Afrika inspiriert: Digitale Innovationen von Mobile Money bis Medizintechnik
Was digitale Technologien angeht, ist Afrika Europa in mancher Hinsicht voraus. Etliche nützliche Apps erleichtern den Alltag, vom mobilen Bezahlen bis zum Arzttermin. Der Tech-Gründer Kamal Bhattacharya hat die Innovationsabteilung des kenianischen Unternehmens Safaricom geleitet. Er erzählt, warum Afrikaner in Afrika die besseren Erfinderinnen sind und inwiefern sich Innovationen in Europa und Afrika unterscheiden.
Wer am Flughafen von Kigali ankommt, trifft womöglich auf einen fahrenden Roboter, der darauf programmiert ist, die Temperatur zu messen. Im Kampf gegen die Corona-Pandemie hat das zentralafrikanische Ruanda ab Mai 2020 sechs Roboter eingesetzt, nicht nur am Flughafen von Kigali, sondern auch im Covid-Behandlungszentrum ganz in der Nähe.
Die Roboter wurden gemeinsam vom ruandischen Gesundheitsministerium, dem Minister für Digitalisierung und dem UN-Entwicklungsprogramm UNDP entwickelt, gebaut hat sie eine belgische Firma, die auf Medizintechnik spezialisiert ist. In Deutschland haben wir übrigens für Digitalisierung kein eigenes Ministerium, sie ist dem Verkehr zugeordnet. Die Roboter können zwischen 50 und 150 Personen pro Minute untersuchen, Essen und Medikamente in die Patientenzimmer bringen, Daten erfassen und das medizinische Personal über Auffälligkeiten zu informieren.
In der Telemedizin gibt es unzählige weitere Applikationen, viele Finanzapps, hunderte im Bereich der Logistik. Herr Bhattacharya, hätten Sie das in dieser Breite erwartet, als Sie 2012 nach Kenia kamen? Wie haben Sie die Technologie-Szene dort erlebt?
Als ich 2012 nach Kenia gekommen bin, war das wirklich sehr spannend. Es gab es dort die ersten Entwicklungen, wo wir gesehen haben, dass es dort einen Markt gibt, wo sich die notwendigen „Skills“ und eine kritische Masse von Innovationen gebildet haben. Das war auch damals für IBM der Grund, warum sie Kenia als Standort für ihr erstes Forschungszentrum in Afrika ausgesucht hatten. IBM hatte zu dem Zeitpunkt elf Forschungszentren weltweit, das war dann das Zwölfte. Es war eine spannende Zeit, weil wir damals schon eine Ahnung davon bekamen, wie man lokale Probleme auf dem afrikanischen Kontinent angeht. Kenia hat da wirklich eine Vorreiterrolle gespielt, gerade in dem Bereich der Telekommunikation, zum Beispiel mit M-Pesa. Daran hat sich schon gezeigt, wie man vielleicht die traditionellen Systeme überwinden und für existierende Probleme ganz neue Lösungsansätze finden kann.
2012 war noch nicht wirklich abzusehen, was aus diesen Ansätzen werden würde. Aber das Interesse der sehr jungen Bevölkerung ging schon deutlich in die Richtung, mobile Apps zu entwickeln. Allerdings standen noch viele Fragen im Raum: Können wir wirklich Anwendungen entwickeln? Können wir tatsächlich eigene Lösungen auf Smartphones und auch auf ganz normalen, mobilen Telefonen bauen? Applikationen, die uns helfen können, gewisse Probleme zu lösen? Die Ansätze für die Entwicklungen der nächsten Jahre waren in ihrer Substanz schon da, aber es braucht halt immer ein bisschen Zeit, bis solche Ideen reifen und die Gesellschaft weit genug ist, sie aufzugreifen. Dafür ist es unter anderem immer auch wichtig, dass große Firmen vor Ort sind, die in der traditionellen IT-Industrie entsprechende Arbeitsplätze schaffen. Wir als IBM waren damals da, Microsoft und andere waren auch da – Firmen, in denen Leute als Entwickler oder Ingenieure gearbeitet haben. Dann gab es die ersten Leute, die eigene Firmen gegründet haben, nachdem sie zwei Jahre in einer Firma gearbeitet haben. Dadurch hatten sie so ein bisschen diese Kultur von großen Firmen kennengelernt und das dann weiter umgesetzt. Außerdem gab es schon eine sehr starke lokale Szene mit Safaricom und anderen Firmen, die auch sehr viele Arbeitsplätze geschaffen haben und wirklich technologieorientiert gewesen sind.
