Verfassungsreferendum in Algerien:

große Worte, wenig echte Reformen

vom Recherche-Kollektiv Afrika-Reporter:
8 Minuten
Algerische Flagge bei einer Demonstration gegen die Regierung in der Stadt Bejaia, Kabylie, Algerien

Die Veränderungen, die Algerien in den letzten anderthalb Jahren erlebt hat, seit die Hirak-Protestbewegung im im Februar 2019 erstmals auf die Straße gegangen ist, hatten die wenigsten erwartet. Der gefühlt auf ewig im Amt verankerte, greise Präsident Abdelaziz Bouteflika trat zurück und im Dezember 2019 wählten die Bürgerïnnen den ehemaligen Premierminister Abdelmajid Tebboune zum neuen Staatsoberhaupt. Eine Reihe einflussreicher Geschäftsleute wurden wegen Korruption festgenommen und teilweise zu langen Haftstrafen verurteilt. Jetzt sind die Algerierïnnen aufgerufen, über einen neuen Verfassungsentwurf abzustimmen. Doch vielen Mitgliedern der Protestbewegung gehen die vorgeschlagenen Reformen nicht weit genug. Sie würden nichts an den tiefersitzenden strukturellen Problemen und der historischen Verkrustung des politisch-militärischen Apparats ändern, kritisieren sie.

Auch Isabelle Werenfels, Algerien-Expertin bei der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik, ist skeptisch, dass das Verfassungsreferendum grundlegende Reformen anstoßen wird.

Am Sonntag sind die Algerierïnnen aufgerufen, über die neue Verfassung abzustimmen. Sie würde unter anderem die Amtszeit des Präsidenten beschränken, den Premierminister und das Parlament stärken. Handelt es sich bei dem Entwurf also tatsächlich um einen Schritt hin zu mehr Reformen oder ist das reine Fassade?

Er wird von der Regierung als der Beginn des neuen Algerien gefeiert und verkauft, als der Beginn einer Transition: ‚Mit der Verfassung wird eine neue Ära losgehen.‘ ist die Losung. Ich halte das für maßlos übertrieben. Es gibt in der Verfassung ein paar Paragrafen, die tatsächlich etwas fortschrittlicher sind und vielleicht sogar eine etwas stärkere Gewaltenteilung einläuten könnten, aber nicht eine neue Ära. Man muss auch wissen, dass die vorherige Verfassung in Algerien gar nicht so schlecht war, sondern vor allem ihre Umsetzung, die Verfassungsrealität. Wir sehen ja im Moment, wie das Justizsystem mit unabhängigen Journalisten umgeht. Die Verfassung ist das eine und die Umsetzung dann das andere.

Woran liegt das?

Wir haben in Algerien ja auch noch ein Schattenregime: die Armee. In Bezug auf ihre Rolle lässt auch die neue Verfassung vieles offen. Der Artikel 30 ist so formuliert, dass die Armee letztlich eine sehr große Rolle einnehmen kann. ‚Die nationale Volksarmee verteidigt die vitalen und strategischen Interessen des Landes, konform mit den Bestimmungen der Verfassung‘, heißt es dort. ‚Vitale und strategische Interessen‘ kann sehr breit gefasst werden und schließt auch politische und wirtschaftliche Interessen ein. Das halte ich für eine problematische, weil sehr offene Formulierung. Außerdem werden im Justizwesen und am Rechnungshof nach wie vor viele der wichtigen Positionen entweder vom Präsidenten selbst besetzt werden oder aber es werden zwar die Mitglieder gewählt, aber der Präsident entscheidet dann, wer den Vorsitz innehat. Das heißt, der Präsident kann relativ stark intervenieren. Ein weiteres großes Thema war die Rolle von Binationalen, die früher von höheren Staatsämtern ausgeschlossen waren. Der neue Artikel 67 steht allen Bürgern das Recht zu, solche Ämter innezuhaben, mit Ausnahme solcher, die mit der nationalen Souveränität und Sicherheit befasst sind. Auch welche Posten mit der nationalen Souveränität zu tun haben, kann sehr breit ausgelegt werden: Damit kann man die Leute alle aus dem diplomatischen Korps ausschließen. Man kann alle Funktionen im Sicherheitssektor, in strategischen Wirtschaftssektoren ausschließen. Das heißt, es ist ein erster Schritt in die richtige Richtung, aber nach wie vor so formuliert, dass in der Umsetzung sehr, sehr viel Interpretationsspielraum besteht. Der wesentliche Punkt bei dieser Verfassung ist allerdings, dass es keinen Ownership gibt, dass der ganze Prozess aus der Sicht vieler Algerier und Algerierinnen so problematisch war, dass man sich damit nicht identifiziert.

Demonstrant in Alger mit einem Schild, auf dem eine Frau mehrere Köpfe der Regierung in eine Mülltonne steckt // Isabelle Werenfels
Viele Mitglieder der Protestbewegung Hirak kritisieren, wie die neue Verfassung erarbeitet wurde und haben kein Vertrauen in die etablierten Politiker, so Isabelle Werenfels.
Algeriens Staatsoberhaupt Abdelmajid Tebboune
Präsident Abdelmajid Tebboune wurde im Dezember 2019 im ersten Wahlgang gewählt. Er hat demokratische Reformen versprochen, gehört als ehemaliger Premierminister jedoch dem politischen Establishment an.
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