang sei er für seine beiden Kinder kein richtiger Vater gewesen, sagt Siyabonga. „Ich habe ihnen keine Liebe gegeben. Ich war nicht für sie da. Diese verlorene Zeit möchte ich jetzt wieder gut machen.“
Ein Junge, zwei Geschichten
Siyabonga tritt in die andere Hälfte des Schiffcontainers, einen kleinen Ausstellungsraum. Die eine Seite ist dunkel, die andere hell gestrichen. Auf beiden geht es um einen Jungen namens Thabo. „Das könnte auch meine Geschichte sein“, meint Siyabonga.
Auf der dunklen Seite hat sich Thabo einer Gang angeschlossen: Drogen und Kriminalität bestimmen sein Leben, das fast zwangsläufig entweder mit dem frühen Tod oder Gefängnis endet. Auf der hellen Seite hat der Junge bessere Entscheidungen getroffen: Er geht zur Schule, treibt Sport und gründet später eine glückliche Familie.
Fast sehnsüchtig blickt Siyabonga auf diese Bilder. Bis zu seinem 16. Lebensjahr war seine Welt noch in Ordnung: Schule, Fußball, Kirche, so beschreibt er seinen Alltag. Seine Mutter habe immer darauf geachtet, dass er nicht in falsche Kreise gerate.
„Aber als ich 16 wurde, erkrankte sie schwer. Eine Woche bevor sie starb, gestand sie mir, dass sie nicht meine biologische Mutter ist. Das hat mich völlig aus der Bahn geworfen.“ Sein Vater ertränkte seine Trauer damals im Alkohol und hatte bald eine neue Frau. Sein Sohn verlor den Halt und suchte sich in der Gemeinschaft der Gangs neuen. Für viele junger Männer aus den Townships sind sie eine Art Familienersatz.
Auf die Nachfrage, wie er sich damals gefühlt habe, antwortet Siyabonga mit zunehmend brüchiger Stimme. Verloren, traurig. „Meine Stiefmutter hat mich wirklich geliebt. Sie hat mich immer wie ihr eignes Kind behandelt. Ich musste sie nie um etwas bitten“, sagt er, bevor er in sich zusammensackt, die Hände vor das Gesicht hält und lautlos weint.
Bald ist sein Mentor, Museumsgründer Wandisile Nqeketho, zur Stelle, legt ihm tröstend eine Hand auf die Schulter, wartet bis er sich etwas beruhigt hat und schickt ihn dann ein wenig an die frische Luft. „Für viele hier ist das alles noch sehr frisch. Sie haben emotional viel durchgemacht, viel Schlimmes, teils Traumatisches erlebt“, meint er.
Sein Museums-Projekt solle ihnen dabei helfen, all das zu verarbeiten, auch indem die Ex-Gangster ihre Geschichte wieder und wieder erzählen. „Sie hatten vorher nie ein Forum, in dem sie erzählen konnten, was sie erlebt haben. Das hier ist wie eine Therapie für sie.“
Wenn sie stabil genug sind, beteiligen sie sich auch an den Projekten mit den Kindern aus der Nachbarschaft. Sie spielen mit ihnen Fußball oder malen mit ihnen. „Das gibt ihnen eine Aufgabe und ihrem Leben einen neuen Sinn. Sie helfen den Kindern, widerstandsfähiger zu werden als sie es früher waren“, betont Wandisile.
Das Museum bietet den Gangs die Stirn
Was die Gangs dazu sagen, dass das Museum ihnen in gewisser Weise den Nachwuchs streitig macht? Wandisile winkt ab. „Sie haben sich uns nie in den Weg gestellt“, sagt er. Einige Gang-Mitglieder fänden seine Initiative sogar cool. Sie hätten selbst Kinder oder jüngere Geschwister, für die sie sich ein besseres Leben wünschten.
Auch wenn sie schizophrenerweise weiterhin andere Jugendliche rekrutieren. „Vorsichtig müssen wir nur mit bestimmten Informationen umgehen. Die Gangs haben viele Geheimnisse, über die wir nicht öffentlich reden können. Wir müssen also Schritt für Schritt vorgehen. Dies ist nur der erste.“
Wandisile träumt davon, sein Museum zu einer Art Jugendakademie auszubauen. Schon jetzt arbeitet er mit anderen Township-Projekten zusammen. Jede habe seine Stärken, sagt er, von psychologische Hilfe bis zu Bewerbungstraining. Gemeinsam und mit langem Atem könnten sie der tiefverwurzelten Gang-Kultur etwas entgegensetzen.
Denn wo es Alternativen, Freizeitangebote und positive Vorbilder gebe, träfen die Jugendlichen auch bessere Entscheidungen – davon ist er überzeugt. Über 7.500 Besucher seien seit der Eröffnung vor drei Jahren bereits in sein Museum gekommen, erzählt er stolz. Überwiegend ausländische Touristen, die geführt von den Ex-Gangstern auch das Township erkunden. Ihre Eintrittsgelder ermöglichen die Jugendarbeit, denn von Spenden allein soll das Projekt nicht abhängig sein.
„Wir haben schon mit über 4.000 Kindern und Jugendlichen gearbeitet. Mit Blick auf den großen Bedarf ist das natürlich nicht viel, aber wenigstens ein Anfang“, betont Wandsile. In der unmittelbaren Umgebung des kleinen Grundstücks, auf dem der Museums-Container steht, sei die Zahl der Einbrüche zurückgegangen. Nur Drogen seien weiterhin ein Problem.
Die Kinder, die anfangs Bilder von Pistolen und Messer gemalt hätten, würden nun fröhlichere Motive zeichnen. „Das zeigt, dass sich bereits etwas an ihrer Wahrnehmung und Einstellung geändert hat. Für uns ist das ein Zeichen, dass wir auf dem richtigen Weg sind.“