Ich würde gerne nochmal auf Safaricom eingehen, vor allem auf das Bezahlsystem M-Pesa, das ich eingangs schon erwähnt habe. Das ist ein mobiles Bankkonto: Das Geld wird unter einer Telefonnummer registriert, man kann von Telefonnummer zu Telefonnummer überweisen, und im Alltag gibt es eigentlich nichts, wofür man M-Pesa nicht benutzt. Das fängt beim Fahrgeld im Bus an, geht über Mietzahlungen bis zu großen Anschaffungen. Wie kam es zur Entwicklung von M-Pesa?
Safaricom war damals eine Vodafone-Tochter. Bei Vodafone gab es schon eine Gruppe von Leuten, die sich überlegt hat: Mensch, wie wäre das denn eigentlich, wenn man über reguläre Text-SMS Geldtransfers machen könnte? UK-Aid, also die britische Entwicklungsorganisation, hat Geld in diese Idee investiert, und der damalige CEO von Safaricom hat gesagt: „Pass auf, ich will der erste sein, der das macht!“ Und dann haben die das an den Markt gebracht, um mal zu sehen, wie das so läuft. Das hat sich angeboten, weil Safaricom auf dem Markt in Kenia sehr verbreitet ist, überall haben die Leute SIM-Karten von Safaricom. Und es gibt überall kleine Stände der Firma, am Straßenrand oder auch in Geschäften. An diesen Ständen konnte man die Leute relativ einfach dazu motivieren, sich auf das mobile Bezahlen einzulassen.
Das war so die anfängliche Story. Dann hat sich das sehr schnell ausgebreitet, aus ganz einfachen Gründen. Wenn man in Nairobi arbeitet und die Familie, die man unterstützen muss, irgendwo im Norden Kenias ist, musste man vorher drei Tage von der Arbeit freinehmen, um mit dem Bus in den Norden zu fahren, das Geld zu übergeben und dann wieder zurück zu kommen. Mit M-Pesa konnte man das Geld einfach an die Familie schicken. Die konnte zum nächsten Safaricom-Stand gehen und sich das Geld auszahlen lassen. Das Wachstum von M-Pesa war geradezu dramatisch. Das System wurde sehr schnell weiter ausgebaut, so dass man auch in Geschäften mobil bezahlen konnte. Heute hat ein Nutzer natürlich noch ganz andere Möglichkeiten, und wirklich in jedem Haushalt in Kenia hat mindestens eine Person einen Zugang zu M-Pesa. Das muss man sich mal vorstellen! In jedem Haushalt!
Ich habe eben behauptet, M-Pesa hätte eine gesellschaftliche Revolution ausgelöst. Stimmt das überhaupt?
Es hat auf jeden Fall das Verhalten der Menschen in Bezug auf Finanzen, auf das Sparen und die anderen typischen finanziellen Dienstleistungen, die traditionell von Banken angeboten werden, vollständig verändert. Sobald die Leute Geld auf ihrem Telefon halten konnte, war es ziemlich schnell möglich, diese mobilen Konten an Banken anzubinden. Sie konnten von da an auch richtige Sparkonten bei einer regulären Bank haben, was vorher für die meisten nicht möglich war, weil sie kein regelmäßiges Einkommen und keinen offiziellen Job haben, sondern im informellen Sektor arbeiten. Von da an brauchte man eigentlich kein Bargeld mehr, in Kenia kann man wirklich das ganze Leben über das Telefon abwickeln.
Nach Deutschland zurückzukommen, war für mich – was das Geld anging – eine unglaubliche Umstellung. Das war natürlich noch vor der Pandemie, heute ist das ja auch alles schon ein bisschen besser geworden. Aber vor der Pandemie stand ich dann in der Bäckerei und musste dann feststellen, dass ich gar kein Bargeld dabei hatte. Ich musste mir das wirklich wieder antrainieren. In Kenia war das egal – egal, wo man gewesen ist, ob das ein kleiner Stand war oder ein großes Geschäft, man konnte überall über das Telefon bezahlen.
Als wir uns 2015 kennengelernt haben, wurde Nairobi noch „Silicon Savannah“ genannt, der Kontinent machte eine technologische Revolution durch. Stimmt es, dass sich die afrikanischen Innovationszentren damals von westlichem Wissen unabhängig gemacht haben?
Das waren sie schon von Beginn an. Was in Kenia zum Beispiel ein bisschen anders gewesen ist, als in Nigeria oder in Südafrika war, dass die Kenianer immer schon einen sehr starken Austausch mit Entwicklern in anderen Ländern hatten. Es gab sehr viele Firmen, die sich damals dort niedergelassen haben, weil das Land rund um 2008 sehr gründerfreundlich und firmenfreundlich war. Dadurch gab es auch viele Gründer, die von irgendwo anders nach Kenia gekommen sind: aus den USA, aus England, aus europäischen Ländern, aus Indien. Die Probleme, die kenianische Gründerinnen und Gründer angegangen sind, waren eigentlich immer schon lokal. Es war eigentlich nie so, dass Entwickler zum Beispiel gedacht haben: Mensch, das und das funktioniert in Deutschland, das muss in Kenia doch auch funktionieren! Der Ausgangspunkt für die Suche nach technologischen Lösungen war immer, dass sich ein Mangel zeigte, zum Beispiel in der Infrastruktur. Davon ausgehend hat man sich gefragt: Kann man diese Probleme mit Technologie lösen?
Als ich damals zu technologischen Entwicklungen recherchiert habe, hat mich die Geschichte der App Usalama beeindruckt. Usalama bedeutet auf Kisuaheli „Sicherheit“. Die Geschichte der App möchte ich kurz erzählen: Ein IT-Student ist auf dem Rückweg von der Uni überfallen worden und stellt in seiner Notlage fest, dass er keine Möglichkeit hatte, einen Krankenwagen zu rufen. Und selbst wenn er ihn hätte rufen können – der Krankenwagen hätte ihn nicht gefunden, weil es in Nairobi nur in wenigen Vierteln Straßennamen gibt. Der Student hat dann mit zwei Freunden eine App entwickelt, die Opfer mit Rettungskräften verbindet. Ich fand es bezeichnend dafür, wie technologische Entwicklungen in Kenia entstehen. In Deutschland würde man sich vermutlich ärgern, dass kein Krankenwagen kommt. In Kenia sind die Leute hingegangen und haben eine App entwickelt. Viele nutzen ihre Kreativität, um die Tücken des Alltags zu überwinden – und das ist schon lange eine sehr afrikanische Überlebensstrategie. Stimmt dieser Eindruck?
Als Gründer beseitigen wir eine Ineffizienz, einen Mangel. Wenn etwas nicht so funktioniert, wie wir das erwarten würden, versuchen wir, eine Lösung zu finden. Oder wir setzen an wenn wir sehen, dass die Ressourcen, die zur Verfügung stehen, nicht sinnvoll und nicht effizient eingesetzt werden. Die Lösung kann die Vermittlung von Krankenwagen sein, kann sich auf die gesamte Logistik beziehen oder verschiedene andere Sachen. Ähnlich würde ich in Deutschland an eine neue Entwicklung herangehen. Im ersten Schritt würde ich mich fragen: „Was sind denn die Dinge, die mich stören oder die nicht so gut funktionieren, die ich gerne lösen würde?“ Das finde ich nicht so verwunderlich.
Was sich geändert hat, ist der Zugang zu Technologien
Aber was sich in den letzten zehn Jahren wirklich geändert hat, ist der Zugang zu den Technologien. Einfach weil die Technologie und der Zugang zu Technologien so stark demokratisiert worden ist, dass die ganzen Barrieren rund um die Entwicklung von Technologien so niedrig geworden sind, dass wirklich jeder, der Zugang zu einem Computer hat, im Prinzip genügend darüber lernen kann, wie man eine App baut oder wie man eine Lösung baut. Vor zehn Jahren ging es noch darum, irgendwelche Apps für Telefone zu bauen. Heute geht es schon um die Anwendung von künstlicher Intelligenz. Alles das ist möglich, weil es praktisch überall Zugang zum Internet gibt. Und auch, weil die Funktionsweise der Technologieindustrie diesen leichten Zugang ermöglicht.
Wenn wir das nochmal mit Deutschland vergleichen: Hier klagen Viele beispielsweise über die mangelhafte Digitalisierung in den Schulen. Wenn ich im Vergleich dazu sehe, wie in Afrika Lösungen gefunden werden, habe ich den Eindruck, das passiert in Deutschland sehr viel weniger. Analog müssten sich Eltern in Deutschland versuchen, die Digitalisierung der Schulen ihrer Kinder selbst auf die Beine zu stellen.
Gefühlt passiert in Deutschland weniger, aber wo natürlich in Deutschland sehr viel passiert, ist in den großen Industrien. Also schau Dir Siemens oder Volkswagen oder BMW an, die darf man nicht ganz unterschätzen: Diese Firmen sind natürlich sehr, sehr innovativ. Aber wenn eine effizientere Turbine gebaut wird, die weitere Milliarden an Umsatz bringt, sehen wir das natürlich nicht so im tagtäglichen Leben, weil wir nicht notwendigerweise hinter die Technologie gucken, die beispielsweise unseren Strom liefert.
Das Schulsystem ist ein gutes Beispiel. Ich unterrichte ja auch an einer sehr digitalisierten – und ich sag jetzt mal: sehr fortschrittlichen – Hochschule, die wirklich versucht, die Digitalisierung ernst zu nehmen, alle Hochschulprogramme wirklich vollständig zu digitalisieren, und die das auch sehr erfolgreich tut. Aber da sieht man natürlich schon auch, mit welchen regulatorischen Sachen man sich auseinandersetzen muss. Diesen Anforderungen hier gerecht zu werden und sich damit auseinanderzusetzen, ist natürlich deutlich schwieriger und braucht mehr Kapital, als es zum Beispiel in Kenia der Fall ist. In afrikanischen Ländern sind die Regierungen bereit, mal zuzuhören und zu sagen: Okay, ihr habt da eine Idee, dann lasst uns das doch mal probieren und schauen, wie es läuft. Solange das eine positive Auswirkung auf die Schüler oder die Studierenden hat, können wir darüber reden, wie wir den regulatorischen Rahmen drum herum bauen. Aber fangt doch erst mal an.„ Und das ist natürlich heute in Deutschland sehr, sehr schwierig, aufgrund der wirklich sehr starken Überregulierung in vielen Bereichen – was vielleicht sehr speziell deutsch ist. In anderen Ländern ist das anders. Außerdem gibt es immer eine sehr starke Tendenz dazu, erst mal zu sagen: “Das geht nicht. Das geht nicht aus Datenschutzgründen." Aber aus welchen Datenschutzgründen geht es denn wirklich nicht? Und wie kann man Innovationen machen, so dass es dann doch geht, wenn der Nutzen hinterher größer ist als das, was im Moment wie ein Schaden aussieht? Das ist hier in Deutschland schon schwierig.
Eine gewisse staatliche Fähigkeit zur Regulation ist trotzdem nötig. Es gibt wenig Entwicklung in gescheiterten Staaten, erfolgreich sind eher Staaten wir Kenia oder Nigeria, Es scheint also ein ganz spezifisches Milieu geben zu müssen, damit Entwicklungen in einem hohen Tempo möglich sind.
Auf jeden Fall. Die institutionelle Infrastruktur ist sehr wichtig. In Kenia arbeitet die Zentralbank mit Gründern und Gründerinnen zusammen, um rauszufinden, wie man zum Beispiel Kreditprogramme auch auf dem Smartphone verbreiten kann. Das ist ja schon eine schwierige Sache: Man leiht jemandem auf diesem Weg Geld und erwartet, dass er das zurückzahlt. Wie bringt man die Leute dazu, sich auch bei mobilen Krediten an die Vereinbarungen bei der Kredittilgung zu halten? Das war auch ein ganz wichtiger Punkt bei M-Pesa. Um das Programm vorantreiben zu können, hat die Zentralbank mit Safaricom zusammengearbeitet. Diese Zusammenarbeit ist wichtig. Sie braucht aber natürlich auch eine starke institutionelle Infrastruktur. Weil die in gescheiterten Staaten fehlt, gibt es dort nicht viel Unternehmertum und kaum Investitionen von außen – das Risiko ist dort einfach zu groß.
Wo die Innovationszentren in Afrika liegen und wie die Startup-Szene finanziert wird
Es gab um 2012 eine Art Goldgräberstimmung in Nairobi. Ist das immer noch so, dort und in anderen afrikanischen Ländern?
Ich würde sagen, das ist ein etwas erwachseneres Umfeld geworden. Die ersten Erfahrungen wurden gemacht, sowohl schlechte als auch gute – das meine ich mit „erwachsener“. Inzwischen denkt man auch längerfristiger. Zurzeit leidet auch Kenia unter der globalen Wirtschaftskrise. Viele Firmen, die dort Investitionen angezogen haben, entlassen jetzt auch wieder Leute, weil sie zu schnell gewachsen sind. Also wir sehen dort dieselben Verhaltensmuster, die wir auch in den USA oder in Deutschland sehen. Es gibt immer noch viele Leute, die gute Ideen haben und nach Kenia gehen, um sie umzusetzen. Das ist aber nicht mehr ganz so einfach, wie es vor zehn Jahren war. Denn inzwischen sind viele Probleme schon gelöst, viele Lücken geschlossen, viele ehemalige Ideen Teil der Infrastruktur.